[IPK] Chile 1970-1973: Ein revolutionäres Experiment

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Chile:

Ein revolutionäres Experiment
Online unter: https://www.inprekorr.de/624-chile-exp.htm

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Der folgende Text behandelt die Vorgeschichte und die „1000 Tage“ der Unidad
Popular mit ihren Widersprüchen. Er ist als Vorwort zu dem Buch des Autors
/Découvrir la révolution chilienne 1970–1973/, París, Éditions sociales,
2023 erschienen.

 

 

Von Franck Gaudichaud

 

 

Chile, der langgestreckte Landstreifen zwischen Pazifik und Anden, eine Welt
am Ende der Welt, wie es der Schriftsteller Luís Sepúlveda in einer
Erzählung nannte, beleuchtet mit seiner jüngsten Geschichte die Wirren des
20. Jahrhunderts. Nach dem Versuch eines demokratischen Übergangs zum
Sozialismus (1970–1973) erlebte das Land die gewaltsame Errichtung einer
zivil-militärischen Diktatur (1973–1989), die das Aufkommen einer neuen
Weltanschauung vorwegnahm: den Neoliberalismus. Ab 1990 setzte dann eine
langsame und partielle Demokratisierung ein, in der jedoch zahlreiche
autoritäre Relikte und eine brutale sozioökonomische Ungleichheit weiter
bestehen.

 

Fünfzig Jahre sind seit dem Staatsstreich vom 11. September 1973 vergangen.
Die Bilder der brennenden Moneda, des Präsidentenpalastes, der panischen
Blicke der Gefangenen im Nationalstadion in Santiago und der dunklen Brille
von General Pinochet bleiben für immer in unsere Netzhaut und unser
kollektives Gedächtnis eingebrannt. Das chilenische Volk, seine Kämpfe und
sein Widerstand waren in den Herzen und in den Protestkundgebungen vieler
Solidaritätsinitiativen auf der ganzen Welt präsent. Auch heute noch prägen
die Erinnerungen an Unterdrückung, Exil und den Kampf für die Verteidigung
der Menschenrechte unser Bild von diesem Land am Südkegel von Südamerika.
Aber Chile hat nicht nur eine Tragödie erlebt, sondern die frühen 1970er
Jahre waren in erster Linie die Zeit eines außergewöhnlichen, vom Volk
ausgehenden, (prä-) revolutionären Prozesses, der die herrschende Ordnung
erschütterte.

 

 

WIDERSTREIT DER DEUTUNGEN

 

Das Experiment des chilenischen Weges zum Sozialismus dauerte kaum tausend
Tage (von November 1970 bis September 1973), aber es hat das Land, seine
sozialen Beziehungen, seine politischen Vorstellungswelten und seine
Hoffnungen auf eine Zukunft tiefgreifend verändert. Der Wettstreit zwischen
legalistischem und revolutionärem Weg der chilenischen Linken strahlte auf
ganz Lateinamerika aus und rückte Konzepte wie die Verteilung des Reichtums
und die notwendige Verstaatlichung natürlicher Gemeingüter wieder in den
Mittelpunkt der Debatten. Er propagierte die Wiedererlangung der nationalen
Souveränität einer Nation der Dritten Welt gegenüber dem
Yankee-Imperialismus, forderte das Recht auf Entwicklung und Demokratie mit
dem Ziel eines Bruchs mit der herrschenden Ordnung und warf wieder die Frage
auf nach der Rolle des bürgerlichen Staates im Übergang zum Sozialismus.

 

Die Parteien, die ab 1969 die Koalition unter dem Namen Unidad Popular
bildeten, propagierten ein strategisches Vorgehen, das zwar von der
außerparlamentarischen Linken als reformistisch angesehen wurde, aber doch
neuartig sein sollte: auf Wahlen und Institutionen orientiert und ohne
Waffengewalt, zugleich aber auch antikapitalistisch, antiimperialistisch und
sozialistisch. Über die damaligen intensiven Debatten oder die
allgegenwärtige Figur des Präsidenten Salvador Allende hinaus waren es die
einfachen Menschen, die sonst nicht zu hören sind, aber jetzt den Prozess
bestimmten und zu Hauptakteuren dieser aufkommenden Revolution wurden und
deren kreative Energie, die sicherlich voller Widersprüche war, am 11.
September 1973 erstickt wurde.

