[IPK] Gaza-Krieg: Zusammenstehen gegen Krieg und Rassismus

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Fr Apr 26 13:37:46 CEST 2024


Dossier Gaza-Krieg:

Zusammenstehen gegen Krieg und Rassismus
Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-uw.htm

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Trotz des immensen Drucks durch die Regierung und weite Teile der
israelischen Gesellschaft kommt es in Israel immer wieder zu Mobilisierungen
gegen den Gazakrieg und die Apartheid gegenüber der palästinensischen
Bevölkerung. Das Interview mit *Uri Weltmann* wurde am 24. Dezember 2023 von
*Federico Fuentes* für das australische Magazin/ LINKS International Journal
of Socialist Renewal /geführt.

 

 

Interview mit Uri Weltmann

 

 

 

?? Wie wird Israels Krieg gegen den Gazastreifen nach mehr als zwei Monaten
Krieg und steigenden Opferzahlen von der israelischen Gesellschaft
wahrgenommen? Und wie haben die Israelis auf das Vorgehen von
Premierminister Benjamin Netanjahu seit dem 7. Oktober reagiert?

 

Der 7. Oktober war ein schrecklicher Moment für die israelische
Gesellschaft. Der brutale Angriff der Hamas auf Städte und Dörfer – bei dem
Zivilisten, darunter Kinder und ältere Menschen, in ihren Häusern ermordet
und 240 Israelis als Geiseln genommen wurden – hat unsere Gesellschaft
schockiert und in Trauer und Wut versetzt. Daher hat der Krieg in der
israelischen Öffentlichkeit breite Unterstützung gefunden und Netanjahus
Behauptung, dass es dabei darum gehe, „die Hamas-Herrschaft zu stürzen“,
wurde von den meisten Kommentatoren und Politikern nicht in Frage gestellt.

 

Mehr als zwei Monate nach Beginn des Krieges wächst jedoch die
Unzufriedenheit mit Netanjahus Politik. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage
des Israelischen Instituts für Demokratie zeigt, dass zwei Drittel der
Israelis glauben, die Regierung habe keinen klaren Plan für den Tag nach dem
Krieg. Eine große Mehrheit ist auch der Meinung, dass nach dem Krieg
vorgezogene Wahlen abgehalten werden sollten. Meinungsumfragen gehen davon
aus, dass die regierende Likud-Partei bei einer solchen Wahl ein Drittel
ihrer Sitze verlieren würde und dass die Parteien in Netanjahus
rechtsextremer Koalition ihre Mehrheit in der Knesset verlieren würden.

 

Diese Unzufriedenheit äußert sich vor allem auf der Straße in Form einer
wachsenden Protestbewegung, die von den Familien und Freunden der in Gaza
gefangen gehaltenen israelischen Geiseln angeführt wird. Sie fordern
Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen, das den Geiseln die
Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen würde. Etwa 130 Geiseln befinden sich
noch im Gazastreifen, darunter ältere Bürger, die medizinische Hilfe
benötigen, und sogar Kinder, darunter ein 11 Monate altes Baby.

 

Die Proteste dieser Familien werden von breiten Schichten der israelischen
Gesellschaft unterstützt, obwohl sie die Regierung scharf kritisieren. Im
ganzen Land sind deswegen Zehntausende auf die Straße gegangen und haben
maßgeblich dafür gesorgt, dass die Regierung in das
Waffenstillstandsabkommen im November einwilligen musste und weiterhin unter
Druck gesetzt wird, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.

 

Dabei spielt sicher eine Rolle, dass es in den ersten zehn Monaten des
Jahres 2023, also im Vorfeld des Krieges, in Israel eine
Massenprotestbewegung gegen die von Netanjahu geplante Justizreform gab, die
es seiner Regierung ermöglicht hätte, durch die Ernennung von Richtern und
die Beschneidung demokratischer Freiheiten mehr Macht in ihren Händen zu
konzentrieren. Auch wenn diese Proteste nach dem 7. Oktober so nicht mehr
weitergeführt wurden, haben sie doch für eine allgemeine Ablehnung gegenüber
der Regierung Netanjahu gesorgt.

 

 

?? Standing Together hat in ganz Israel jüdisch-arabische
Solidaritätskundgebungen organisiert. Außerdem hat Standing Together die
„jüdisch-arabischen Solidaritätswachen“ ins Leben gerufen, die in
Konfliktfällen deeskalieren sollen. Was gibt es über diese Initiativen und
die Resonanz darauf zu erzählen?

 

An jeder unserer jüdisch-arabischen Solidaritätskundgebungen in Städten in
ganz Israel haben Hunderte von Menschen teilgenommen, trotz der Versuche von
Rechtsextremisten, Druck auf die Vermieter der von uns gemieteten
Veranstaltungssäle auszuüben, damit sie ihre Zusage zurückziehen. Auf diesen
Kundgebungen sprachen jüdische und arabische Vertreter von Standing
Together, die sich für den israelisch-palästinensischen Frieden, die
Beendigung der Besatzung und der rassistischen Hexenjagd gegen
palästinensische Bürger Israels, die öffentlich gegen die Ungerechtigkeiten
des Krieges auftreten, einsetzten.

