[IPK] NATO: Schlimmer geht immer (von Gilbert Achcar)

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Mi Sep 14 08:22:35 CEST 2022


Ukraine/NATO:

Schlimmer geht immer
Online unter: https://www.inprekorr.de/610-nato.htm

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Dieser Beitrag von Gilbert Achcar erschien anlässlich des NATO-Gipfels Ende
Juni in Madrid in /The Nation/
[https://www.thenation.com/article/world/nato-china-russia-us/] vom
23.6.2022. Er beleuchtet die Neudefinition der strategischen Zielsetzung der
NATO.

 

 

Von Gilbert Achcar

 

 

Ende Juni hält das Atlantische Bündnis zum zweiten Mal seit dem Beitritt des
spanischen Staates zur NATO 1982 einen Gipfel in Madrid ab. Beide
Gipfeltreffen in Madrid fanden zufälligerweise in einem entscheidenden
Moment der Geschichte der Organisation statt.

 

 

DER SCHRITT ZUR US-HEGEMONIE …

 

Der vorige Gipfel 1997 war der Höhepunkt einer langen Debatte zwischen den
Regierungen der NATO-Staaten über die Ost-Erweiterung des Bündnisses. In den
USA wurde die Debatte öffentlich und lebhaft geführt und fast das gesamte
außenpolitische Establishment war daran beteiligt. Dabei standen sich
diejenigen gegenüber, die vor einer Ächtung Russlands warnten – und als
solche würde ihrer Meinung nach von den Russen unweigerlich jede Expansion
der NATO in ehemalige Satellitenstaaten Moskaus wahrgenommen werden.
Andererseits diejenigen, die unbedingt die Gelegenheit ergreifen wollten,
die der Kolumnist der /Washington Post/ Charles Krauthammer 1990 als
„unipolaren Moment“ bezeichnet hatte, um die US-Hegemonie auf Regionen
auszudehnen, die früher Teil der sowjetischen Einflusssphäre waren.

 

Diese Position wurde vom Großteil der Clinton-Regierung geteilt, deren
Stichwortgeber hinter den Kulissen Zbigniew Brzezinski war. Die
Gegenposition innerhalb der Regierung vertrat Verteidigungsminister William
Perry während der ersten Amtszeit von Bill Clinton. Perry wurde aus der
Regierung entfernt und bezeichnenderweise in Clintons zweiter Amtszeit durch
den Republikaner William Cohen ersetzt – im selben Jahr, in dem der Gipfel
von Madrid stattfand.

 

Die Befürworter der NATO-Osterweiterung wollten das US-Imperium auf einen
großen Teil des ehemaligen Sowjetreichs ausdehnen, da sie davon ausgingen,
dass das postkommunistische Russland früher oder später versuchen würde, an
seine lange imperiale Tradition wieder anzuknüpfen. Daher hielten sie es für
notwendig, dieser unvermeidlichen Entwicklung zuvorzukommen, indem sie die
Kontrolle der USA über einen möglichst großen Teil des ehemaligen
Sowjetreichs sicherstellten. Da das Putin-Regime seit 2008 tatsächlich in
den Staaten, die es als traditionellen Hinterhof seines Reichs ansieht, wie
ein Usurpator auftritt – Intervention in Georgien 2008, Annexion der Krim
und Intervention im Donbass 2014, Versuch eines „Regimewechsels“ durch die
Invasion in der Ukraine 2022 und die laufenden Bemühungen, den gesamten
Donbass und die angrenzenden Gebiete zu besetzen – könnte man fast glauben,
dass diejenigen, die für die NATO-Erweiterung eintraten, im Recht waren.

 

 

… DURCH EINE SICH SELBSTERFÜLLENDE PROPHEZEIUNG

 

In Wahrheit jedoch ist diese Entwicklung genau das, wovor die Gegner der
Erweiterung gewarnt hatten. Sie hatten zu Recht vorausgesagt, dass die
Russen die Osterweiterung der NATO als feindlichen Akt betrachten und daher
revanchistisch reagieren würden. Mit anderen Worten, sie warnten davor, dass
die NATO-Erweiterung in Erwartung einer Rückkehr Russlands zu imperialem
Auftreten in Wirklichkeit eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wäre.

