[IPK] Ein rechtmäßiger Platz für Taiwan

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Mo Jul 24 14:22:53 CEST 2023


Selbstbestimmungsrecht:

Ein rechtmäßiger Platz für Taiwan
Online unter: https://www.inprekorr.de/620-taiwan.htm

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Lange waren die VR China und die Kuomintang-Regierungen auf ihrem
Rückzugsgebiet Taiwan darin einig, dass es nur *ein* China gebe und sie
selbst jeweils die legitimen Alleinvertreter Gesamtchinas seien. Erst in
jüngster Zeit rückt die Frage des Selbstbestimmungsrechts für Taiwan immer
stärker in den Vordergrund. 

 

 

Von Au Loong-Yu

 

 

Peking begnügt sich neuerdings nicht mehr mit militärischen Manövern,
sondern hat im August 2022 ein Weißbuch zur Taiwan-Frage veröffentlicht – in
der Absicht, seine Politik des „einzigen China“ auf den letzten Stand zu
bringen. Ein einziges China? Aber welches?

 

Peking setzt alles daran, um die Welt davon zu überzeugen, dass seine
Politik auf folgenden Prämissen beruht:

 

1) Es gibt nur ein einziges China auf der Welt.

 

2) Taiwan gehört zu China.

 

3) Die einzige repräsentative Regierung Chinas ist die Volksrepublik (VR)
China.

 

4) Taiwan ist Teil der VR China.

 

 

Taiwan hat den dritten und vierten Punkt angefochten, und wir können diese
Meinung nicht ignorieren. Obwohl das Kuomintang-Regime (KMT) 1949 das
chinesische Festland an die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) verloren
hatte und nach Taiwan geflüchtet war, behielt es auf der Insel seine
Republik China (RC) sowie seine Verfassung bei und beanspruchte damit das
chinesische Festland für sich. Die KMT betrachtete die eigene Regierung als
einzig rechtmäßige und repräsentative chinesische Regierung. 

 

Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) wiederum, die in Taiwan von 2000
bis 2008 an der Macht war und erneut für zwei Amtszeiten von 2016 bis 2024
gewählt wurde, hatte sich bereits 1992 für ein unabhängiges Taiwan
ausgesprochen, jedoch nie Schritte zu einer Umsetzung unternommen. 

 

 

DIE HALTUNG DER VEREINIGTEN STAATEN

 

Was die USA betrifft, so „/erkennen sie an/“ (Hervorhebung durch den Autor),
dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Meerenge von Taiwan den Standpunkt
vertreten, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil von China
ist. Die US-Regierung stellt diese Position nicht in Frage. Sie bekräftigt
ihr Interesse an einer friedlichen Lösung der Taiwan-Frage durch die
Chinesen selbst.“ (Shanghai-Kommuniqué von 1972).

 

Die USA haben bewusst den Begriff „anerkennen“ und nicht „zur Kenntnis
nehmen“ verwendet und gleichzeitig vermieden, ein Land beim Namen zu nennen,
wodurch die Feststellung, dass „Taiwan [ist] ein Teil von China“ ist, vage
genug blieb, um die eigenen – damals noch nicht allgemein bekannten, aber
sich bereits abzeichnenden – Absichten weiter zu verfolgen. Damals erkannten
die USA das Regime der Republik China noch an, begannen aber bereits, engere
Beziehungen zu Peking in Betracht zu ziehen. Im Jahr 1979 wurde dieses
Vorhaben durch die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen mit der VR
China auf Kosten der Republik China (die bereits Ende 1971 aus den Vereinten
Nationen ausgeschlossen worden war) in die Tat umgesetzt. Peking und seine
Anhänger waren stets bemüht, den Eindruck zu erwecken, dass die USA durch
die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen mit der VR China auch die
Zugehörigkeit Taiwans zur Volksrepublik anerkennen würden, wovon im
Shanghai-Kommuniqué von 1972 allerdings nie die Rede war. Die USA haben sich
zwar gegen eine Unabhängigkeit Taiwans ausgesprochen (was zur Folge gehabt
hätte, die Bezeichnung „Republik China“ offiziell etwa durch „Republik
Taiwan“ zu ersetzen), aber nie geklärt, zu welchem „China“ Taiwan gehört:
zur VR China oder zur Republik China. Daran hat auch die Anerkennung der
Volksrepublik durch die USA im Jahr 1979 nichts geändert. [1]

 

Jedenfalls hat Washington die VR China als einzig rechtmäßige Regierung
Chinas anerkannt. Damit stellen die USA das Recht der taiwanesischen
Bevölkerung auf Selbstbestimmung in Abrede. Washington hat zwar seine
Position hinsichtlich der Beziehungen zwischen den beiden Seiten der
Meerenge teilweise adaptiert, jedoch seine Taiwan-Politik in Grundzügen
beibehalten.