 

Die Aufarbeitung der Unidad Popular bedeutet, sich intensiv mit der
Geschichte unentwegter und vielfältiger sozialer Kämpfe der Arbeiter*innen,
Bauern, Student*innen und Rechtlosen zu befassen, die plötzlich auf einer
Bühne auftauchten, die bis dahin von einer Oligarchie besetzt war, die es
gewohnt war, Chile zu beherrschen. Das Volk in Bewegung, das in diesen
tausend Tagen von allen Seiten überbordet, hat das Lächeln der Arbeiterinnen
aus der Textilfabrik Yarur, die ihre Fabrik besetzen, es hat den Klang der
Gesänge der Menschen, die dem „Genossen Präsidenten“ auf dem Platz der
Verfassung zujubeln, es lässt eine Volksmacht erahnen, die den
Konzernbesitzer*innen und den rechtsextremen Saboteuren widersteht und es
hat die Radikalität der Mapuche, die den Stacheldraht zerschneiden, um das
Land wieder in Besitz zu nehmen, das ihrem Volk durch die Kolonialisierung
geraubt wurde.

 

Diese Ansätze der Selbstorganisation, auch wenn sie manchmal begrenzt
bleiben, sind das Salz in der Suppe des chilenischen Weges. Sie markieren
jene historischen Momente, in denen alles noch möglich scheint, in denen
Demütigungen, staatliche Gewalt und Ausbeutung beseitigt werden können. Sie
erklären die Ausgelassenheit eines rebellierenden Volkes, die man auf den
Fotografien von Armindo Cardoso oder in den Dokumentarfilmen von Patricio
Guzmán bewundern kann. Und sie sind es mehr als fünf Jahrzehnte später mehr
als wert, dass man einige Fragmente dieser abgewürgten revolutionären
Erfahrung, die ihren Weg nicht zu Ende gehen konnte, wieder hervorholt.
Diese vorantreibende Kraft haftet weiter in den tiefen Windungen des
kollektiven Gedächtnisses im heutigen Chile, erschreckt noch immer die dort
herrschenden Klassen und schlägt sich nieder im schlechten Gewissen der
Linken, die sich dem Zeitgeist angepasst haben. Die Glut dieser wenigen
Monate in der Vergangenheit wird nicht so einfach erlöschen.

 

Diese Erinnerung, oder vielmehr diese widerstreitenden Erinnerungen, haben
sicherlich tiefgehende Veränderungen erfahren, aber auch Aufs und Abs im
Laufe der Jahrzehnte, der Gedenkfeiern und der kulturellen, sozialen und
politischen Mobilisierungen der neuen Generationen. Seit 2019 treibt sich
das Gespenst der Rebellion in Chile wieder um, etwa in Form den
Massenmobilisierungen im Oktober/November des damaligen Jahres, die erneut
die Kordilleren erschütterten und die Hegemonie des neoliberalen
Kapitalismus direkt in Frage stellten.

 

Auch der junge Mitte-Links-Führer Gabriel Boric berief sich auf Salvador
Allende, als er 2021 die Präsidentschaft übernahm, auch wenn seine
sozialliberale Regierung weit von der Radikalität des ehemaligen Präsidenten
entfernt ist. Aber auch die Anhänger*innen von Pinochet und die extreme
Rechte gewinnen in dem Andenstaat überall wieder an Boden. Fünfzig Jahre
nach dem Staatsstreich ist die Rückbesinnung auf die revolutionären Kämpfe
in Chile daher kein nostalgischer Akt kämpferischer Gesinnung oder eine
bloße historiographische Übung.

