[IPK] "Die russische Welt" - Vom Anfang und Ende einer Idee (von Ilja Budraitskis)

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Mi Sep 14 08:24:41 CEST 2022


Ukraine/Russland:

"Die russische Welt" - Vom Anfang und Ende einer Idee
Online unter: https://www.inprekorr.de/610-rus.htm

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Die „russische Welt“ ist eines der Schlüsselelemente von Putins offizieller
Ideologie, mit der die militärische Invasion der Ukraine gerechtfertigt
wurde. In diesem, im Original auf der neuen Antikriegs-Internet-Plattform
posle.media [https://posle.media/] (die Leser*innen mögen ihr folgen und sie
unterstützen!) veröffentlichten Artikel analysiert einer ihrer
Herausgeber*innen, der politische Theoretiker Ilja Budraitskis, die
Genealogie der „russischen Welt“.

 

 

Von Ilja Budraitskis

 

 

Bei seiner Rede an die Nation am Vorabend des Krieges bezeichnete Wladimir
Putin die Ukraine als „integralen Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur
und geistigen Lebensart“. Aus dieser Aussage leitet sich eine direkte
politisch-militärische Folgerung ab: Die Grenzen dieser „geistigen
Lebensart“ müssen mit den geografischen Grenzen des russischen Staates
absolut identisch sein. Die Idee, Kultur mit Armee, Staat mit Sprache und
nationale Identität mit Staatsangehörigkeit gleichzusetzen, ist als Doktrin
der „russischen Welt“ bekannt und wurde vom Kreml im Laufe der vergangenen
zwei Dekaden immer weiterentwickelt. Heute dient dieses Konzept als
Eckpfeiler, um den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen und einer ganzen
Nation das Recht auf Existenz abzusprechen. Welche Geschichte verbirgt sich
hinter dem Konzept der „russischen Welt“ und wie ist sie entstanden?

 

Der Begriff „russische Welt“ macht in den 1990er-Jahren in Moskauer
Intellektuellenkreisen die Runde. Er ist die Antwort auf das Bedürfnis nach
einer breitgefächerten kulturellen Definition der russischen Identität, die
sich von möglichen nationalistischen und revanchistischen Definitionen
unterscheiden musste. Nachdem der Begriff Anfang der 2000er-Jahre jedoch
eine ganz andere Bedeutung bekommen hatte, wurde er nach und nach zu einer
Säule der offiziellen Doktrin. Im Oktober 2001 erläuterte Putin auf dem
sogenannten Weltkongress von Landsleuten zum ersten Mal sein Verständnis
dieser Doktrin: Die „russische Welt“ besteht aus „Millionen von Menschen,
die russisch sprechen, denken und fühlen“ und außerhalb der russischen
Föderation leben. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“ ist, laut Putin,
wohl überlegt – es ist eine Frage geistiger Selbstbestimmung. Und da
„Russland immer mehr Fortschritte hinsichtlich der Integration in die
globale Gemeinschaft und Weltwirtschaft macht, haben unsere Landsleute
großartige Möglichkeiten, ihrem Heimatland mittels eines konstruktiven
Dialogs mit [ihren] ausländischen Partnern zu helfen.“ Putins Rede machte
sehr deutlich, dass er zu jenem Zeitpunkt viel mehr an jenen Menschen
interessiert war, die „russisch fühlen“ und in London, Paris oder New York
leben, als an denen im Donbass oder in Nordkasachstan. Dabei sollte man sich
ins Gedächtnis rufen, dass Putin 2001 mit dem Westen auf Kuschelkurs war:
Russland unterstützte die amerikanische Militäroperation in Afghanistan,
während liberale wirtschaftliche Reformen im Gange waren – darunter
Programme, die auf ausländische Investitionen abzielten. Bis zu diesem
Zeitpunkt bezog sich der Begriff „russische Welt“ auf wohlhabende und
einflussreiche Mitglieder der Diaspora, die Russland im Verlauf der
Globalisierung Wettbewerbsvorteile verschaffen könnten.