 

 

DER „KONSENS VON 1992“

 

Das Weißbuch greift die taiwanesische DPP-Regierung frontal an: „Sie weigert
sich, das Ein-China-Prinzip zu akzeptieren, verfälscht und leugnet den
,Konsens von 1992‘, behauptet, dass ,die Republik China und die
Volksrepublik China einander nicht untergeordnet sind‘ und rückt die ,neue
Zwei-Staaten-Theorie‘ auffällig in den Vordergrund.“

 

Der „Konsens von 1992“ bezieht sich auf den Abschluss der Gespräche zwischen
Peking und der Kuomintang-Regierung in Taipeh im Jahr 1992, wo in einer
mündlichen Vereinbarung festgehalten wurde, dass „beide Seiten der Meerenge“
zu „China“ gehören, aber beide Parteien „übereinkommen, sich nicht zu
einigen“, wie der Begriff „China“ (VR China oder Republik China) zu
interpretieren ist. Das kann nur heißen, dass die beiden Seiten der Meerenge
„einander [eben] nicht untergeordnet sind“). [2] Daher verwundert es, dass
das Weißbuch Taiwan in diesem Punkt attackiert, zumal die taiwanesische
Regierung (unabhängig davon, wie sich der eine oder andere taiwanesische
Staatschef zum Ärger Pekings zu den Beziehungen zwischen den beiden Seiten
der Meerenge geäußert hat) an der Verfassung der Republik China festhält und
somit ihr Bekenntnis zur „Ein-China-Politik“ keineswegs widerrufen hat.
Offensichtlich bedauert Peking, worauf man sich im Jahr 1992 geeinigt hat,
und versucht, die Tatsachen zu verschleiern.

 

Die Auslegung des „Konsenses von 1992“ durch das Weißbuch widerspricht auch
einer mündlichen Äußerung des ranghöchsten Politikers Pekings gegenüber
George W. Bush. Anlässlich eines im Jahr 2008 geführten Telefongesprächs
zwischen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Präsidenten über Taiwan
erklärte der damalige chinesische Präsident Hu Jintao: „China hat immer die
Auffassung vertreten, dass das chinesische Festland und Taiwan die
Konsultationen und Gespräche auf der Grundlage des ,Konsenses von 1992‘
wieder aufnehmen sollten, demzufolge beide Parteien anerkennen, dass es nur
ein China gibt, aber sich darauf geeinigt haben, hinsichtlich der Definition
des Konsenses unterschiedlicher Meinung zu sein.“ [3]

 

Peking ist bestrebt, die Welt zu verunsichern, da es nicht nur die
Unabhängigkeit Taiwans ablehnt, sondern auch daran interessiert ist, die
Republik China vollständig zu beseitigen, um die Herrschaft über das
taiwanesische Volk zu erlangen. Vor dreißig Jahren war Peking noch lange
nicht so selbstbewusst wie heute und ging daher weniger aggressiv gegen
Taiwan vor. Heute hat Xi Jinping nicht mehr die Geduld, friedliche
Verhandlungen abzuwarten. Er könnte Taiwan schon bald an den
Verhandlungstisch zwingen, während er gleichzeitig mit einer bewaffneten
Annexion droht. Aus diesem Grund verschärft Xi seine Gangart Taiwan
gegenüber. Und deshalb setzt das Weißbuch gegenüber Taiwan seine Propaganda
für die Regelung „ein Land, zwei Systeme“ unverhohlen fort, obwohl diese
nach der Unterdrückung der Hongkonger Autonomiebewegung durch Peking seit
2020 politisch bankrott ist. Heute geht es nicht mehr darum, „die Herzen des
taiwanesischen Volkes zu gewinnen“, sondern nur mehr darum, in den Herzen
der Taiwanesen Angst zu verbreiten. Dieses Maß an Arroganz und Aggressivität
verärgert nicht nur die 23 Millionen Taiwanesen, indem es ihnen ihr
demokratisches Recht abspricht, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen,
sondern hat auch zur Folge, dass die Kuomintang – die einzige große Partei
in Taiwan, die Peking gegenüber gefügig ist – zunehmend unpopulär wird,
womit Peking auch seinen eigenen Handlungsspielraum einschränkt. Das ist
Peking anscheinend egal, denn es hat sich dazu entschlossen, Taiwan in die
Enge zu treiben. In den letzten zehn Jahren war es immer Xis aggressive
Haltung, die zu einer Zunahme der Spannungen auf beiden Seiten der Meerenge
geführt hatte.

