[IPK] Buchbesprechung: "Jakob Schäfer: Die Warengesellschaft und die Herausforderung der multiplen Krise"

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Mo Nov 14 11:53:07 CET 2022


Buchbesprechung:

„Die Warengesellschaft und die Herausforderung der multiplen Krise“
Online unter: https://www.inprekorr.de/612-rez.htm

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Bei dem Buch des Genossen Jakob Schäfer handelt es sich nicht um
„Theoriearbeit“ im engeren Sinn, vielmehr zielt es auf die politische
Organisation des Widerstands gegen die verheerenden Folgen der
kapitalistischen Produktionsweise ab.

 

 

Von Friedrich Voßkühler

 

 

Auf Mandels Aufsatz „Lenin und das Problem des proletarischen
Klassenbewusstseins“ zurückgreifend, formuliert Jakob: „Die Klasse, die das
objektive Potential für einen Umsturz der Gesellschaftsordnung aufweist,
sich aber unter normalen kapitalistischen Bedingungen ganz und gar nicht
revolutionär betätigt, wird nach allen Erfahrungen der Geschichte nicht
‚spontan‘, d.h. von ihren unmittelbaren aktuellen Erfahrungen ausgehend, den
Weg raus aus der sich anbahnenden Katastrophe finden.  

 

 

1. THEORIE IM DIENST DER POLITISCHEN ORGANISATIONSARBEIT

 

Um zu verhindern, dass aufgrund mangelnder Verarbeitung der Lehren aus der
Geschichte der Klassenkämpfe der vergangenen 150 Jahre immer nur wieder neue
Niederlagen vorprogrammiert werden, kommt es auf zweierlei an: Auf die
systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Lage, in der sich die
Menschheit befindet, sowie auf die systematische Verankerung revolutionärer
Theorie und Praxis in den Reihen der fortgeschrittenen Arbeiter*innen bzw.
Arbeiter*innenklasse im weiten Sinn der Bedeutung. Dies ist keine
‚Theoriearbeit‘. Ohne eine organisierende Verarbeitung jeweils aktueller
Kampferfahrungen wird dieses Bemühen fruchtlos bleiben. Es kommt also auf
die politisch organisierende Arbeit an“ (82) [1]. Dieser Arbeit dient das
Buch von Jakob Schäfer.

 

Und wohin soll diese führen? Erstens dahin, dass die „große Mehrheit der
Bevölkerung“ davon „überzeugt“ wird, dass der „Umbau“ (102) der herrschenden
Produktionsweise notwendig ist, um den Prozess der Zerstörung der
ökologischen Grundlagen der menschlichen Gattung aufzuhalten, und zweitens
dahin, dass sich – darauf aufbauend – die Einsicht entwickelt, „dass eine
„ökologische und solidarische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nur
jenseits der Warenwirtschaft“ (102) entstehen kann. Wobei Letzteres nur
gelingen kann, wenn die „Zusammenhänge von klassenpolitischen und
ökologischen Interessen“ (102) erfasst werden und „Kämpfe“ geführt werden,
die diese Interessen „miteinander verbinden“ (102). Die These Schäfers ist
somit die, dass die immer bedrohlichere Formen annehmende ökologische Krise
sich nicht ohne den „Umsturz“ der „Gesellschaftsordnung“, welche sie
bedingt, bewältigen lassen wird. Und das setzt voraus, dass sich die
„Klasse“, die „das objektive Potential“ für diesen „Umsturz“ besitzt,
politisch unter dem Ziel des revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus
organisiert. Zu diesem Zweck ist die Herausbildung einer Vorhut aus den
„Reihen der fortgeschrittenen Arbeiter*innen bzw. Arbeiter*innenklasse“
notwendig, die in der Lage ist, die „systematische wissenschaftlichen
Aufarbeitung der Lage“ praktisch fruchtbar zu machen, heißt: mit den
Erfordernissen der konkreten Kämpfe zu verbinden und letztere politisch auf
den Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise zuzuspitzen.

