[IPK] Bericht vom Pariser Seminar zum Gedenken an Ernest Mandel

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Mo Jul 24 21:00:37 CEST 2023


Zum 100. Geburtstag von Ernest Mandel
Online unter: https://www.inprekorr.de/620-mandel.htm

Ein Bericht vom Pariser Seminar zum Gedenken an Ernest Mandel.


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Zwischen anfangs 50 und später rund 80 Genossinnen und Genossen nahmen an
dem Tagesseminar in Paris teil. Gilbert Achcar trat als Organisator auf und
erklärte, dass alles aufgenommen wird, um ein Video zu erstellen. Ganz
überwiegende Verkehrssprache war Französisch. Eine Buchveröffentlichung mit
verschriftlichen Referaten ist ins Auge gefasst, aber noch nicht konkret
geplant. Ein Bericht vom Pariser Seminar zum Gedenken an Ernest Mandel.

 

 

Von Manuel Kellner

 

 

Meine Aufgabe war, die erste Runde zum Thema Ökonomie zu moderieren. Daniel
Albarracín (Andalusien) und Francisco Louça, genannt Chico (Portugal)
sprachen beide zum Thema der Langen Wellen der Konjunktur. Die beiden
Referate waren nicht kontrovers und müssen daher hier nicht getrennt
vorgestellt werden. Nur konzentrierte sich Chico etwas pointierter auf die
Frage, wieso die vierte Lange Welle mit stagnativ-depressivem Grundton seit
1968 sich so lange bis heute hinzieht.

 

Für Ernest Mandel war ein wichtiger Unterschied der Langen Wellen zu den 7-
bis 10jährigen Zyklen der kapitalistischen Ökonomie, dass sich in den Langen
Wellen mit expansivem Grundton sehr wohl die Elemente zum Abkippen in die
Langen Wellen mit depressivem Grundton entwickeln, nicht aber umgekehrt in
letzteren die Elemente zum Übergang in eine neue Lange Welle mit expansivem
Grundton. Für das Aufkommen neuer Langer Wellen mit expansivem Grundton
seien daher sogenannte „exogene“, außerökonomische Faktoren ursächlich. 

 

Aus dieser Sicht konnte erwartet werden, dass der Zusammenbruch der
Sowjetunion und des „Ostblocks“ als bedeutender Sieg des westlichen Kapitals
als ein solcher Faktor hätte wirken können. Auch die neuen Technologien im
Bereich der Informatik und damit der Automation bzw. der Steuer- und
Regeltechnik sind ja vorhanden. Und doch hat sich in den Jahren nach dem
Zusammenbruch der UdSSR keine neue Lange Welle mit expansivem Grundton
aufgebaut. Warum?

 

Darauf haben beide Referate eine Reihe von Antworten gegeben. Die wichtigste
scheint mir zu sein, dass die immensen erzielten Profite zu einem
erheblichen Teil nicht produktiv investiert werden, da im Bereich der
materiellen Produktion zu geringe Extraprofite erwartet werden. Vielmehr
wird sehr viel in fiktives Kapital investiert. Im Wesentlichen sind das
Wetten auf zukünftige Entwicklungen. Diese Wortwahl ist übrigens treffender,
als von „Spekulation“ zu sprechen, aus dem einfachen Grund, dass alle
Investitionen, auch die produktiven, in der kapitalistischen
Produktionsweise spekulativ sind (niemand kann im Vorhinein wissen, ob in
ausreichendem Maße Extraprofite erzielt werden).

 

Birgit Mahnkopf, emeritierte Professorin der Hochschule für Wirtschaft in
Berlin (nur zur Kennzeichnung der Person: sie ist die Witwe von Elmar
Altvater) hat viel zu den ökonomischen, ökologischen und politischen Grenzen
der Globalisierung gearbeitet. Sie zeichnete in ihrem facettenreichen
Beitrag das Bild eines zeitgenössischen Kapitalismus voller Widersprüche, in
dem die Rüstungsproduktion einschließlich der Herstellung automatisierter
Waffensysteme und der verschärften Gefahr expandierender kriegerischer
Konflikte eine große Rolle spielen.