 

 

DIE ENTWICKLUNG DER DEMOKRATISCHEN FORTSCHRITTSPARTEI VON TAIWAN

 

Das Programm der DPP von 1991 enthielt die Forderung nach einer unabhängigen
Republik Taiwan durch eine Volksabstimmung. Gleichzeitig wurde die
Verfassung der Republik China, welche die Gerichtsbarkeit über den
Festlandteil des Landes beansprucht, als veraltet bezeichnet.

 

Obwohl die DPP vier Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, hat keiner ihrer
Präsidenten die im Programm vorgesehene Abhaltung eines
Unabhängigkeitsreferendums in die Tat umgesetzt. Vielmehr hat die Partei ihr
Programm zur Unabhängigkeit Taiwans mehrfach neu interpretiert und
schließlich die Position einer rechtlichen Unabhängigkeit zugunsten einer
faktischen Unabhängigkeit aufgegeben. Sie akzeptiert somit die Verfassung
des Landes und betrachtet die Republik China als eine von der VR China
getrennte politische Einheit.  Damit geht die DPP nicht nur als Reaktion auf
den Druck aus Peking, sondern vor allem auf den Druck aus Washington einen
Kompromiss ein. Es handelt sich in der Praxis um die Aufrechterhaltung des
Status quo, der nach wie vor von mehr als der Hälfte der Bevölkerung
unterstützt wird.

 

 

PEKINGS IMPERIALE AMBITIONEN

 

Das Weißbuch rechtfertigt seinen Anspruch gegenüber Taiwan unter Berufung
auf die Kairoer Erklärung von 1943, die von Kuomintang-China, den USA und
Großbritannien verlautbart wurde: „Alle von Japan eroberten chinesischen
Gebiete, wie die Mandschurei, Formosa und die Pescadores, werden an die
Republik China zurückgegeben.“ Aus Gründen der politischen Korrektheit
wurden die Namen der oben genannten Gebiete später in „Nordostchina, Taiwan
und die Penghu-Inseln“ ungewandelt. Es war jedoch ein schwerer politischer
Fehler, sich auf dieses Dokument zu beziehen, um Pekings Anspruch auf Taiwan
zu begründen. Behauptet Peking etwa nicht, ein „sozialistisches“ Regime zu
sein? Warum beruft es sich dann auf die Autorität eines Abkommens, das von
den Imperialisten Roosevelt und Churchill auf der einen und Tschiang
Kai-schek, dem Henker der KPCh, auf der anderen Seite unterzeichnet wurde?
Wie kann ein sozialistisches Regime die imperialistischen Mächte, die die
Welt unter sich aufteilen, anerkennen, zumal diese sogar zugestimmt haben,
Tschiang die von Japan besetzten Gebiete zurückzugeben, bloß um Japan zu
bewegen, seine Kriegsanstrengungen zu verdoppeln? Das Weißbuch enthält
jedochnoch weitere Verfälschungen. Es beinhaltet nämlich implizit ein
Gründungsprinzip der VR China, das gegen sozialistische Grundsätze verstößt,
indem es die VR China als natürliche Nachfolgerin des Kuomintang-Regimes
betrachtet, das sich seinerseits in der Nachfolge der Qing-Dynastie sah.
Damit folgt es einer imperialistischen und expansionistischen Doktrin, und
zwar ungeachtet der Tatsache, dass das China der Kuomintang vom westlichen
Imperialismus beherrscht wurde.