 

Auf dem Gipfeltreffen von 1997 wurden Ungarn, Polen und die Tschechische
Republik offiziell eingeladen, dem Bündnis beizutreten. Der Beitritt der
drei osteuropäischen Länder wurde zwei Jahre später auf dem Gipfeltreffen in
Washington vollzogen, auf dem das 50-jährige Bestehen der NATO gefeiert
wurde. Dies geschah just, während die Allianz Jugoslawien unter Verletzung
des Völkerrechts bombardierte, im Rahmen des ersten von den USA geführten
Krieges nach 1990 ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats.

 

In Zusammenschau mit der US-Invasion in den Irak 2003, bei der der
UN-Sicherheitsrat erneut umgangen wurde, und der Erweiterung der NATO 2004
um sieben weitere osteuropäische Länder, darunter die drei baltischen
Staaten, die früher zur UdSSR gehörten, war diese Reihe von Ereignissen
entscheidend für die feindselige Stimmung zwischen Russland und dem Westen,
die der Invasion in der Ukraine vorausging.

 

Der Gipfel in Madrid bedeutet einen großen qualitativen Sprung im
Selbstverständnis der NATO, mit nicht weniger gravierenden Folgen als beim
Gipfel von 1997. Dabei geht es nicht so sehr um die formelle Einladung an
Finnland und Schweden, dem Bündnis beizutreten, obwohl diese neue
Erweiterung sicherlich sehr wichtig ist, vielleicht sogar wichtiger als alle
vorherigen, da sie die direkte NATO-Grenze zu Russland erheblich verlängern
wird (die Grenze Finnlands zu Russland ist 1340 Kilometer lang). Dabei ist
das einzige [inzwischen ausgeräumte] Fragezeichen die Position der Türkei,
denn jedes neue Beitrittsangebot muss von allen derzeitigen NATO-Mitgliedern
einstimmig angenommen werden, ein Prinzip, das jedem Mitglied ein
tatsächliches Vetorecht verleiht. Ankara will, dass die beiden
skandinavischen Staaten gegen die kurdische Bewegung vorgehen, die unter den
Flüchtlingen in beiden Ländern stark vertreten ist.

 

 

CHINA IM VISIER

 

Die gefährlichste Neuerung des Madrider Gipfels besteht jedoch darin, dass
die Ziele der NATO qualitativ stark erweitert werden. Ursprünglich als
Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten
gegründet, wandelte sich die NATO nach 1991 zu einer
„Sicherheitsorganisation“ – was bedeutet, dass sie sich an militärischen
Aktionen beteiligt (die NATO als solche war zu Zeiten der UdSSR formal in
keinen Krieg verwickelt) – und definierte ihre Ziele neu, indem sie das
postsowjetische Russland durch eine Expansion in Richtung seiner Grenzen
demütigte. Der 1997 gegründete NATO-Russland-Rat war ein schwacher Trost für
Moskau anstelle einer Einladung, dem Bündnis beizutreten, und wurde allseits
auch so wahrgenommen. Aus der stillschweigenden Feindschaft der NATO
gegenüber Russland wurde nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 eine
ausdrückliche. 

 

Der Madrider Gipfel wird eine unverhüllt feindliche Positionierung der NATO
gegenüber China zur Folge haben, die weit über das ursprüngliche
Zuständigkeitsgebiet der Allianz hinausgeht. Dieses Gebiet wurde im
Gründungsvertrag der NATO von 1949 so definiert, dass es einen bewaffneten
Angriff „auf das Gebiet irgendeines dieser Staaten in Europa oder
Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf die
Besatzungen, die irgendein Vertragsstaat in Europa unterhält, auf die der
Gebietshoheit eines Vertragsstaates unterliegenden Inseln im
nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses“ umfasste. Der
Wandel der NATO nach 1991 führte dazu, dass sie über das Territorium ihrer
Mitglieder hinaus intervenierte, zunächst auf dem Balkan und nach den
Anschlägen vom 11. September 2001 noch viel weiter von ihrem Ursprungsgebiet
entfernt, nämlich in Afghanistan.