 

Um an Rosa Luxemburg anzuknüpfen: Selbstverständlich gilt ihr Wort
„Kapitalismus oder Barbarei!“ immer noch. „Ökosozialismus oder Barbarei!“ –
darum geht es jetzt. Und der Begriff „Ökosozialismus“ impliziert, dass nur
der Bruch mit dem Kapitalismus die „Barbarei“ verhindern kann. Das
hinwiederum macht es unumgänglich notwendig, der ökonomischen
Zentralkategorie des Kapitalismus, der Ware, ans Leder zu gehen und die
Gebrauchswertproduktion in den Mittelpunkt zu stellen. Dass dies eine
zugleich demokratische und zentrale Planwirtschaft erforderlich macht, ist
ein tragendes Element der Argumentation Schäfers. Das schließt alle
Kungeleien mit dem Kapitalismus aus, alles Gerede von einer „sozialistischen
Marktwirtschaft“ z.B., zudem alle strategischen Hirnwebereien, man könne den
Kapitalismus überwinden, ohne ihn abzuschaffen. „Ökosozialismus oder
Barbarei!“: Diese Formulierung gedenkt nicht, die Augen vor den barbarischen
Implikationen der Gesetzmäßigkeiten des Kapitals zu verschließen, sie ist
antireformistisch durch und durch. „Die Ökologisierung des Sozialen und die
Sozialisierung der Ökologie“ (23), beides zusammen erfordert strategisch den
Bruch mit dem Kapital als „automatisches Subjekt“ und somit entschiedenen
Klassenkampf. Ohne den geht´s nicht. 

 

 

2. DIE ZENTRALE STRATEGISCHE FUNKTION DES ÜBERGANGSPROGRAMMS

 

Fakt ist allerdings, dass die Menschen „in ihrer großen Mehrheit nicht
bereit sind, den Kampf für ein anderes System aufzunehmen“. „Dies liegt zwar
zu einem beträchtlichen Teil an mangelnder Kenntnis der Gesamtlage, mehr
aber noch an der fehlenden Perspektive, wie denn überhaupt die Alternative
aussehen könnte oder sollte. Hinzu kommt, dass das soziale und politische
Kräfteverhältnis zwischen den Klassen nicht gerade Mut macht, auf
Konfrontation mit den Herrschenden und den Profiteuren der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung zu gehen“. Daher, so Jakob Schäfer, „hat ein
sogenanntes ‚Maximalprogramm‘, das mit einer unvermittelten und sofortigen
Konfrontation die Machtfrage stellen will, noch geringere Erfolgschancen,
als es das schon in der Vergangenheit hatte“. „Umgekehrt hat auch ein
Reformprogramm, das den Kapitalismus reformieren oder ihn scheibchenweise
(zudem mit einer Politik von oben) überwinden will, keine Erfolgsaussichten.
Weder hat die Menschheit Zeit für einen langwierigen ‚Reformprozess‘, noch
haben graduelle Veränderungen von Wirtschaft und Staat jemals zu einem
Systemwechsel geführt“. Woraus folgt: „Es braucht demzufolge – und zwar mehr
denn je – ein Programm, das die Kluft zwischen dem aktuellen Bewusstsein
breiter Bevölkerungsschichten und der großen Herausforderung, vor der die
Menschheit steht, zu überwinden vermag“. Wobei gilt: „Mehr denn je kommt es
heute darauf an, dass so früh und so umfassend wie möglich die
Gesamtperspektive sichtbar wird“ (111). Dies ist die strategische Funktion
des Übergangsprogramms. Es hat die Aufgabe, „den Widerspruch zwischen den
objektiven Bedingungen für eine Revolution einerseits und der Unreife des
subjektiven Faktors andererseits zu lösen“. Es baut „eine Brücke“ „zwischen
dem aktuellen Bewusstsein breiterer Schichten und dem Kampf für qualitative
und weiterführende Forderungen“ (118).

 

Unterworfen der Manipulation ihrer Bedürfnisse und Interessen durch die
„Fetischismen“ der Ware und des Kapitals bleiben die Menschen
notwendigerweise hinter den herangereiften „objektiven Bedingungen für eine
Revolution“ zurück. Sie bleiben im Vergleich mit diesen Bedingungen so lange
„unreif“, solange sie nicht für ihre tatsächlichen Interessen eintreten,
solange sie nicht dafür kämpfen, dass letztere objektive Gültigkeit
erlangen. Gelingt dies, dann hat sich der „subjektive Faktor“ qualitativ auf
dieselbe Ebene wie die „objektiven Bedingungen der Revolution“ angehoben und
verwandelt sich zu einem an und für sich selbst revolutionären Faktor. Das
Übergangsprogramm zielt genau darauf ab. Indem es an dem „aktuellen
Bewusstsein“ der „breiten Schichten“ ansetzt und dieses mit dem „Kampf für
qualitative und weiterführenden Forderungen“ verbindet, hebt es dieses
Bewusstsein auf eine höhere Stufe. Inwiefern? Insofern es die Menschen dazu
verhilft, sich ihrer eigentlichen Interessen deutlich bewusst zu werden und
sich aus dem Fetischismuspanzer der Ware und des Kapitals – aus der
„Entfremdung“ – zu befreien. Das Bewusstsein der „breiten Schichten“ zu
revolutionieren, damit es zu einem tragenden Element der sozialen Revolution
wird, das beabsichtigt das Übergangsprogramm. Zu diesem Zweck setzt es bei
den Interessen der Menschen an und radikalisiert sie dergestalt, dass sie
die Systemgrenzen der kapitalistischen Produktionsweise überschreiten. 