 

Insofern überrascht es nicht, dass die KPCh bereits Anfang der 1940er Jahre
ihre ursprüngliche (mit der Praxis der Bolschewiki übereinstimmende)
Position, für die Selbstbestimmung von Minderheiten in China (wie den
Tibetern und Uiguren) einzutreten, aufgegeben hat. Pekings jüngste Forderung
in Bezug auf die Neun-Punkte-Linie im Südchinesischen Meer folgt derselben
Logik: „Wir müssen alle territorialen Forderungen des Kuomintang-Regimes
durchsetzen“, egal wie fragwürdig die Ansprüche der KMT waren. Dieser
reaktionäre Standpunkt reicht aus, um die KPCh als rechtmäßige Vertreterin
des chinesischen Volkes zu diskreditieren. Wer von der „heiligen Aufgabe der
Vereinigung aller Chinesen“ spricht, sollte sich zuallererst über eine
vollumfängliche Demokratisierung Chinas Gedanken machen, inkl. des
Selbstbestimmungsrechts seiner eigenen Minderheiten. Nur so kann China vor
einem sinnlosen Krieg bewahrt werden.

 

Ein Blick in die Geschichte der „Ein-China-Politik“ erklärt auch, warum sich
zahlreiche Regierungen der Interpretation Pekings angeschlossen haben. Die
Anerkennung der VR China als einzig rechtmäßiger Vertreterin Chinas erfolgte
ausschließlich aufgrund geänderter politischer Einschätzungen. Aber auch das
ist nicht in Stein gemeißelt. Schließlich war auch die Aufnahme der VR China
in die Vereinten Nationen im Jahr 1971 auf Kosten der Republik China das
Ergebnis einer Neubewertung der beiden Republiken durch die
UN-Mitgliedsstaaten. Während Washingtons Haltung die eigenen imperialen
Ambitionen untermauern sollte, konnten andere Regierungen, die damals eine
ähnliche Position einnahmen, davon überzeugt werden, dass die VR China
fortschrittlich (oder sogar „sozialistisch“) war und die von der KMT
geführte Republik China reaktionär.

 

Inzwischen sind fünfzig Jahre vergangen. Zwar haben sich die beiden
Republiken seit 1979 (nach den kapitalistischen Reformen von Deng Xiaoping)
in Bezug auf das Wirtschaftssystem angenähert, doch in politischer Hinsicht,
etwa was den Spielraum für Protestbewegungen betrifft, haben sie sich
auseinanderentwickelt. Das autokratische System in Peking hat sich seither
sukzessive verhärtet. Taiwan hingegen konnte dank des entschlossenen
Widerstands seiner Bevölkerung seit den 1970er Jahren die
Einparteiendiktatur der Kuomintang zugunsten eines liberalen Kapitalismus
überwinden, wo auch die unteren Schichten das Recht haben, sich zu
organisieren, zu protestieren und an Wahlen teilzunehmen. Obwohl die
taiwanesische Elite immer noch gehörige Macht über die gewöhnliche
Bevölkerung ausübt, hat diese nach wie vor das Recht, Widerstand zu leisten,
wenn sie sich zum Kampf entschließen sollte. Unter dem Regime in Peking
hingegen gibt es diese Freiräume nicht. Es ist höchste Zeit für die
Demokraten auf der ganzen Welt, den Charakter der beiden Republiken im 21.
Jahrhundert neu zu bewerten und ihre Positionen entsprechend anzupassen.

 

 

WAS WILL DIE TAIWANESISCHE BEVÖLKERUNG? 

 

------------ KASTEN -----------------------------------------------

Tabelle 1: Unabhängigkeit Taiwans oder 

Vereinigung mit dem Festland (in %)

 

 

                *1994* *2022*

- Vereinigung so bald wie möglich            4,4         1,3

- Status quo beibehalten, auf Vereinigung hinarbeiten    15,6       5,1

*für Vereinigung*            *20,0*  *6,4*

-  Status quo beibehalten, spätere Entscheidung               38,5
28,3

-  Status quo auf unbestimmte Zeit beibehalten                 9,8
28,6

*für Beibehaltung des Status quo*          *48,3*  *56,9*

-  Status quo beibehalten, in Richtung Unabhängigkeit gehen      8,0
25,2

-  Unabhängigkeit so bald wie möglich    3,1         5,1

*für Unabhängigkeit*    *11,1*  *30,3*

-  keine Antwort               20,5       5,2

 

 

-------------------------------------------------------------------

 

