[IPK] Gaza-Krieg: Auf der Suche nach Orientierung

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Fr Apr 26 13:35:30 CEST 2024


Dossier Gaza-Krieg:

Auf der Suche nach Orientierung
Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-ba.htm

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Der Angriff palästinensischer Milizen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober
stellt für Palästinenser:innen wie Israelis einen markanten Einschnitt dar,
wird aber völlig unterschiedlich erlebt.

 

 

Von Birgit Althaler

 

 

Viele Palästinenser*innen sehen sich unabhängig von Religion oder
politischer Überzeugung als Teil des Kollektivs, das zu einem mutigen
Befreiungsschlag aus Isolation und Perspektivlosigkeit ausgeholt hat. Gaza
stand bereits vor dem Überfall für die Kontinuität der Nakba, ein
jahrzehntelanges Trauma und für einen von der Weltöffentlichkeit
unbeachteten schleichenden Genozid. Die Reaktion Israels bestärkt sie darin,
jenem Volk anzugehören, das mit allen Mitteln vertrieben und seiner
legitimen Rechte beraubt wird. Einem Volk, das in vielen westlichen Ländern
auf taube Ohren, wenn nicht Feindseligkeit und Repression stößt, wenn es die
eigene Unrechtserfahrung zur Sprache bringt, wie die Kulturwissenschaftlerin
Sarah El Bulbeisi in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)
schreibt.

 

Die Israelis wurden vom Überfall völlig unvorbereitet getroffen und an
eigene Traumata aus der jüdischen Geschichte erinnert. Der Angriff zerstörte
die Illusion, dank militärischer Überlegenheit und Duldung der
Staatengemeinschaft ein koloniales Unrechtsregimes aufrechterhalten und sich
trotzdem in relativer Sicherheit wiegen zu können. Bezeichnenderweise war in
Israel die Realität der Besatzung letztes Jahr in den Protesten gegen die
Aushebelung einer unabhängigen Justiz kaum ein Thema. Doch wie die für die
Rückkehr der Flüchtlinge eintretende NGO Zochrot treffend schreibt, ist
niemand sicher, solange nicht alle sicher sind. „Die Sicherheit der Israelis
kann nicht von der Unterdrückung und Enteignung der Palästinenser*innen
abhängen.“

 

Neben Betroffenheit und Trauer über die Toten, Verletzten, Verschleppten,
Flüchtenden, um ihr Überleben Kämpfenden setzte unmittelbar ein Ringen um
die politische und moralische Einordnung der Ereignisse an. Wer verurteilt
wen? Wer gibt wem die Schuld? Was genau ist vorgefallen? Wo liegt Versagen,
wo Kalkül vor? Welcher Druck, welche Solidarität sind gefordert?

 

Allein die Einbettung der Ereignisse in den historischen Kontext wurde
anfänglich, allen voran von zionistischen Linken, als verwerflich
skandalisiert. Viele Palästinenser*innen beklagen zudem den entwürdigenden
Umstand, dass sie ungeachtet ihrer eigenen Verluste jeweils zuerst
israelische Opfer betrauern und sich von der Hamas distanzieren müssen,
bevor sie als legitime Gesprächspartner*innen akzeptiert werden. Der Vorwurf
mangelnder Empathie mit jüdischen Opfern wurde zum politischen Druckmittel.
Das Insistieren auf der angeblich „beispiellosen“ Brutalität
palästinensischer Milizen reiht sich ein in die palästinensische Erfahrung
von Dehumanisierung und Entrechtung. Der Historiker Ilan Pappé weist darauf
hin, dass selbst von sogenannt progressiven Kreisen eine Sprache verwendet
wird, die „Israel immunisiert und nicht zulässt, dass der palästinensische
antikoloniale Kampf gerechtfertigt, akzeptiert und legitimiert wird“. Umso
wichtiger sei es, die Ereignisse in die Praxis zionistischer Politik der
Eliminierung der Palästinenser*innen einzuordnen.

 

Unbestrittenermaßen war der Überfall von Gewalt und Völkerrechtsverletzungen
begleitet. Palästinensische NGOs wie Adalah und antizionistische
Solidaritätsgruppen weltweit haben dies verurteilt und doch den Kontext
jahrzehntelanger Unterdrückung und das Recht auf Widerstand benannt. Die
Frage angemessener „Verurteilung“ insbesondere der Hamas wird aber
eingesetzt, um den Palästinenser*innen das Recht auf Selbstbestimmung,
aktives Handeln und Widerstand gegen Apartheid und Besatzung – auch mit
gewaltfreien Mitteln – abzusprechen. Dieses Vorgehen kritisiert die Gruppe
Jüdisch Antikolonial und sieht darin die Behauptung gestützt, „dass der
Hauptgrund für mit Palästina solidarische Positionen nicht linke Visionen
und der Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit, sondern Islamismus oder
Antisemitismus seien“.