 

 

UNTERENTWICKLUNG SCHAFFT UNGLEICHHEIT

 

1970 gab es nur knapp neun Millionen Chilen*innen, und die überwiegende
Mehrheit von ihnen lebte in materiell sehr prekären Verhältnissen und in
Armut. Als Land des Bergbaukapitalismus par excellence verfügte das Land
über immense natürliche Reichtümer, darunter die weltweit größten
Kupfervorkommen, die sich mehrheitlich in den Händen von US-amerikanischem
Kapital befanden. Diese Enklavenwirtschaft beinhaltete auch eine
strukturelle Abhängigkeit vom Weltmarkt und stark repressive Klassen-,
Rassen- und Geschlechterverhältnisse, von denen das in wenigen Händen
konzentrierte Handels-, Schifffahrts- und Industriekapital sowie eine
Handvoll Großgrundbesitzer als Erben der neokolonialen Ordnung profitierten.

 

Auf institutioneller Ebene hatte die Heimat der Dichter Vicente Huidobro,
Gabriel Mistral und Pablo Neruda den Ruf einer stabilen Republik, die
angeblich weniger anfällig für Militärputsche sei als ihre Nachbarn. Davon
zeugte, dass die Verfassung über lange Zeiträume hinweg gleichgeblieben war.
Die Eliten sahen darin ein Vorbild inmitten des südamerikanischen
Tohuwabohus, zumal diese Stabilität von den Streitkräften aus angeblichem
Respekt vor der verfassungsmäßigen Ordnung loyal zum Vaterland verteidigt
würde. Der Staat war ein starker, zentralistischer Staat, an dessen Spitze
sich eine weiße und gemischtrassige Oberschicht zusammengeschweißt hatte,
die ab den 1930er Jahren mitunter auch politische Vertreter aus subalternen
Schichten integriert und gewisse soziale Fortschritte zugelassen hat. Dabei
wurden jedoch die Volksaufstände, die das 20. Jahrhundert erschütterten,
militärisch oder staatlich oftmals unterdrückt.

 

Mit der Gründung der Widerstandsgesellschaften (Sociedades de resistencia)
am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeiterbewegung zu einem wichtigen
Faktor in der Politik Chiles. Politisch war sie um zwei große Organisationen
herum organisiert: die 1922 gegründete Kommunistische Partei (KP), eine der
größten in Lateinamerika, und die Sozialistische Partei (PS), die 1933 als
Sammelpartei gegründet wurde, in der verschiedene Strömungen, darunter
Reformisten, Trotzkisten und Guevaristen, zu finden waren. Als Teil der
Volksfront (1938–1947) unter Führung der (bürgerlichen) Radikalen Partei
machten beide Parteien ihre ersten Erfahrungen mit der Staatspolitik.

 

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts versuchen diese parteipolitischen Kräfte,
Arbeiterkämpfe und institutionelle Politik unter einen Hut zu kriegen. Einer
ihrer prägenden Repräsentanten, Luis Emilio Recabarren (Gründer der
Sozialistischen Arbeiterpartei – POS), vertrat diese Politik sein ganzes
Leben lang und sah die Wahlen auch als eine Tribüne zur „Erziehung der
Klasse“. Ab den 1950er Jahren wurde das Vorhaben konkret, die Macht um eine
kommunistisch-sozialistische Achse herum an den Wahlurnen zu erobern. Diese
Taktik fand auch in der Gewerkschaftsbewegung ihren Niederschlag: 1953 wurde
die mächtige Central Unitaria de Trabajadores (Einheitszentrale der
Arbeiter, CUT) gegründet, in der PS und KP neben einer zunehmend stärkeren
Christdemokratie (DC) die Mehrheit bildeten. Diese breiten Bündnisse waren
jedoch ständig von Turbulenzen erschüttert, die durch phasenweise
Repressionen oder gar des Parteiverbote (wie im Fall der KP, die zwischen
1948 und 1958 in den Untergrund gehen musste) noch verstärkt wurden.

 

Trotz des starken Gewichts der Oligarchie lassen die chilenische Republik
und ihr kompromissorientierter Staat, der aus der Verfassung von 1925
hervorgegangen ist, institutionellen Spielraum. Das Parteiensystem gliedert
sich um drei bei den Wahlen etwa gleich starke Blöcke: die sozialistische
und kommunistische Linke, die konservative Rechte um die Nationale Partei
(ab 1966) und das seit seiner Gründung 1957 erstarkende christdemokratische
Zentrum.

