[IPK] Krieg im Gazastreifen: Es droht eine Verschärfung der ethnischen Säuberung

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So Okt 22 16:41:51 CEST 2023


Palästina:

Krieg im Gazastreifen: Es droht eine Verschärfung der ethnischen Säuberung
Online unter: https://www.inprekorr.de/624-pal-db.htm

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Was Hamas und Djihad am 7. Oktober gestartet haben, war nicht nur aus
ethischen Gründen (Tötung und Geiselnahme von Zivilist:innen) verwerflich,
sondern hat auch im Kampf um die Emanzipation der palästinensischen
Bevölkerung ein beispielloses Desaster zur Folge.

 

 

Von Daniel Berger

 

 

Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Aktion sind zum gegenwärtigen
Zeitpunkt (20.10.) noch gar nicht absehbar: Bislang zählte man 1300 getötete
Israelis, die meisten davon Zivilist:innen, und mehr als 2500 getötete
Palästinenser:innen, von dem Leid der Verwundeten, der Flüchtenden innerhalb
des Gazastreifens und den Zerstörungen von Häusern noch gar nicht zu reden.

 

Dass so etwas zu erwarten war, ergab sich nicht nur aus den jahrzehntelangen
Erfahrungen mit israelischer Politik (man schaue nur auf den zwei Jahre
zurückliegenden letzten Gazakrieg mit 13 getöteten Israelis und 248
getöteten Palästinenser:innen sowie 34 000 Menschen im Gazastreifen, deren
Häuser zerstört wurden). Die jetzt zu erwartende Reaktion ergab sich auch
aus der Tatsache, dass die Herrschenden in Israel sich zu keinem Zeitpunkt
von der Dahija-Doktrin verabschiedet haben. Mit dieser Form asymmetrischer
Kriegführung beschießt die israelische Armee Städte, aus denen heraus ein
Angriff auf die israelische Armee erfolgt war, ganz gleich, wie viele
Zivilist*innen dabei getötet oder verletzt werden.

 

Zwar wird in dem aktuellen Zusammenhang die israelische Regierung von 80 bis
85 Prozent der Bevölkerung scharf kritisiert, aber das bezieht sich nur auf
die mangelnde militärische Abwehrbereitschaft an der Grenze zum Gazastreifen
vor dem 7. Oktober. Dies ist keine Kritik an der israelischen Staatsdoktrin,
also der Apartheidpolitik im 1948er Gebiet und der Unterdrückung und
Vertreibung in den besetzten Gebieten. Im Gegenteil: Auf diesem für
Palästinenser:innen so wichtigen politischen Feld ist die israelische
Gesellschaft mit diesem Anschlag noch weiter nach rechts gerückt. Und da die
israelische Regierung aufgrund der geopolitischen Interessen des Westens auf
dessen volle Unterstützung bauen kann, nutzt die Regierung die Ereignisse
vom 7. Oktober dafür, die Politik der ethnischen Säuberung auf eine neue
Stufe zu heben. Offen ausgedrückt hat dies der israelische
Verteidigungsminister.

 

Die Absperrung der Versorgungsleitungen, die anhaltenden Bombardierungen und
das Behindern von Hilfslieferungen sind hier vorläufig nur die ersten
Schritte. Zeitgleich laufen ähnliche Maßnahmen im Westjordanland, wo die
Bewegungsfreiheit noch mehr als sonst eingeschränkt wurde. Im Rahmen einer
solchen Politik der Blockade ist die israelische Armee noch nicht mal auf
eine Bodenoffensive angewiesen, zumal dies auch für israelische Soldaten
verlustreich sein kann, was allerdings nicht heißt, dass sie nicht
stattfinden wird.

 

Gideon Levy [1] schrieb unmittelbar nach der Aktion vom 7. Oktober in
/Haaretz/: "Die Grausamkeiten gegen israelische Zivilisten sind Ergebnis und
Spiegelbild der jahrzehntelang erfahrenen Unterdrückung und Entmenschlichung
des palästinensischen Volkes, Resultat aufgestauter Frustration und Wut."
[2]

 

 

VERMITTELN ODER ANHEIZEN?

 

Neben der palästinensischen Zivilbevölkerung haben am ehesten die arabischen
Nachbarländer ein Interesse an einer Vermittlungslösung, denn diese Regimes
haben Angst, weil sie in den Augen ihrer jeweiligen Bevölkerung die
Palästinenser:innen sich selbst überlassen. Dies gilt nicht nur für die
unmittelbaren Nachbarländer, sondern auch für die Staaten, die die
sogenannten Abraham Accords geschlossen haben, also diplomatische
Beziehungen mit Israel aufgenommen haben (Bahrein, VAR, Sudan u. Marokko).
Dass Quatar die Hamas kräftig unterstützt hat, liegt einzig und allein
daran, dass sich das dortige Regime Druckmittel besorgen wollte (und besorgt
hat!), um sich als regionaler Player zu etablieren.