 

Nur ein Jahr früher, im Jahr 2000, definierte Pjotr Schtschedrowizki, ein
politischer Berater mit Verbindungen zum Kreml, die „russische Welt“ noch
als eine „kulturelle und menschliche Quelle“ im weltumspannenden Markt.
Schtschedrowizki unterstützte das Konzept der „russischen Welt“ als hybriden
„Mensch/Technologie-Ansatz“ und stellte es als Gegenteil des serbischen
Modells dar, das „territoriale und ethno-kulturelle Probleme gewaltsam
löse“.

 

Mitte der 2000er-Jahre etablierte sich Putins Russland in der Weltwirtschaft
und übernahm die Rolle eines Hauptlieferanten von Rohstoffen – die
Verbesserung seiner „kulturellen Quelle“ hatte auf seiner Prioritätenliste
keinen Platz mehr. Gleichzeitig stellten die Siege der „Farben-Revolutionen“
in Georgien (2003) und der Ukraine (2005) Moskaus politischen Einfluss im
postsowjetischen Raum in Frage. Moskaus Vertrauen auf informelle Netzwerke
mit lokalen Eliten zahlte sich ganz offensichtlich nicht aus, und die
allmähliche Entfremdung des Westens erforderte Lobbyarbeit. Ab diesem
Zeitpunkt wurde die Bedeutung des Begriffs „russische Welt“ komplett vom
politischen Interesse des Staates bestimmt: Die russischsprachige
Bevölkerung der Nachbarländer musste ein Werkzeug für staatliche
Einflussnahme werden, während Sympathie für russische Geschichte und Kultur
(und in diesem besonderen Zusammenhang auch Sympathie für Russland als
Nachfolger der Sowjetunion) in Unterstützung für Russlands internationale
Politik verwandelt werden sollte. Zu diesem Zweck wurden Mitte der
2000er-Jahre folgende Projekte ins Leben gerufen: die Stiftung Russkij Mir,
der Nachrichtenkanal RT (Russia Today), das Institut für Demokratie und
Kooperation (ein in Moskau beheimateter Thinktank) und vor allem eine neue
Bundesbehörde (Rossotrudnitschestwo), die vom Kulturzentrum des
Außenministeriums unterstützt wurde. Jedes Projekt hatte dabei die Aufgabe,
auf seine eigene Weise russische „sanfte Macht“ auszuüben. RT konzentrierte
sich auf „alternative Nachrichten“, mit denen es die westlichen Medien
herausforderte und aktuelle Ereignisse in Kreml-freundlichem Licht
darstellte. Das Institut für Demokratie und Kooperation wiederum baute ein
Netzwerk von konservativen Experten auf, die Putins Russland als Bollwerk
für „europäische Werte“ gegen „Linksliberalismus“ und Feminismus sahen.

 

Heutzutage bezieht sich die „russische Welt“ nicht nur lediglich auf die
internationale Gemeinschaft Russischsprechender, sondern steht für eine
Gruppe von „Werten“, die den Interessen des Staates entsprechend gefördert
werden. Vera Agejewa drückte dies so aus: Die „Absicherung der russischen
Welt“ ist in vollem Gange – es handelt sich um eine Situation, in der
kultureller Einfluss einen schon fast unabdingbaren Aspekt sowohl für
„nationale Sicherheit“ als auch für den Schutz des Staates vor externen
Bedrohungen darstellt. Es ist sehr aufschlussreich, dass Alexander Burutin,
stellvertretender Generalstabschef der russischen Streitkräfte, 2008 die
Idee des Aufbaus eines Instituts für Demokratie und Kooperation begrüßt und
diesem eine Rolle in „Informationskriegen“, die gegen „Leute und deren
Meinungen“ gerichtet sind, anempfiehlt. Diese Interpretation impliziert,
dass die Grenzen zwischen „sanfter“ und „harter“ Macht verschwimmen, da der
Inhalt der „russischen Welt“ – russische Sprache, Kultur und emotionale
„Verbundenheit mit Russland“ – zu einer Art Waffe für den Einsatz in einem
unsichtbaren Krieg wird. Für den Kreml ist die „russische Welt“ lediglich
eine Antwort auf die Expansion des Westens, durch die solche Konzepte wie
„demokratische Wahlen“ oder „Menschenrechte“ als Mittel zur Schwächung
Russlands verbreitet würden. Somit ergibt sich, dass „Werte“ an sich, also
unabhängig von ihrem Inhalt, in Wirklichkeit keinen Wert haben: Sie sind
dazu verdammt, zu einem Werkzeug nationaler Interessen zu werden und damit
entweder dem einen oder dem anderen Land zu dienen. Und während
Menschenrechtsaktivist*innen oder Oppositionsmitglieder in Russland als
Agenten westlicher Einflussnahmeversuche gebrandmarkt werden, sollten
Personen, die sich außerhalb von Russland mit der russischen Kultur
identifizieren, zu Agenten russischer Einflussnahme werden.