 

Die revolutionäre Linke war mit der institutionellen und parlamentarischen
Orientierung natürlich nicht einverstanden. Während die anarchistischen und
libertären Bewegungen seit den 1920er Jahren an Gewicht verloren,
kritisierten mehrere kleinere Strömungen, wie revolutionäre Christen,
Trotzkisten und ab den 1960er Jahren auch Maoisten und Guevaristen, die
reformistische und elektoralistische Ausrichtung der großen Parteien. Die
Gründung der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) im Jahr 1965, die
anfangs eine hybride Strategie vertrat, einerseits für die permanente
Revolution (beeinflusst von Trotzkisten), andererseits für den verlängerten
und irregulären Volkskrieg (nahe am Guevarismus), spiegelte die
Radikalisierung von Gewerkschafter*innen, Arbeiter*innen, Intellektuellen
und Student*innen wider. Sie argumentierten, dass der Bruch nicht nur mit
dem Imperialismus, sondern auch mit der Bourgeoisie und ihrem Staatsapparat
erfolgen müsse, wobei sie sich auch an den revolutionären Prozessen in
Lateinamerika orientierten.

 

Ende der 1960er Jahre, mitten im Kalten Krieg, scheiterte die
christdemokratische Regierung (1964–1970), die unter dem Motto „Revolution
in Freiheit“ angetreten war und von der Kennedy-Regierung tatkräftig
unterstützt wurde. Das versprochene Wachstum der Industrie blieb aus und die
Repression begann wieder. Die organisierte Arbeiterklasse, die Kleinbauern,
die Jugend und die Armen in den Städten (Pobladores) forderten
substantiellere Veränderungen. Das Scheitern der populistischen Politik der
Christdemokraten (DC) ebnete den Weg für die Linke: 1969 wurde offiziell die
Unidad Popular (UP) gegründet. Diese Koalition wurde von der KP und der PS,
aber auch von weiten Teilen der christlichen Linken getragen.

 

Deren Führer war der sozialistische Arzt und Freimaurer Salvador Allende,
der bereits dreimal für die Präsidentschaft kandidiert hatte (1952, 1958,
1964). Der 1908 geborene Mitbegründer der PS und gewiefte Parlamentarier (er
war zwischen 1964 und 1969 Präsident des Senats) sowie ehemalige
Gesundheitsminister der Volksfront bekannte sich zum Marxismus. Er war ein
Bewunderer von Fidel Castro, glaubte jedoch fest daran, dass man eine
Revolution auf legale und gewaltfreie Weise durchführen und dabei die
politische Tradition Chiles wahren könne. In Anlehnung an Joan Garcés,
seinen engen Berater, vertrat Allende einen „politischen und
institutionellen“ Übergang zum Sozialismus, der stetig und unter Wahrung der
Verfassung von 1925 erfolgen sollte. Er setzte darauf, dass der Staat
flexibel genug sei und – als Grundvoraussetzung – dass die Streitkräfte den
Ausgang der allgemeinen Wahlen respektieren würden.

 

 

DIE BLÜTEZEIT …

 

Die Entstehung der neuen Einheit der Linken verlief nicht reibungslos. Sie
ging auf die Volksaktionsfront (Frente de Acción Popular, FRAP) zurück, die
seit den 1950er Jahren versuchte, die Kräfte zu vereinen, die „bereit sind,
für ein antiimperialistisches, antioligarchisches und antifeudales Programm
zu kämpfen“. Infolge der Ausstrahlung der kubanischen Revolution auf den
ganzen Kontinent glaubte ein Teil der Linken, insbesondere der
sozialistischen, dass ein solches Programm nicht ausreiche und dass es sich
zu eng an der von den Kommunisten eisern verfochtenen Etappentheorie einer
Revolution anlehne: erst gegen die Oligarchie, dann im Bündnis mit Teilen
der nationalen Bourgeoisie und zuletzt sozialistisch.