Die KPCh ist bis 1949 für das Recht der Taiwanesen auf Selbstbestimmung,
einschließlich des Rechts auf Unabhängigkeit, eingetreten, wie auch dem
Gründungsprinzip der Kommunistischen Partei Taiwans zu entnehmen ist. Im
Jahr 1927 beauftragte die Dritte Internationale die Kommunistische Partei
Japans, bei der Gründung der Kommunistischen Partei Taiwans im Jahr 1928
behilflich zu sein. Bei diesem Unterfangen spielte auch die KPCh eine
wichtige Rolle. Am 3. Mai 2022 veröffentlichte die Zeitschrift Diplomat
einen Artikel, um Peking an die historischen Tatsachen zu erinnern. Sie
zitierte ein Interview, das Edgar Snow mit Mao Zedong im Jahr 1937 geführt
hatte und das in seinem bekannten Buch „Roter Stern über China“
wiedergegeben wurde: „Wir werden ihnen [den Koreanern] unsere bedingungslose
Unterstützung in ihrem Kampf um die Unabhängigkeit zukommen lassen. Dasselbe
gilt für Taiwan.“ Damit zog sich das Blatt den Unmut des Büros für
Taiwan-Angelegenheiten des Staatsrats in Peking zu, wobei das Büro
sorgfältig vermied, Snows Interview zu erwähnen – mit gutem Grund, denn es
handelt sich dabei um eine unbestrittene Tatsache. [4] Die Regierungspartei
hat ihr Gründungsprinzip so radikal verraten, dass sie sich ihrer eigenen
Vergangenheit schlichtweg nicht stellen kann.

 

Gegenwärtig streben die meisten Taiwanesen jedoch nicht danach, sich das
Recht auf eine de-jure-Unabhängigkeit durch ein Referendum zu erkämpfen. Sie
sind für die Beibehaltung des Status quo (von einigen als
de-facto-Unabhängigkeit interpretiert), wie eine Meinungsumfrage aus dem
Jahr 2022 zur Zukunft Taiwans zeigt (Tabelle 1) [5]

 

 

WER WAREN DIE ERSTEN EINWOHNER*INNEN VON TAIWAN?

 

Der Hauptgrund für die Zunahme der Umfragewerte für eine Unabhängigkeit auf
Kosten der Werte für die Vereinigung und der Grund für die fehlenden
Antworten ist Pekings zunehmend reaktionäre Politik. Das Weißbuch zu Taiwan
ist dafür bloß das jüngste Beispiel. Darin wird behauptet, dass „Taiwan seit
der Antike zu China gehört“. Als Beweis wird das Jahr 230 n. Chr. angeführt,
in dem Taiwan von den Chinesen erstmals erwähnt wurde. Damit wird mit einem
Taschenspielertrick die Existenz der autochthonen Bevölkerung, die seit mehr
als 6 000 Jahren auf Taiwan lebt, geleugnet. Außerdem beweist ein altes
chinesisches Dokument über Taiwan gar nichts! Die Sprache der indigenen
Völker Taiwans gehört zur austronesischen Sprachfamilie, deren
Sprecher*innen auf den Inseln des Pazifischen Ozeans und auf der Inselwelt
Südostasiens sowie in Taiwan zu Hause sind. Sie sind die ältesten
Bewohner*innen der Insel, aber keine Chinesen. Das Weißbuch weicht jeglicher
Debatte über diese Frage aus, indem es die indigenen Völker einfach
ignoriert: Die Begriffe „indigene Taiwanesen“ oder „Aborigines“ kommen in
dem 14 000 Zeichen umfassenden Dokument kein einziges Mal vor!

 