 

Cédric Durand, Professor für Ökonomie und Mitglied der Denkfabrik der France
Insoumise von Mélanchon, sprach nicht zur Krise des zeitgenössischen
Kapitalismus, obwohl er dazu viel arbeitet. Er behandelte die Theorie der
sozialistischen Planung bei Ernest Mandel. Dabei stellte er als wichtigstes
Element heraus, dass für Mandel alle möglichen Ansätze der demokratischen
Selbstverwaltung von Betrieben und Institutionen, so wichtig sie auch seien,
nicht ausreichen. Vielmehr muss in einer demokratisch geplanten Wirtschaft
darüber hinaus etwas bislang nie Dagewesenes verwirklicht werden: Wirklich
demokratische Entscheidungen der großen Prioritäten bei den
gesellschaftlichen Investitionen.

 

Die zweite Runde drehte sich um „Ernest Mandel und der Mai 1968“.

 

Gleichwohl befasste sich Janette Habel im ersten Referat wiederum mit dem
Problem der sozialistischen Planwirtschaft. Ernest Mandel war 1963/64 von
Che Guevara zur Teilnahme an der öffentlichen Diskussion über die
Wirtschaftspolitik nach Kuba eingeladen worden. Er stimmte mit dem Che in
wichtigen Punkten überein und trat deshalb als dessen Bündnispartner auf:
Kritik der Reformen für mehr Markt in der UdSSR, wichtige, aber nicht
beherrschende Rolle des Wertgesetzes in der Ökonomie von
Übergangsgesellschaften, Produktionsanalysen für die Entscheidungen über
Investitionen, und vor allem für die Einführung kollektiver statt
individueller Anreize zur Hebung der Arbeitsproduktivität in den Betrieben. 

 

Für beide standen Plan und Markt (die Leontieff als „Verbündete“ ansah) in
der ganzen Übergangsperiode in einem antagonistischen Konflikt miteinander.
Der Markt darf existieren, muss aber dem Plan untergeordnet werden, sonst
droht die kapitalistische Restauration. Beide waren auch der Meinung, dass
viel Zeit, viele neue Erfahrungen und Irrtümer nötig sind, bevor Gesetze der
Ökonomie der Übergangsgesellschaft formuliert werden können. 

 

Bekanntlich war der Che leider der Verlierer der Ökonomie-Debatte.

 

Für Janette Habel ist auch heute noch die demokratische Selbstorganisation
das entscheidende Mittel sowohl im Kampf gegen die Bürokratie wie gegen die
entsolidarisierenden Wirkungen des Markts.

 

Pierre Rousset (Frankreich) erinnerte daran, dass der Mai 68 die
sozialistische Revolution „auf die Tagesordnung“ gesetzt hatte. Es sei nun
an der Zeit, „von Propagandagruppen zu Kampforganisationen“ überzugehen.
Innerhalb einer Woche sei eine Vorhut von tausenden von Arbeitern
entstanden, die die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution begriffen
hätten.

 

Jedoch seien wir, die Sektion der IV. Internationale damals, in Wirklichkeit
nur „Strohhalme im Wind“ gewesen, die in einer wirklichen Situation der
Doppelherrschaft keine wirksame Rolle hätten spielen können. Mandel hatte
die Neigung auszuweichen, wenn wirkliche Probleme auftauchen. Seine Vision
revolutionärer Prozesse war recht linear. Es gab zwei Riegel, die
Kommunistische Partei und die von ihr kontrollierte Gewerkschaft CGT. Wenn
man diese beiden in wenigen Wochen wegsprengt, dann könnten auch kleine
revolutionäre Organisationen viel beeinflussen.

 

Jedoch: eine solide Verankerung in den Massen erfordert viel Zeit. Auch in
Perioden des Aufschwungs der Massenbewegung und der Doppelherrschaft gibt es
Gegenschläge. Und denen können Organisationen nicht widerstehen, die die
genannte Verankerung nicht lange vorher erarbeitet haben.

 

Jaime Pastor (Spanischer Staat) stellte Ernest Mandels Kritik am
Eurokommunismus dar (Vgl. Ernest Mandel 1978: Kritik des Eurokommunismus.
Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus?).
Dabei zeigte er, dass der Führer der spanischen KP Santiago Carillo ein
„intelligenter“ Opportunist gewesen war: er war nicht nur sehr kritisch
gegenüber der Sowjetunion, sondern äußerte sich auch sehr viel positiver zur
Revolte des Mai 68 als etwa Georges Marchais von der KP Frankreichs.