 

Andererseits war die strategische Debatte über die Wege zum Sozialismus und
zur Emanzipation von Washingtons Bevormundung noch lange nicht entschieden.
Bewaffneter Weg oder legaler Weg? Politisch-militärische Konfrontation mit
dem Staatsapparat oder Sieg bei den Wahlen auf der Grundlage der
Volksbewegung? Santiago ist nicht Havanna und das Chile von 1970 hat nicht
die Batista-Diktatur erlebt: Der unbewaffnete Weg erschien demnach als eine
plausible Perspektive. Diese Position wurde von den Kommunisten und mit
ihnen von der UdSSR vertreten, die darin einen Ausfluss ihrer Politik der
globalen friedlichen Koexistenz (bestehend aus einer Aufteilung der Welt
zwischen Kapitalismus und sozialistischem Lager) sah. Andererseits
überzeugte die Tatsache, dass Allende im Begriff war, die Wahlen von 1958
gegen den konservativen Jorge Alessandri zu gewinnen, einen großen Teil der
Parteikader.

 

Im September 1970 gewann Salvador Allende nach einem sehr dynamischen
Wahlkampf die Präsidentschaftswahlen mit 36,6 % der Stimmen gegen den
christdemokratischen Kandidaten Rodomiro Tomic mit 28 % und den
rechtskonservativen Kandidaten Jorge Alessandri mit 35,2 %. Da die
Verfassung nur einen Wahlgang vorsieht, oblag es dem Kongress, in
Ermangelung einer absoluten Mehrheit zwischen den beiden führenden
Kandidaten zu entscheiden. Das Ergebnis der Linken weckte große Hoffnungen,
zeigte aber auch die Schwierigkeiten, die einer UP mit einer Minderheit im
Parlament bevorstanden. [1] Allende musste sofort eine Reihe von
„Demokratieversprechen“ mit der DC aushandeln und im Gegenzug für seine
Kandidatur stabile Institutionen garantieren. Dieses Streben nach
Vereinbarungen mit der politischen Mitte war ein ständiges Thema während der
tausend Tage und belastete die Reformfähigkeit der Exekutive.

 

Das Programm der UP und die darin versprochenen vierzig Sofortmaßnahmen
zielten auf eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, eine mutige
Inangriffnahme der Umverteilung des Reichtums und von Lohnerhöhungen, die
Vertiefung der Agrarreform und die Kontrolle der wichtigsten nationalen
Ressourcen ab. Die Enteignung der in den Händen des ausländischen Kapitals
liegenden Kupferminen, die Verstaatlichung mehrerer Dutzend Monopolkonzerne
und der wichtigsten Banken sollte die Schaffung eines Sektors
gesellschaftlichen Eigentums (APS) ermöglichen, auch wenn die Wirtschaft
weiterhin mehrheitlich privat bleiben würde. In einem ganz eigenen System
sollten die Arbeiter*innen die Unternehmen des öffentlichen Sektors
mitverwalten.

 

Das Land erlebte ein wahrhaft revolutionäres Klima in verschiedenen sozialen
Bereichen: Streiks und Besetzungen von Grundstücken und Fabriken nahmen
sprunghaft zu, was der Linken zugutekam. Bei den Kommunalwahlen im April
1971 erhielt die Unidad Popular fast 50 % der Stimmen. Allende und das
Politische Komitee der UP fragten sich, ob es nicht an der Zeit sei, den
Kongress aufzulösen, neue Parlamentswahlen auszurufen und ein Referendum für
eine neue Verfassung einzuleiten, die die Vergesellschaftung eines Teils der
Produktionsmittel und die Einrichtung einer einzigen Parlamentskammer
vorsah. Aber die KP war zurückhaltend und auch der Präsident zögerte. Die
Chance wurde somit vertan.