Die Urbevölkerung stellt heute nur mehr einen verschwindend geringen Teil
der Gesamtbevölkerung dar, nämlich 2,3 %. Aber Peking hat auch kein
Verständnis für die größte ethnische Gruppe, nämlich die Benshengren
(wörtlich „Menschen aus dieser Provinz“). Diese stammen von Chinesen ab, die
vor Hunderten von Jahren eingewandert sind, und gehören hauptsächlich den
Hoklo und den Hakka an, die zusammen 86 % der Bevölkerung ausmachen. Sie
sprechen Han-Chinesisch, haben aber vor langer Zeit jegliche Verbindung zum
Festland verloren; viele verstehen sich in erster Linie als Taiwanesen – im
Gegensatz zur Bevölkerung Hongkongs, wo viele Menschen noch enge familiäre
Bindungen zum Festland haben. Was die Waishengren (wörtlich „außerhalb der
Provinz lebende Menschen“) betrifft – also die Festlandbewohner, die sich
erst nach dem Ende der japanischen Herrschaft 1945 in Taiwan niederließen –
so identifiziert sich die jüngere Generation zunehmend als taiwanesisch und
nicht als chinesisch, obwohl dieses Phänomen relativ neu ist. Im Übrigen
führt eine Entscheidung für die „taiwanesische“ Identität nicht zwangsläufig
zu einer Ablehnung der „chinesischen“ Identität. Die Tatsache, dass die
Taiwanesen beginnen, massenhaft eine „ausschließlich taiwanische“ Identität
für sich zu reklamieren, ist neueren Datums. Sie ist eine Folge der
militärischen Manöver, die Peking 1996 gegen Taiwan führte, um das Land zu
warnen, keinen Millimeter von der politisch korrekten „Ein-China-Politik“
abzuweichen. Einer Umfrage aus dem Jahr 1992 zufolge wählten 46,4 % der
Befragten die Identität „chinesisch und taiwanesisch“, während diejenigen,
die sich für eine „taiwanesische“ Identität entschieden, nur 17,6 %
ausmachten. Im Jahr 2021 hingegen unterstützten 62,3 % der Befragten
letztere Option, während erstere auf 31,7 % zurückgegangen war. [6]

 

 

PEKING ENTFESSELT SEINE EIGENEN ZENTRIFUGALEN KRÄFTE

 

Es besteht jedoch keine zwangsläufige Verbindung zwischen der Entwicklung
der Identitätswahl und einer Bewegung für die Unabhängigkeit. Derzeit wollen
die meisten Taiwanesen den Status quo beibehalten, und selbst von den 30,3 %
der Unabhängigkeitsbefürworter sind nur 5,1 % für eine „Unabhängigkeit zum
frühestmöglichen Zeitpunkt“, während die restlichen 25,2 % sich für „Status
quo beibehalten, in Richtung Unabhängigkeit gehen“ entschieden haben. Welche
Schlüsse ziehen wir daraus? Die Unabhängigkeit Taiwans steht keineswegs
unmittelbar bevor, und somit ist die „Bedrohung“ für Peking (und Washington)
alles andere als real. Die Spannungen auf den beiden Seiten der Meerenge
werden weniger durch diplomatische Gesten (etwa den Besuch der
US-Kongress-Vorsitzenden Nancy Pelosi in Taiwan) geschürt als vielmehr durch
die generelle Politik Pekings gegenüber Taiwan. Peking begnügt sich nicht
mehr damit, die Unabhängigkeit Taiwans zu hintertreiben, sondern zieht eine
völlig willkürliche „rote Linie“. Xi Jinping hat sich von Deng Xiaopings
relativ gemäßigtem Ansatz in Bezug auf die Diplomatie im Allgemeinen und
Taiwan im Besonderen verabschiedet und will Taiwan so schnell wie möglich in
die VR China integrieren, notfalls mit Gewalt, wie seine Kriegsrhetorik
zeigt. Es überrascht also nicht, dass Peking seine früheren Versprechen
bezüglich Taiwans gebrochen hat: Im Weißbuch zu Taiwan fehlt die
ursprüngliche Klausel, die Taiwan gemäß seiner Auffassung von einem Land und
zwei Systemen eine eigene Armee zugesteht. Auch die Zusicherung, die Armee
[der VR China, Anm. d. Übers.] nicht nach Taiwan zu schicken, wurde fallen
gelassen. Es gilt, einen Krieg zwischen den beiden Seiten der Meerenge zu
verhindern, doch dazu bedarf es vor allem eines korrekten Verständnisses der
Situation vor Ort: Es ist Peking, das durch seine Verweigerung der
Grundrechte der taiwanesischen Bevölkerung immer mehr Taiwanesen in die
Unabhängigkeit treibt – und nicht die USA, zumindest nicht zum jetzigen
Zeitpunkt. Daher ist es zwecklos, lediglich auf Washington Druck auszuüben,
um die Spannungen auf beiden Seiten der Meerenge zu entschärfen.