 

Die westlichen Staaten wollen zwar einen Flächenbrand verhindern, können
aber nicht als ehrliche Makler auftreten. Zu offensichtlich unterstützen sie
politisch und mit Waffenlieferungen die israelische Politik. So verschließen
sie seit Jahren ihre Augen gegenüber der ständig brutaler werdenden
Siedlungspolitik im Westjordanland. Dort wird der Landraub vorangetrieben,
werden ständig weitere Siedlungen gebaut und die Bewegungsfreiheit der
palästinensischen Bevölkerung weiter eingeschränkt. Nicht nur die Siedler
werden immer rabiater, auch die Armee kann ungestraft Menschen erschießen.
Die Ermordung der Journalistin Abu Akle ist nur ein weithin bekannt
gewordenes Beispiel [3]. Es gehört offensichtlich zur "deutschen
Staatsräson", all dies mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels abzutun.

 

Die Bewaffnung Israels mit modernsten Kampfbombern durch die USA ist die
materielle Grundlage dafür, dass dieses Regime seit Jahrzehnten straflos
Syrien und den Libanon bombardieren kann. Aber auch die deutsche Regierung
liefert Waffen und könnte sich sogar sehr direkt mitschuldig machen an der
Ermordung von Palästinenser:innen und an der ethnischen Säuberung, wie der
israelische Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever deutlich macht
[https://www.nachdenkseiten.de/?p=105280].

 

 

ETHNISIERUNG VON KONFLIKTEN

 

Seit Jahren schon ist eine Umdeutung vieler Konflikte als ethnisch motiviert
festzustellen. Wenn sich jemand bei uns gegen die Unterdrückung der
palästinensischen Bevölkerung wendet wird, wird er/sie gleich des
Antisemitismus verdächtigt. Wenn demnach jemand Gerechtigkeit für die
Palästinenser:innen fordert, dann tut er/sie das nur weil er/sie
Palästinenser ist. Antisemit ist er/sie aber so oder so. Es ist
unerträglich, zu sehen, wie die Preisverleihung für die palästinensische
Autorin Shibli verschoben wird, einfach nur deswegen, weil sie eben
Palästinenserin ist. Oder wenn dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek
Antisemitismus vorgeworfen wird, obwohl er doch nur ganz zaghaft die
Einhaltung von Menschenrechten auch für Palästinenser:innen anmahnt. 

 

Umgekehrt allerdings wird ein Schuh daraus. Die kritiklose Unterstützung
aller israelischen Regierungen (und seien sie noch so rechtsradikal) durch
die deutsche Regierung fördert den Rassismus, den Antisemitismus und die
diversen Verschwörungstheorien. Das Ausbuhen von Slavoj Žižek [4] auf der
Buchmesse, die Einschränkung des Versammlungsrechts, die Diffamierung
jeglicher Kritik an Israel als Antisemitismus, all dies sind die Früchte der
"deutschen Staatsräson".

 

Wegducken, auf die Wahrnehmung demokratischer Rechte verzichten oder gar dem
ideologischen Druck nachgeben und Palästinenser:innen zu Menschen zweiter
oder dritter Klasse zu erklären - egal ob in Israel/Palästina oder bei uns -
kann keine Alternative sein. Aufstehen für ungeteilte Menschenrechte, gegen
Ausbeutung und Unterdrückung ist das Gebot der Stunde.

 

 

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 6/2023 

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Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]  G. Levy erhielt 2003 den Leipziger Medienpreis wegen seines Eintretens
für Pressefreiheit im Nahen Osten.

[2] Und am 9.10. schrieb er ebenfalls in /Haaretz/: "Behind all this lies
Israeli arrogance; the idea that we can do whatever we like, that we'll
never pay the price and be punished for it. We'll carry on undisturbed.
We'll arrest, kill, harass, dispossess and protect the settlers busy with
their pogroms. We'll visit Joseph's Tomb, Othniel's Tomb and Joshua's Altar
in the Palestinian territories, and of course the Temple Mount - over 5,000
Jews on Sukkot alone. We'll fire at innocent people, take out people's eyes
and smash their faces, expel, confiscate, rob, grab people from their beds,
carry out ethnic cleansing and of course continue with the unbelievable
siege of the Gaza Strip, and everything will be all right."

[3]  Abu Akle war klar mit der Aufschrift "Presse" gekennzeichnet und wurde
offensichtlich von israelischen Soldaten in den Kopf geschossen. Dann
behauptete die IDF, Palästinenser hätten sie erschossen. Etliche Zeugen
sagen aber aus, dass keinerlei Schusswechsel stattgefunden hatte. Der Fall
wurde nie offiziell und unabhängig aufgeklärt. Selbst die USA durften den
Mord nicht untersuchen, obwohl Abu Akle auch die US-Staatsbürgerschaft
besaß. Palästinensische Experten wiesen nach, dass es sich um israelische
Munition handelte

[4] "Aber ich habe etwas Merkwürdiges festgestellt: Sobald man anfängt, den
komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man verdächtigt,
den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Ist uns
klar, wie merkwürdig dieses Analyseverbot ist? In welche Gesellschaft gehört
ein solches Verbot?" (Aus der Rede von Slavoj Žižek auf der Frankfurter
Buchmesse
[https://www.telepolis.de/features/Slavoj-Zizek-auf-der-Buchmesse-Wenn-schon
-eine-Frage-zu-den-Palaestinensern-fuer-Tumult-sorgt-9337705.html].)

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