 

Die Politik der Exekutive tangierte direkt die Interessen der
Großbourgeoisie, das Vorantreiben der Agrarreform zerstörte die Macht der
Großgrundbesitzer und die Verstaatlichung der Kupferminen (1971) wurde von
den USA heftig bekämpft. Allende behauptete sich obendrein als
internationaler Führer der blockfreien Länder, verteidigte das Recht der
Kolonialländer auf Emanzipation mit allen Mitteln und prangerte den
Imperialismus und das Weltfinanzsystem scharf an. Nach der kubanischen
Revolution fürchteten die USA einen Dominoeffekt der kubanischen Revolution
in ihrem eigenen Hinterhof. Ab 1969 versuchten die CIA und die US-Botschaft
aktiv, den politischen Höhenflug von Allende zu verhindern, sogar mit
Gewalt.

 

In der Folge machte sich die Rechte mit lautstarker und vehementer
Unterstützung aus Washington daran, den politischen und sozialen Block, der
die Regierung stützte, zu zerschlagen, und suchte Kontakt zu den
reaktionären Sektoren der Streitkräfte. Die Attentate der rechtsextremen
Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit, PyL) häuften sich, und auf die
Christdemokratische Partei wurde ständiger Druck ausgeübt, bis sie 1972 in
die Frontalopposition ging. Indessen verfolgte das Großkapital eine Taktik
des Wirtschaftsboykotts, die verheerende Folgen hatte. Die konservativen
Medien, die bei diesem Vorgehen eine wichtige Rolle spielten, warnten
ständig vor einer „marxistischen Diktatur“. Dieser Dauerbeschuss schnürte
die Linke nach und nach ein, während die explodierende Inflation, der
internationale Boykott und die Expansion des Schwarzmarktes die städtischen
Mittelschichten von der Arbeiterbewegung entfremdeten. Eingesperrt in eine
staatliche Zwangsjacke, die ihr keine Luft mehr zum Atmen ließ, geriet die
UP zunehmend in die Defensive und gab die Initiative aus der Hand.

 

 

… UND IHR TRAGISCHES ENDE

 

Vor diesem Hintergrund spaltete sich die Linkskoalition schnell in einen
gemäßigten Flügel (von Historikern als gradualistisch eingestuft), der von
den Kommunisten und Allende angeführt wurde, und einen radikalen Flügel, der
von einem Teil der Sozialistischen Partei und den Revolutionären Christen
angeführt wurde, die zum kompromisslosen Vorgehen aufriefen und die
kritische Unterstützung des MIR (unter der Führung von Miguel Enríquez)
erhielten. Letztere prangerten den drohenden Staatsstreich und die Sackgasse
des Legalismus an und forderten dringend eine entschlossene
verfassunggebende Versammlung und die raschere Enteignung der Produktions-
und Vertriebsmittel, um sie in den Dienst des Volkes zu stellen.

 

Diese Forderung kam von der Volksversammlung von Concepción, die im Juli
1972 verschiedene linke soziale und politische Organisationen vereinte, um
den konterrevolutionären Charakter des Parlaments anzuprangern. Allende und
die KP kritisierten umgehend die Verblendung und das Abenteurertum dieser
Resolution, und es dauerte nicht lange, bis die politische Polarisierung
auch die Straßen erreichte. Die Regierung schien mit dem Ausmaß des
Klassenkonflikts überrollt zu werden. Der von konservativen Frauen
organisierte „Marsch der leeren Töpfe“, gefolgt von dem großen Streik für
höhere Löhne der Bergarbeiter der Kupfermine El Teniente, der von der DC
geschickt gegen die Exekutive instrumentalisiert wurde, zeigte, dass die
Marxist*innen keine Monopolstellung in den Massenbewegungen hatten. Auch ein
Teil der Arbeiterbewegung war über das Programm der UP hinausgegangen.

 

Jeder Aufstandsversuch der Rechten oder Streik der Bosse wurde mit einer
Vervielfachung der Formen der Selbstorganisation, der Direktversorgung und
der Arbeiterkontrolle beantwortet, insbesondere im Oktober 1972 und im Juni
1973. Die Macht des Volkes wurde zur Realität, und es entstanden neue
Organisationen wie die Cordones industriales in den proletarischen Vierteln
der großen Städte. Diese cordones weigerten sich, die besetzten Fabriken
zurückzugeben, kritisierten die Unentschlossenheit und Halbherzigkeit der
Regierung und schufen neue territoriale Koordinationen, ohne auf Befehle der
CUT zu warten, auch wenn die Mehrheit von ihnen der UP treu blieb: der
Genosse Präsident war weiterhin ihr Präsident. Auf dem Land blühten die
wilden Landbesetzungen, die vom MIR angefacht wurden. Im kulturellen Bereich
war die Revolution überall präsent: in der Musik und in den Liedern, in der
Malerei und im Kino, an den Wänden und in den Unternehmen.