 

Pastor erinnerte an die Rede von Ernest Mandel in Lissabon, in der er, wie
Saint-Just, davor warnte, es sei schlimm eine „nur halbe“ Revolution zu
machen. Viele Jahre nach den zerstobenen Hoffnungen der Mitte der 70er Jahre
sprach sich Mandel 1992 für die „Wiedergeburt der Hoffnung“ aus, sprach von
der „Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus“, von der Notwendigkeit, auch an
„kulturellen Kämpfen“ teilzunehmen, den „Paternalismus“ auch in den eigenen
Reihen zu bekämpfen und entwickelte eine immer kritischere Einstellung zu
den Jahren 1918-1923 in der russischen Räterepublik (also vor dem Sieg der
Stalin-Fraktion).

 

Alexander Neumann, der viel zur Frankfurter Schule gearbeitet hat, zeigte
eine Reihe von Parallelen und Berührungspunkten dieser mit dem Schaffen von
Ernest Mandel auf. So habe Mandel, etwa in „Der junge Marx“, nicht wie
Althusser eine chinesische Mauer zum älteren Marx diagnostiziert. Zwischen
Marcuse, Horkheimer, Adorno, Bloch und auch Rudi Dutschke und Mandel habe es
aber leider nie eine wirkliche Debatte gegeben. Etwas ironisch erzählte
Neumann vom Auftritt Mandels in Berlin (zusammen mit Oskar Negt). Thema war
damals angesichts des Zusammenbruchs der UdSSR das Erbe der
Oktoberrevolution. Und da hielt Ernest Mandel gegen Wind und Wetter geradezu
„obsessiv“ an der Theorie vom „bürokratisierten Arbeiterstaat“ fest.

 

Sebastien Budgen (England) zeigte den starken Einfluss Mandels als Autor in
England auf, wohingegen er dort politisch eine sehr geringe Rolle spielte.
Budgen unterstrich die Bedeutung der New Left Review und der Rolle von Perry
Anderson als wohl strengster Redakteur, den Mandel je hatte. Andersons
Kritik am „Spätkapitalismus“ führte dazu, dass dessen englische Version eine
bedeutende Verbesserung gegenüber dem deutschen Original von 1972 war.

 

Mattéo Allalouf (Belgien) schilderte eindringlich die Rolle von Ernest
Mandel in der belgischen Arbeiterbewegung, bei der Vorbereitung des
Generalstreiks 1960/61, des Masseneinflusses vermittelt über die
Gewerkschaftslinke und die Linke der sozialdemokratischen Partei bis Mitte
der 60er Jahre. Er sprach dabei auch über die Problematik des damit
verbundenen „Entrismus“, der ja konspirativ durchgeführt werden musste,
wodurch sich enge Mitstreiter (wie er selbst) letztlich hintergangen gefühlt
hatten, als nach irgendeiner obskuren Sitzung in Paris die Bombe platzte:
raus aus der Sozialdemokratie! Die Hoffnungen, dass sich daraus eine
relevante linke Kraft entwickeln könnte, zerschlugen sich jedoch völlig.

 

Es sprach weiterhin Catherine Samary zum Thema Übergang zum Sozialismus und
Entfremdung und zur Frage, warum sich die Hoffnung auf eine „politische
Revolution“ in der Sowjetunion und den anderen Ländern nicht realisiert
hatte, und welche – unvollständigen, aber doch auch heute noch anregenden
Lehren Mandel daraus gezogen hatte.

 

Michael Löwy zeichnete die Entwicklung des ökologischen Problembewusstseins
von Ernest Mandel seit den 70er Jahren. 1962, im Jahr des Traité d’Economie
marxiste (deutsch: Marxistische Wirtschaftstheorie) hatte er noch keins. In
den Folgejahren bis zum Schluss machte er immer wieder Fortschritte, hatte
aber auch Rückfälle in die frühere Unterschätzung der Problematik.

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 4/2023 

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