 

------------ KASTEN -----------------------------------------------

[Bild herunterladbar unter
https://www.inprekorr.de/img/jakob_warengesellschaft_349.jpg]

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Ich möchte die Tiefendimension der Konzeption des Übergangsprogramms an
einem Beispiel verdeutlichen, am Grundbedürfnis nach gesunder Nahrung.
Dieses spielt für die kapitalistische Wertrechnung keine Rolle, da sie im
Bezug auf die Produktion und Verarbeitung von Nahrungsmitteln letztlich nur
das Ziel hat, die Kosten für die Reproduktion der Arbeitskräfte zu senken
und den Mehrwert aus ihrer Anwendung im Produktionsprozess zu erhöhen. Alle
Künste des Verpackungsdesigns können aber nicht verbergen, dass nur
minderwertige Nahrungsmittel auf den Tisch der arbeitenden Bevölkerung
kommen. Nahrungsmittel zudem, die die imperialistischen Weltmarktbeziehungen
voraussetzen, welche einen systematischen Raub der Ressourcen z.B. des
globalen Südens betreiben, die dort ganze Landschaften in Agrarmonokulturen
verwandeln, welche hinwiederum den Einsatz von Pestiziden erfordern, an
denen sich dann im Übrigen die Pharmamonopole gesundstoßen usw. usf. Aber
letztlich trifft so etwas mehr oder weniger weltweit auf die gesamte
kapitalistische Industrieproduktion der Nahrungsmittel zu. Die Folge ist:
Während im Süden die einen hungern oder sogar verhungern, derweil die Börse
in Chicago ihre Hand auf die weltweit produzierten Nahrungsmittel legt und
deren Preise bestimmt, kommt den anderen im globalen Norden billig gemachter
und chemisch aufgepeppter Schund auf den Tisch. Zu verhungern oder sich von
Schund zu ernähren, das sind zwei Erscheinungsformen der Armut, die der
Kapitalismus für die Menschen, die von ihrer Arbeit leben, parat hält. Den
Menschen im globalen Norden mit Billigkram das Maul zu stopfen, gehört zur
Machtstrategie des Kapitals. Dass dabei die Gesundheit flöten geht, ist ihm
letztlich ganz recht, bieten doch die diversen entstehenden
Stoffwechselstörungen für die Pharmaindustrie die Möglichkeit zu einer stets
anwachsenden Medikamentenflut und sich stetig vermehrendem Reibach.

 

Wofür steht unter diesen Bedingungen das Grundbedürfnis nach gesunder
Nahrung? Dafür, sich nicht mit Billigkram abspeisen lassen zu wollen. Dafür,
sich nicht das Maul stopfen lassen zu wollen. Dafür, gut leben zu wollen und
nicht verführt zu werden durch Geschmacksverstärker, Fett und Zucker, was ja
eine Form aufgezwungener Armut ist. Marx wusste, dass nur der sinnlich
entfaltete Mensch – der an Bedürfnissen Fähigkeiten und Fertigkeiten
vielfältig entwickelte Mensch – tatsächlich reich ist. Gut zu leben, das
heißt in der eben mit Marx gezeigten Bedeutung somit sinnlich reich zu sein.
Und nur der, der seinen sinnlichen Reichtum entfaltet hat und dem – wie Marx
sagt – der andere Mensch das höchste Bedürfnis ist, ist, da er im
Gleichklang mit sich selbst ist, im eigentlichen Sinn gesund. Wovon, deucht
mich, die Pharmaindustrie und die Medizin keinen blassen Dunst haben.