 

In Ermangelung einer einheitlichen Führung und in der Überzeugung, dass das
Militär im Großen und Ganzen verfassungstreu war, glaubte die Regierung bis
zuletzt, einen Bürgerkrieg vermeiden und gleichzeitig die Macht des Volkes
auf legalistische Konzepte lenken zu können. Ab November 1972 wurden
hochrangige Offiziere in verschiedene Ministerien integriert. Die Versetzung
von General Prats, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, in das Innen- und
später in das Verteidigungsministerium, beruhigte die Bevölkerung. Sein
Einsatz war entscheidend für die Niederschlagung des Aufstands eines
Panzerregiments im Juni 1973. Der revolutionäre Prozess schien in einer
doppelten strategischen Sackgasse gefangen zu sein: dem institutionellen Weg
zum Sozialismus, der völlig undurchführbar geworden war, und dem vom MIR
vorgeschlagenen Weg, der minoritär blieb und sich kaum über eine im
Wesentlichen politisch-militärische und avantgardistische Konzeption
hinausging. Dazwischen schimmern bis heute die Ansätze der Volksmacht und
der Cordones industriales als eine unvollendete Revolution von unten durch,
die durch die historischen Umstände und den starken Gegenwind gebremst
wurde.

 

Am Morgen des 11. September 1973 revoltierte mit ausdrücklicher
Unterstützung der Nixon-Regierung ein Viertel der Offiziere. Unter ihnen
befand sich Augusto Pinochet, der einige Wochen zuvor von Allende zum Chef
der Streitkräfte ernannt worden war, weil er den Ruf eines Legalisten hatte.
Die Linke stand dem waffenlos gegenüber und war nicht in der Lage,
Widerstand zu organisieren, ebenso wenig wie die Cordones industriales.
Anstatt sich den Verrätern im Generalsrang zu ergeben, beging Allende in
seinem von Kampfjets bombardierten und von Soldaten umstellten
Präsidentenpalast Selbstmord.

 

Der Kampf um Chile nahm ein dramatisches Ende. Gestützt auf den
national-konservativen Katholizismus und die Doktrin der nationalen
Sicherheit und mit der Operation Condor auf regionaler Ebene hob das
Militärregime das Parlament auf, verbot die politischen Parteien,
unterdrückte die Gewerkschaften, verhängte den Belagerungszustand und eine
Zensur. Der Staatsterrorismus richtete sich gegen das „marxistische
Krebsgeschwür“, das aus der Gesellschaft „rausgeschnitten“ werden müsse,
insbesondere gegen die Arbeiterklasse und die Aktivist*innen. In den 16
Jahren der Diktatur folterten die Streitkräfte und die politische Polizei
Zehntausende von Menschen und ermordeten mehr als 3200, von denen mehr als
tausend bis heute als Häftlinge verschwunden sind (ihre Leichen wurden nie
gefunden). Hunderttausende von Menschen wurden ins Exil gezwungen. Nach 1975
kamen zu diesen Zeiten der sozialen Verrohung auch die Zeiten einer
Schocktherapie hinzu: eine veritable kapitalistische Konterrevolution
verwandelte Chile in das weltweit erste Experimentfeld des Neoliberalismus.

 

 

Übersetzung: MiWe

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

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[1]  Bei den Parlamentswahlen im März 1969 erhielten die Linken (KP und PS)
37 Abgeordnete (von 150) und 7 Senatoren (von 30), während die Radikale
Partei 24 Abgeordnete und 5 Senatoren stellte. Die Christdemokraten
verfügten über 56 Abgeordnete und 12 Senatoren und bestätigten damit ihre
parlamentarische Dominanz.

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