 

Nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Konflikts im Donbass 2014
weist die „russische Welt“ keinerlei Spuren von „sanfter Macht“ mehr auf und
entwickelt sich zu einer irredentistischen Ideologie. Dabei handelt es sich
um ein Programm, das verloren gegangene „historische Territorien“ eines
Landes wiedererlangen will – wenn nicht als Teil der russischen Föderation,
dann doch zumindest als Einflussbereich unter politischer und militärischer
Kontrolle Russlands. Wie schon das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche,
Patriarch Kirill, seinerzeit erklärte, sei die „russische Welt“ eine
„besondere Zivilisation, und Menschen, die ihr angehören, bezeichneten sich
heutzutage lediglich mit unterschiedlichen Namen – Russen, Ukrainer oder
Belarussen. Der „russischen Welt“ anzugehören oder nicht, liegt daher nicht
in der persönlichen Entscheidung jedes Einzelnen, sondern wird durch das
Schicksal bestimmt – durch Abstammung und Territorium. Dem Kreml-Strategen
Wladislaw Surkow zufolge ist die „russische Welt“ da, wo Menschen „russische
Kultur schätzen, russische Waffen fürchten und unseren Putin respektieren“.
Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass Teil der „russischen Welt“ zu sein
bedeutet, Untertan von Putin zu sein, seine Autorität anzuerkennen und zu
gehorchen. Eine präzisere Formulierung, die den völligen Zusammenbruch
früherer Konzeptualisierungen der „russischen Welt“ als „sanfte Macht“
aufzeigt, gibt es nicht: Russland kann nicht einfach nur für seine
großartige Kultur geliebt werden, da niemand Russlands soziales und
politisches Modell attraktiv findet, aber Russland kann mit seiner
militärischen Macht Angst und Schrecken verbreiten.

 

Ein ganzes Jahrzehnt lang haben mehrere Organisationen am Konzept der
„russischen Welt“ gebaut – ohne Erfolg. Und was noch schlimmer ist: Sie
haben sich in einen Mechanismus zur Veruntreuung zugeteilter
Regierungsgelder verwandelt. Selbst die russisch-orthodoxe Kirche ist
inzwischen moralisch bankrott, da sich Millionen ihrer Gläubigen mit
Ausbruch des Krieges von ihr abwandten. Dennoch ist der Misserfolg der
„russischen Welt“ als Strategie „sanfter Macht“ nicht nur ein Produkt
korrupter Praktiken. Er wurde auch durch die antidemokratische Vision der
Staatseliten verursacht, die durch und durch davon überzeugt sind, dass
Menschen, zumindest jene außerhalb des Dunstkreises der Eliten, unfähig
sind, ihr eigenes Leben zu meistern. Die echte „russische Welt“ – Millionen
von russischsprachigen Menschen – wird nicht als ebenbürtige Partnerin für
einen Dialog angesehen, sondern nur als „Inventar“, ein Inventar, das zum
Vorteil des Staates verwaltet und benutzt wird. Heutzutage ist diese
„russische Welt“ buchstäblich eine Geisel und ein Opfer des Staates, der
einen verbrecherischen Krieg führt. Es waren russischsprachige Ukrainer, die
durch russische Bomben in Mariupol und Charkiw starben oder zu Flüchtlingen
wurden. Die Logik des Kremls ist zu einer schrecklichen Formel degeneriert:
Wenn die „russische Welt“ nicht unterworfen werden kann, kann sie nur
zerstört werden. Das bedeutet: Sollen russische Kultur und Sprache eine
Zukunft haben, können sie nur aus den Trümmern von Putins Russland
auferstehen.

 

 

 

 

20. Juni 2022

Übersetzung: A. H.

 

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Aus:   die internationale Nr. 5/2022 

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