 

Es gehört zur Tiefendimension des Übergangsprogramms, nicht ziellos von
einem Punkt zum anderen zu springen, sondern zwischen den erhobenen
Forderungen einen schlüssigen Zusammenhang zu erstellen. Sicher gehört die
Forderung nach Rück- und Umbau der profitorientierten industriellen
Produktion von Nahrungsmitteln in das Übergangsprogramm. Und ganz sicher
muss es für die ökologische Landwirtschaft eine Lanze brechen. Ebenso klar
ist aber meiner Meinung nach auch, dass beides mit der Perspektive der
Gesundheit und des guten Lebens verbunden werden muss. Was beides, wie
dargestellt, den Horizont zu einer leitenden Vorstellung des Marxismus hin
eröffnet, zur regulativen Idee des „reichen Menschen“.

 

 

3. DIE STRATEGISCHE BEDEUTUNG DER ARBEITERKONTROLLE

 

Bei alle dem eben zum Übergangsprogramm Gesagten gilt jedoch: „Dreh- und
Angelpunkt eines antikapitalistischen Systemwandels ist und bleibt die
Herausforderung der Macht des Kapitals in den Betrieben“ (120). Oder, wie
Jakob Schäfer sagt: „Die Arbeiter*innenklasse ist der Möglichkeit nach die
Beherrscherin des Produktions- und Verteilungsprozesses der Güter (im
Kapitalismus: der Waren) und Dienstleitungen. Die Entscheidungsgewalt über
Produktion und Verteilung ist der Dreh- und Angelpunkt der herrschenden
Gesellschaftsordnung. Es können sich ‚ideologisch‘. ‚kulturell‘, allgemein
politisch noch so viele Dinge ändern: All dies bleibt zweitrangig und ist
nicht von Dauer, wenn die Arbeiterkontrolle über die Produktion nicht
erkämpft ist und die Arbeiter*innen klasse nicht auf diesem Wege die
Machtfrage zu ihren Gunsten gelöst hat“ (120f.). Kurzum: Der Kampf um die
Bereitschaft „breiter Bevölkerungsschichten“ für ein anderes System
benötigt, um nicht gleichsam „im leeren Raum“ zu schweben, die
„Herausforderung der Macht des Kapitals in den Betrieben“. Ohne den Kampf
der Arbeiter*innen um die Kontrolle über die Produktion fehlt ihm die Basis.
Obwohl das so ist, bilden beide Kämpfe selbstverständlich eine strategische
Einheit.

 

Die Arbeiterkontrolle, so Jakob Schäfer, „geht vom Gedanken des Vetos aus,
der Blockierung von Entscheidungen, die sich gegen die Arbeiter*innen
richten, sie sagt (noch) nicht, welche Entscheidungen der Betrieb und vor
allem welcher Plan für die Gesamtwirtschaft gelten soll. Sie zielt zwar auf
vollständige Information (‚Offenlegung der Bücher‘), sagt aber nicht, wie
etwas laufen soll, sondern im Wesentlichen: ‚So nicht!‘. Die Logik der
Arbeiterkontrolle ist also eine Brücke, die den Übergang von der
kapitalistischen Produktionsweise zu einer sozialistischen weist. Sie ist
damit ein wesentlicher Baustein in einem revolutionären Übergangsprogramm“
(122). Wie eben schon gesagt gehört zur Arbeiterkontrolle die Offenlegung
der Bücher („Weg mit dem Geschäftsgeheimnis!“), die Offenlegung aller
Bankkonten von kapitalistischen Unternehmen, das Vetorecht bei Entlassungen,
Lohn- und Gehaltskürzungen, das Veto gegen jegliche Beschleunigung des
Rhythmus und der Intensivierung der Arbeit, die Kontrolle über die
Bedingungen der Arbeitssicherheit, vor allem aber auch die Kontrolle
darüber, was produziert wird und wie produziert wird, was ja eine
unverzichtbare Grundlage für einen wirkungsvollen Kampf für eine Konversion
der Waffenindustrie und der Autoindustrie ist, die Kontrolle der
Umweltverschmutzung und die Kontrolle aller Maßnahmen im Gesundheitswesen
(siehe dazu bei Schäfer S. 126f.) usw. usf. 

 

Die Arbeiterkontrolle bedeutet etwas ganz anderes als betriebliche
Mitbestimmung. Letztere kettet die Beschäftigten ans Kapital, die
Arbeiterkontrolle aber verschafft ihnen die Kenntnisse, die dafür
erforderlich sind, die „gesamte nationale Industrie“ (Trotzki) gemäß ihren
eigenen Bedürfnissen einmal planen zu können. Sie schafft die Möglichkeit
einer die Gesetze der Kapitalakkumulation hinter sich lassenden
gesamtgesellschaftlichen Rationalität. Mit den Worten Trotzkis: „Die Aufgabe
besteht darin, das ganze Produktions- und Verteilungssystem nach
vernünftigeren und würdigeren Grundsätzen umzugestalten“. Derart aufgefasst
ist die Arbeiterkontrolle die „Schule der Planwirtschaft“ (Trotzki).