 

Unter der Kuomintang gab es in der taiwanesischen Gesellschaft vier
Kategorien von „Staatsbürgern“, wobei die Urbevölkerung am untersten Ende
der Skala stand. Obwohl die taiwanesischen Benshengren einen höheren Status
als die Ureinwohner hatten, wurden auch sie brutal unterdrückt und
sprachlich diskriminiert. So konnten etwa Benshengren-Kinder, die in der
Schule ihre Muttersprache verwendeten, bestraft werden. Auch die Mehrheit
der Waishengren, welche die ursprüngliche Basis der Kuomintang bildeten, als
diese das chinesische Festland an die KPCh verlor, hatte kaum Rechte,
während die Kader der Regierungspartei die privilegierte „politische Klasse“
auf der Insel bildeten. Die einfachen Taiwanesen standen zuerst unter der
Herrschaft der Qing-Dynastie, dann der Japaner und später der Kuomintang.
Ihr jahrzehntelanger entschlossener Widerstand bescherte ihnen schließlich
in den frühen 1990er Jahren eine liberale Demokratie. Ihr Weg in die
Freiheit ist noch nicht abgeschlossen, aber er folgt einem historischen
Modernisierungspfad, der sich stark von dem der Festlandchinesen
unterscheidet, woraus sich ein natürliches Recht auf Selbstbestimmung
ableiten lässt. Die Berücksichtung des Willens der taiwanesischen
Bevölkerung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Lösung der Krise an
der Meerenge. Es ist daher die Pflicht aller Demokraten, Peking daran zu
erinnern, dass das Recht auf Selbstbestimmung ein Grundprinzip jedes
demokratischen Nationalstaats mit heterogener Bevölkerung ist. Dieses Recht
muss nicht zwangsläufig zu einer Abspaltung und zur Gründung einer Vielzahl
von Kleinstaaten führen. Es könnte sogar den Weg für eine demokratische und
freie (Wieder-)Vereinigung zwischen benachbarten Nationen und Ethnien ebnen,
wie uns die bolschewistische Revolution gezeigt hat.

 

In den Augen Pekings sind alle chinesischsprachigen Menschen Untertanen, die
sich ihm fügen müssen. Der Ton legt nahe, dass von den Taiwanesen erwartet
wird, alles gut zu heißen, was Peking ihnen diktiert, und sogar eine
„Umerziehung“ seitens Pekings zu akzeptieren, wie ein chinesischer Diplomat
gegenüber einem französischen Fernsehsender erklärt hat: „Nach der
Wiedervereinigung [mit Taiwan] werden wir eine Umerziehung in Angriff
nehmen“. [7] Das ist die Sprache des Totalitarismus und des Kolonialismus.
Indem Peking die Rechte der Taiwanesen kategorisch verneint, wiederholt es
die Handlungsmuster früherer Despoten auf Taiwan. Diese Politik ist der
sicherste Weg, die immer einflussreicher werdenden zentrifugalen Kräfte an
der Peripherie des chinesischen Festlands und jenseits der Meerenge weiter
zu stärken. Chinesische Nationalisten sollten sich daher folgende Fragen
stellen: Wenn Xi auf seiner kontraproduktiven Politik beharrt, um die Herzen
der Taiwanesen zu erobern, sollten sie ihn dann nicht als Anführer zum
Teufel schicken? Oder verfolgt er mit seiner nationalistischen Propaganda
seine eigenen Interessen, um die absolute Macht zu erlangen?

 

 

IST WASHINGTON DER WAHRE FREUND TAIWANS?

 

Abschließend noch ein Wort zu Washington. Im Moment ist Peking in der
Offensive. Daraus könnte man schließen, Washington wäre Taiwans Verbündeter,
was das gemeinsame Anliegen der Aufrechterhaltung des Status quo betrifft.
Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass Washington ebenso wie Peking
das Selbstbestimmungsrecht Taiwans nie akzeptiert hat. Sollte die
Unabhängigkeitsbewegung Fahrt aufnehmen, ist nicht auszuschließen, dass es
zu einer Konfrontation mit Washington kommt. Gerade wegen der Möglichkeit
eines solchen Szenarios hat sich Washington hinter den Kulissen immer wieder
in die taiwanesischen Wahlen und die öffentliche Meinungsbildung
eingemischt, um die Unabhängigkeitsbewegung unter Kontrolle zu halten.
Unabhängig vom Grad des Erfolgs dieser Bemühungen steht fest, dass die
derzeitige gemeinsame Basis zwischen der taiwanesischen Bevölkerung und
Washington allmählich zu bröckeln beginnt. Noch inszeniert sich Washington
als Freund Taiwans, aber nur, weil das seinem eigenen taktischen Kalkül
entspricht. Aber die strategischen Vorstellungen der USA zur Verteidigung
ihres Imperiums decken sich nicht immer mit den Wünschen der taiwanesischen
Bevölkerung. Erinnert sei an das Jahr 1979, als die Taiwanesen von einer
apokalyptischen Nachricht überrascht wurden: Washington würde Taiwan
aufgeben und stattdessen die VR China anerkennen. Die Behauptung, Washington
sei der wahre Freund Taiwans, ist daher mit Vorsicht zu genießen. 

