[IPK] Iran: Kurze Chronik der Unterdrückung

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Mo Jan 16 20:36:14 CET 2023


Iran:

Kurze Chronik der Unterdrückung
Online unter: https://www.inprekorr.de/614-iran-kia.htm

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Seit dem Mord an Mahsa Jina Amini am 16. September durch die „Sittenpolizei“
wegen einer schlecht sitzenden Haarsträhne kommt die Islamische Republik
nicht mehr zur Ruhe. Immer breitere Teile der Bevölkerung schließen sich der
Protestbewegung an. 

 

 

Von Babak Kia

 

 

Dieser Mord war der „Blutstropfen“, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Seit [nunmehr 6 Monaten] stehen Frauen, Jugendliche und nationale
Minderheiten (Kurden, Belutschen, Araber, Aseris etc.) an vorderster Front
der Proteste. Der Mord an Mahsa Jina Amini hat erneut den frauenfeindlichen
Charakter der Grundlagen und Gesetze der theokratischen Diktatur deutlich
gemacht.

 

 

DER BEGINN DER MULLAH-HERRSCHAFT

 

Auf der Grundlage einer patriarchalischen, ungleichen Gesellschaft und der
Religiosität eines Großteils der Bevölkerung haben die regierenden Mullahs
nach 1979 eine Reihe von Gesetzen eingeführt, die auf der Scharia und dem
Schiismus basieren. Für Khomeini „muss alles islamisch sein“. Die Frauen
sind seither Zielscheibe einer ganzen Reihe von diskriminierenden Maßnahmen,
die die totale Kontrolle der Männer über ihren Körper und ihr Leben
begründen. Der Schleierzwang wird damit „gerechtfertigt“, dass die Haare der
Frauen sexuelle Provokationen bewirken.

 

Während Frauen und Männer noch gleichermaßen an der Revolution gegen das
Schahregime von 1979 beteiligt waren, mobilisierte das neue Regime sofort
seine Anhänger, um die Frauen wieder zuhause einzusperren. Unter dem Slogan
„ya roussari, ya toussari“, den man mit „Schleier oder Prügel“ übersetzen
kann, wurden ein ganzes Arsenal an Gesetzen und Institutionen geschaffen und
Brigaden eingerichtet, die diese neue Politik gewaltsam durchsetzen sollten.
Natürlich ging dies nicht ohne Widerstand ab, und zwar schon seit Beginn des
islamischen Regimes. Die Massendemonstration iranischer Frauen (trotz
Verbots) am 8. März 1979 gegen diese phallokratische Orientierung und gegen
den Schleierzwang markiert den Beginn eines individuellen und kollektiven
Widerstands der Frauen, der bis heute anhält.

 

Die Einführung des Kopftuchzwangs wurde von anderen Maßnahmen begleitet, wie
der Entlassung von Frauen aus Arbeitsplätzen, die als Männerdomäne gelten,
der Segregation im Gesundheitssystem oder im Bildungswesen und in der
gesamten Öffentlichkeit. All diese und viele weitere Maßnahmen zielen darauf
ab, Frauen aus der Öffentlichkeit zu vertreiben und sie mit Macht sozial und
politisch kontrollieren zu wollen.

 

Die jüngsten Statistiken der Islamischen Republik aus dem Jahr 2017 zeigen,
dass alle rechtlichen Bestimmungen des Regimes den gleichberechtigten Zugang
von Frauen zum Arbeitsmarkt behindern. Obwohl die Hälfte der
Hochschulabsolvent*innen Frauen sind, haben nur 14,9 % von ihnen einen
Arbeitsplatz, verglichen mit 64,1 % der Männer. Offiziell lag die
Arbeitslosenquote von Frauen 2017 bei 20,7 % und war damit doppelt so hoch
wie die der Männer.

 

 

DAS ZIVILGESETZBUCH ALS INSTRUMENT DER UNTERDRÜCKUNG

 

Das vom theokratischen Regime eingeführte Zivilgesetzbuch bestimmt den
Ehemann zum Familienoberhaupt. Als solcher kann er seiner Frau verbieten zu
arbeiten. Auch die Beantragung eines Reisepasses bedarf der vorherigen
Genehmigung des Ehemannes. Außer in einigen Ausnahmefällen können sich
Frauen nicht ohne die Zustimmung ihres Mannes scheiden lassen.
Schwangerschaftsabbrüche sind verboten.

 

Nach den geltenden Gesetzen wird ein Mann oder eine Frau, der oder die eine
sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe eingeht, zum Tode durch Steinigung
verurteilt. Gleichzeitig erlaubt das Regime Polygamie. Ein Mann kann eine
zeitlich begrenzte Ehe mit so vielen Frauen eingehen, wie er möchte. Er kann
auch mit vier Frauen auf unbestimmte Zeit verheiratet sein. Wenn er diese
Zahl überschreitet, kann er in der Praxis immer geltend machen, dass es sich
um eine vorübergehende Ehe handelte. Bei einer identischen Straftat hat ein
Mann also die Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen, indem er sich auf
die geltenden Gesetze beruft, während bei Frauen die Hinrichtung durch
Steinigung vollzogen wird.

 

Das Bürgerliche Gesetzbuch betrachtet die Heirat von Mädchen im Alter von
achteinhalb Jahren als legal. Für einen Jungen liegt das gesetzliche Alter
bei 15 Jahren. Es erlaubt auch „den Akt der Eheschließung vor der Pubertät“
mit der Zustimmung des „gesetzlichen Vertreters“ des Mädchens. Der Vater
oder Großvater kann z. B. seine zweijährige Tochter oder Enkelin mit einem
60-jährigen Mann zwangsverheiraten und dafür eine „Mitgift“, das sogenannte
„Milchrecht“, erhalten. Die Mutter hat kein Recht, sich einzumischen.

 

Es würde zu weit führen, alle diskriminierenden Bestimmungen oder all die
physische, seelische und soziale Gewalt, die die Frauen erleiden, im Detail
zu beschreiben.

 

Die aktuelle Protestwelle ist Teil des sozialen, politischen, demokratischen
und feministischen Widerstands der letzten 43 Jahre. Die jetzige Bewegung
hat dem feministischen Bewusstsein der iranischen Gesellschaft einen großen
Sprung nach vorne beschert, und unabhängig vom Ausgang der Revolte wird es
kein Zurück mehr geben. Die Islamische Republik ist eine kapitalistische,
patriarchalische und obskurantistische Theokratie. Mehr denn je brauchen die
Völker des Iran und in erster Linie die Frauen, die Arbeiter*innen und die
unterdrückten nationalen, religiösen und sexuellen Minderheiten die
Solidarität der radikalen Linken, der fortschrittlichen Kräfte und der
Gewerkschaften.

 

 

Aus /l’Anticapitaliste /637
[https://lanticapitaliste.org/arguments/feminisme/la-republique-islamique-di
ran-une-dictature-capitaliste-theocratique-et] vom 17.11.2022

Übersetzung: MiWe

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 1/2023 

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