 

Strategisch geht es sowohl im Kampf um die Bereitschaft „breiter
Bevölkerungsschichten“ für ein anderes System als auch im Kampf um die
Kontrolle über die Produktion in den Betrieben darum, dass möglichst stabile
und kampffähige Formen der Selbstorganisation, Räte also, entstehen, die
sich gegen die Macht des Kapitals und seines „geschäftsführenden Ausschuss“,
den Staat, richten. Kurz und knapp: Es geht darum, dass eine
Doppelmachtsituation entsteht, die die Kräfte der arbeitenden Bevölkerung
zum entscheidenden Kampf um die gesamtgesellschaftliche Macht zusammenführt.
Jakob Schäfer ist es völlig klar: Nur wenn aus den Bedürfnissen und
Interessen der Menschen ein politischer Schub hin zur Doppelmachtsituation
entsteht, nur dann, wenn die Kontrolle über die Produktion erkämpft worden
und die Überzeugung entstanden ist, dass es unumgänglich ist, mit dem
Kapital und dem Staat den Kampf um die Macht zu führen, wird es überhaupt
eine „ökologische und solidarische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“
geben können. Deswegen muss alle politische Organisationsarbeit auf das
Entstehen einer Doppelmachtsituation und den Kampf um die
gesamtgesellschaftliche Macht hinauslaufen. Dies gilt nach Jakob Schäfer
gerade auch für unseren Zeit der galoppierenden ökologischen Krise. 

 

 

4. REVOLUTIONÄRER HUMANISMUS

 

Wenn Trotzki formuliert, dass die „Aufgabe“ „darin besteht“, „das ganze
Produktions- und Verteilungssystem nach vernünftigeren und würdigeren
Grundsätzen umzugestalten“, dann wird deutlich, welches Ziel der zu führende
Kampf um die Macht hat. Das Ziel ist ein „revolutionärer Humanismus“. Jakob
Schäfer führt aus: „Anknüpfend an Leo Kofler und Helmut Fleischer wollen wir
den Humanismus in folgender Weise umreißen. Der revolutionäre Humanismus
lässt sich nicht mittels eines festen und gleichsam geschichtslosen Kanons
bestimmter Verhaltensweisen bestimmen. Es lassen sich aber gewisse
Prinzipien definieren, die in ihrem Zusammenwirken das anzustrebende Humane
ausmachen: produktiv/kreativ sein können, nicht auf bestimmte Tätigkeiten
festgelegt sein, Selbstbestimmung ausüben, sprachliche Kommunikativität
entwickeln können. Gemeinschaftsfähigkeit entfalten. Demzufolge ist eine
Gesellschaftsformation wesentlich humanistisch geprägt, wenn sie die
Menschen nicht nur zur Selbstbestimmung, sondern auch zur Selbsttätigkeit
befähigt und wenn sie gleichzeitig die solidarische Kooperation befördert.
Auf der Autonomiefähigkeit und Solidaritätsfähigkeit aufbauend erwächst die
Achtung vor den Anderen. Als leitendes Prinzip wird dies deswegen angenommen
und verinnerlicht, weil es sich – zumindest nach einer gewissen Zeit – für
alle als sinnvoll und nützlich erweist“ (71). 

 

Um von daher das Gesagte zusammenzufassen: Jakob Schäfer vertritt in seinem
Buch einen kämpferischen „revolutionären Humanismus“. Dieser ist für ihn das
alle politische Praxis „leitende Prinzip“. Dem kann ich als von Lefebvre
geprägter Gramscianer vorbehaltlos zustimmen. Das Buch ist eine konsequent
trotzkistisch argumentierende Schrift, welche mit großer Kompetenz die
„multiple Krise“ des Kapitalismus analysiert und die politisch notwendigen
Schritte zu ihrer revolutionären Überwindung aufzeigt. Ich habe mich darauf
beschränkt, die argumentative Tiefenstruktur der Schrift Jakob Schäfers
deutlich zu machen. Diese ist interessant und ist wertvoll genug. Gleichwohl
würde es mich reizen, die Sache einmal aus der Perspektive meiner eigenen
Tradition dazulegen.

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2022 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1]  Gemeint ist S. 82 in Schäfers Buch.

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