 

Eine der wertvollen Stimmen der ersten Tage war der Traumaforscher Gabor
Maté, der als Kind selbst Verfolgung erfahren hat. Auch er verurteilt die
Gewalt palästinensischer Milizen gegen Zivilpersonen, betont aber ebenso
klar die Unvergleichbarkeit der Machtverhältnisse, der Gewalterfahrungen und
damit der Verantwortung zwischen israelischer und palästinensischer Seite.
Emotionen wie Trauer, Wut, Angst, Entsetzen Raum zu geben, sei wichtig,
rechtfertige aber nicht unreguliertes Sprechen und Handeln. Essenziell für
eine Friedensvision sei die Bereitschaft, die Erfahrungen der andren Seite
zu verstehen. In Momenten, wo das Gefühl dominiert, unverstanden oder
bedroht zu sein, ist dies eine schwierige Aufgabe. Von dieser Fähigkeit
zeugt die israelische Journalistin Amira Hass, die im Gazastreifen viele
Gräueltaten der israelischen Armee dokumentiert hat. In einer
Podiumsdiskussion Mitte Oktober bekennt sie, dass das Schweigen
palästinensischer Freunde zu den israelischen Opfern sie schmerze. Es lehre
sie aber auch, so sehr sie die palästinensische Gesellschaft kenne, das
enorme Ausmaß ihrer Unterdrückung unterschätzt oder nicht erfasst zu haben.

 

Bleibt das Thema Gewalt. Das Völkerrecht legitimiert Widerstand gegen eine
Besatzungsmacht auch mit Waffengewalt, schreibt aber zwingend die
Unterscheidung von Zivilpersonen und Kombattant*innen vor. Damit ist noch
nichts über Sinnhaftigkeit und Moralität des bewaffneten Kampfs gesagt. Der
Politologe Gilbert Achcar unterstreicht die Bedeutung moralischer
Überlegenheit, die Unterdrückte im Kampf gegen ihrer Unterdrücker*innen
geltend machen können. David Finkel warnt davor, den Angriff als Fortschritt
für den Widerstand und den Befreiungskampf zu interpretieren: „Die
Anerkennung des Grundrechts unterdrückter Völker auf Widerstand, auch mit
Waffen, entbindet nicht von der Verantwortung, die Methoden und die Politik
der Kräfte zu analysieren, die in ihrem Namen handeln.“ Der Journalist Ali
Abunimah betont dagegen 2021 in einem Artikel zur Gewalt palästinensischer
Widerstandsgruppen, es gebe keine moralische Gleichwertigkeit zwischen einem
kolonisierten Volk, das mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sein
anerkanntes Recht auf Widerstand ausübt, und […] Israel, das seine
ausgefeilte Rüstungstechnologie einsetze, um die palästinensische
Bevölkerung zu terrorisieren und zu unterwerfen. Er zitiert aus Nelson
Mandelas Der lange Weg zur Freiheit: „Es ist immer der Unterdrücker, nicht
der Unterdrückte, der die Form des Kampfes diktiert. Wenn der Unterdrücker
Gewalt anwendet, haben die Unterdrückten keine andere Möglichkeit, als mit
Gewalt zu antworten. In unserem Fall war es eine legitime Form der
Selbstverteidigung. … Es liegt an euch, nicht an uns, auf Gewalt zu
verzichten.“

 

Priorität gegenüber all diesen Erwägungen, die nicht den Anspruch haben,
abschließend zu sein, hat aktuell jedenfalls die Durchsetzung eines
sofortigen dauerhaften Waffenstillstands, um das laufende Gemetzel und
Zerstörungswerk im Gazastreifen zu stoppen. Die Bedingungen für ein freies
Palästina sind längerfristig auszuhandeln. Für fortschrittliche Kräfte
beinhaltet das zweifellos die Vision einer säkularen, gleichberechtigten,
gemischt ethnisch-religiösen Gesellschaft, wie sie das Denken der
palästinensischen Befreiungsbewegungen über Jahrzehnte geprägt hat. 

 

 

aus: Palästina-Info Winter 2023/2024 

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 3/2024 

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