 

Allerdings ist auch ein völlig anderes Szenario möglich, nämlich, dass
Washington von seiner Ein-China-Politik abgeht und stattdessen aus
machtpolitischen Überlegungen für eine Unabhängigkeit Taiwans eintritt,
selbst wenn Taiwan dafür noch nicht bereit sein sollte.

 

Wie auch immer, die Taiwanesen sind in großer Gefahr, denn sie sind der
unbedeutendste Akteur in diesem großen Wettstreit und können jederzeit von
der einen oder anderen Supermacht bedroht oder fallen gelassen werden. Genau
aus diesem Grund muss sich die internationale Linke die folgende Frage
stellen: Um wen müssen wir uns in dieser Dreiecksbeziehung zwischen Peking,
Taipeh und Washington die größten Sorgen machen? Ich behaupte, dass es weder
Peking noch Washington sind, sondern die Menschen von Taiwan. Wer sich als
links bezeichnet, aber sich weigert, den Unterdrückten die Hand zu reichen
oder ihren rechtmäßigen Platz auf der Welt anzuerkennen, um den „Frieden“
zwischen den beiden Supermächten nicht zu gefährden, verdient es nicht, als
links bezeichnet zu werden. 

 

 

27. Oktober  2022

Übersetzung aus dem Französischen: E. F.

Au Loong-Yu, Aktivist in Borderless Movement (Bewegung ohne Grenzen) in
Hongkong und Mitglied des Redaktionsrats des China Labor Net und des
Globalization Monitor. Er ist der Hauptautor des Buches No Choice but to
Fight: A Documentation of Chinese Battery Women’s Struggle for Health and
Dignity, das in Hongkong veröffentlicht wurde, sowie von China’s Rise:
Strength and Fragility, Merlin Press & Resistance Books & IIRE, 2012.

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 4/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]  Siehe zum Beispiel: CSIS (2017): What Is the U.S. “One China” Policy,
and Why Does it Matter
[https://www.csis.org/analysis/what-us-one-china-policy-and-why-does-it-matt
er]. 

[2]  Es sei darauf hingewiesen, dass die englische Übersetzung zwar
behauptet, die DDP würde eine normative Aussage machen, die Formulierung im
chinesischen Original jedoch zeigt, dass die DDP lediglich den Sachverhalt
darstellt, der den Konsens widerspiegelt („Both parties have a different
interpretation of the term ,China‘.“) Die englische Übersetzung erwähnt
nicht die Namen der beiden Staaten und geht mit der DPP etwas härter ins
Gericht. 

[3]  Der chinesische und der US-amerikanische Präsident führen
Telefongespräche über Taiwan und Tibet (26.03.08), Botschaft der
Volksrepublik China in den Vereinigten Staaten von Amerika (mfa.gov.cn)

[4]  Edgar Snow: Red Star over China: The Classic Account of the Birth of
Chinese Communism, Bantam edition, Grove Press, New York 1978, p. 90.

[5]  Election Study Center, NCCU: “Taiwan Independence vs. Unification with
the Mainland (1994~2022/06)”, zitiert in /Newsweek/ vom 14. Juli 2022
[https://www.newsweek.com/taiwan-china-politics-identity-independence-unific
ation-public-opinion-polling-1724546]. Eine neuere Umfrage vom Dezember 2022
kann auf der Website des ESC-NCCU
[https://esc.nccu.edu.tw/PageDoc/Detail?fid=7801&id=6963] eingesehen werden.

[6]  siehe europe-solidaire.org
[https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article64688]

[7]  Interview mit Lu Shaye, dem chinesischen Botschafter in Frankreich, auf
BFMTV [https://tinyurl.com/3m2dxkxk].

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