 

Die Teilnahme an den Treffen der Organisation blieb jedoch früher auf Europa
und Nordamerika beschränkt, was mittlerweile auch nicht mehr gilt. Japan
sowie Australien, Neuseeland und Südkorea wurden als „Partner“ der NATO im
asiatisch-pazifischen Raum zur Teilnahme am Gipfeltreffen in Madrid
eingeladen – eine ernsthafte Provokation für Peking, das diese Einladung nur
als Schritt zur Konsolidierung der US-geführten Bündnisse in einem geeinten
globalen Netzwerk gegenüber Russland und China interpretieren kann. Nach dem
vorläufigen Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 16. Juni erklärte der
Generalsekretär der Organisation, Jens Stoltenberg, dass das neue
strategische Konzept der NATO, das auf dem Gipfel in Madrid verabschiedet
werden soll, die Position der Allianz „zu Russland, zu den kommenden
Herausforderungen und zum ersten Mal auch zu China“ darlegen werde.

 

 

FÜR EINE NEUE WELTWEITE FRIEDENSBEWEGUNG

 

Aus Washingtons Sicht, das seine Hegemonie über den größten Teil Europas und
des asiatisch-pazifischen Raums aufrechterhalten will, indem es Russland und
China zu Feinden erklärt – ein strategischer Plan, der von allen
US-Regierungen nach 1991 umgesetzt wurde – ist die weitere Eskalation, die
in Madrid bekräftigt werden soll, völlig logisch. Während Präsident Biden
den Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion entschieden
unterstützt, hat er seine Provokationen gegenüber Peking vervielfacht. So
erklärte er vor einem Gipfeltreffen der unter dem Namen Quad firmierenden
antichinesischen Allianz (Japan, Australien und Indien mit den USA) im Mai,
dass die USA Taiwan militärisch verteidigen würden. Diese Aussage wurde vom
Außenministerium schnell abgeschwächt, das im Mai selbst die Aussage „Wir
unterstützen nicht die Unabhängigkeit Taiwans“ aus einem Informationsblatt
über Taiwan auf seiner Website entfernt hatte, bevor es sie im Juni wieder
einfügte.

 

Aus der Sicht Europas und des asiatisch-pazifischen Raums würde eine
Zustimmung zu dieser de facto Ausweitung der Rolle der NATO darauf
hinauslaufen, sich wie die Lemminge über die Klippen treiben zu lassen. Sich
mit China anzulegen, liegt nicht im Interesse Europas und auch nicht im
Interesse irgendeines der zum Madrider Gipfel eingeladenen Staaten. Selbst
wenn die europäischen Regierungen der Meinung wären, dass Russland
inzwischen unumkehrbar zu einer Bedrohung ihrer Sicherheit geworden ist,
wäre es für sie völlig kontraproduktiv, Peking in ein festes Bündnis mit
Moskau zu drängen.

 

Diese Entwicklungen bringen die Welt weiter an den Rand eines
Flächenbrandes, der weitaus schlimmer sein könnte als der laufende Krieg in
der Ukraine und der die Zukunft der Menschheit gefährden könnte. Es ist
dringend notwendig, wieder eine weltweite Friedensbewegung aufzubauen, die
sich gegen alle Militärbündnisse wendet und deren Auflösung fordert, eine
Bewegung, die sich auch gegen die laufenden massiven Erhöhungen der
Militärausgaben wendet. Es ist höchste Zeit, zur weltweiten Abrüstung unter
der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zurückzukehren, wie es die
Charta der Organisation vorsieht. Diese Charta ist der Eckpfeiler des
Völkerrechts, dem wieder Geltung verschafft werden muss, statt weiter in das
Gesetz des Dschungels abzugleiten. Die immer irrsinnigeren Summen, die für
Rüstung und Zerstörung ausgegeben werden, könnten viel sinnvoller dafür
verwendet werden, was wirklich im Interesse der Menschheit bekämpft werden
muss, nämlich Armut und Klimawandel.

 

 

Übersetzung aus der französischen Version: MiWe

 

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Aus:   die internationale Nr. 5/2022 

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