 

Unser öffentlich vorgetragenes Anliegen ist die volle Gleichberechtigung –
als Personen und Nation – für die palästinensischen Bürger*innen Israels
sowie der Widerstand gegen den schrecklichen menschlichen Tribut, den der
Krieg gegen Gaza unter den unschuldigen Zivilist*innen fordert. Wir tun dies
nicht von außen, sondern mitten aus der Gesellschaft heraus, mit tiefem
Mitgefühl für unsere Freunde, Verwandten, Mitarbeiter und Partner, die am 7.
Oktober bei dem ungerechtfertigten und unvertretbaren Terrorangriff der
Hamas auf Zivilisten ihre Angehörigen verloren haben.

 

Die bisher größte Kundgebung fand in Haifa statt, wo 700 Menschen
teilnahmen. Rechtsradikale übten Druck aus, um uns daran zu hindern, unsere
Kundgebung in einer Veranstaltungshalle abzuhalten, also gingen wir in die
Moschee im Stadtteil Kababir in Haifa. Für mich persönlich war es das erste
Mal, dass ich eine politische Veranstaltung in einer Moschee organisierte.
Dennoch kamen Hunderte von jüdischen und arabisch-palästinensischen
Einwohnern von Haifa! […]

 

Standing Together hat außerdem im ganzen Land lokale Gruppen gegründet, die
sich Jüdisch-Arabische Solidaritätsnetzwerke oder Jüdisch-Arabische
Solidaritätswachen nennen, um gewappnet zu sein, da die politische Führung
des israelischen Staates die jüdischen gegen die palästinensischen
Bürger*innen aufwiegelt. Itamar Ben-Gvir – der radikalste unter den
nationalistischen Hardlinern, der jemals an einer israelischen Regierung
beteiligt war – gibt offen zu, ein Szenario wie im Mai 2021 entfachen zu
wollen. Er hat Waffen verteilt und dazu aufgefordert, lokale Milizen in
großen gemischten Städten wie Yafa, Haifa, Akko und Lyd zu bilden. Dies ist
eine sehr gefährliche Entwicklung.

 

Anstatt die Hände in den Schoß zu legen und der Rechten die Initiative zu
überlassen, diese gefährliche Entwicklung voranzutreiben, haben wir von
Standing Together zusammen mit anderen Partnern vor Ort gearbeitet und diese
Solidaritätsnetzwerke aufgebaut, um jüdische und arabische Einwohner aus
verschiedenen Vierteln derselben Stadt oder benachbarter Städte
zusammenzubringen, um Solidarität und gegenseitige Hilfe zu leisten und
Gleichheit und Antirassismus im öffentlichen Raum zu fördern.

 

Die Solidaritätswache hat auch eine Hotline eingerichtet, die von
Freiwilligen betrieben wird und bei der Menschen um Hilfe bitten können. Wir
bekämpfen Rassismus und Diskriminierung und unterstützen arabische Bürger,
die an ihrem Arbeitsplatz oder in höheren Bildungsstätten diskriminiert oder
schikaniert werden. Wir haben auch rassistische und Gewalt verherrlichende
Aufrufe aus dem öffentlichen Raum entfernt und andere aufgestellt, die zu
Frieden und Solidarität aufrufen.

 

Einige unserer Gruppen waren mit staatlichen Repressionen konfrontiert.
Aktivisten von Standing Together in Westjerusalem, sowohl Juden als auch
Palästinenser, wurden von der Polizei verhaftet, weil sie Plakate aufgehängt
hatten, auf denen stand: „Juden und Araber, wir werden das gemeinsam
durchstehen“. Dies zeigt das momentane Ausmaß der Volksverhetzung in Israel.

 

 

?? Die Ereignisse der letzten Wochen haben viele zu dem Schluss veranlasst,
dass die Option einer Zwei-Staaten-Lösung vom Tisch ist. Wie sieht Standing
Together das Thema Ein-Staaten- vs. Zwei-Staaten-Lösung und wie wirkt sich
dieser Krieg darauf aus?

 

Alle Diskussionen über die Zukunft dieses Landes müssen auf einer ganz
grundlegenden Prämisse aufbauen: Es gibt Millionen jüdischer Israelis in
diesem Land, und keiner von ihnen wird fortziehen, ebenso wenig wie die
Millionen arabischer Palästinenser in diesem Land. Diese Prämisse sollte der
Eckpfeiler jeder ernsthaften Diskussion darüber sein, wie der
jahrzehntelange gewaltsame nationale Konflikt beendet werden kann.

 

Dies ist nicht die Auffassung des israelischen politischen Establishments,
das in den letzten zwanzig Jahren das Konzept der „Konfliktbewältigung“
vertreten hat. Dieses Paradigma, das jedoch am 7. Oktober völlig gescheitert
ist, besagt, dass die Lösung der palästinensischen Frage nicht dringlich ist
und dass Israel weiterhin seine Militärherrschaft über Millionen von
Palästinensern im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen
aufrechterhalten kann, die keine Staatsbürgerschaft haben und denen
grundlegende Menschenrechte verweigert werden.

 

Das israelische politische Establishment ist der Ansicht, dass gelegentliche
Gewaltausbrüche zwar bedauerlich sind, aber nur lokal und ephemer auftreten
werden und dazwischen Jahre der „Normalität“ liegen. Dies ist nicht nur
Netanjahus Meinung, sondern auch die seiner politischen Gegner innerhalb des
Establishments, wie z. B. Naftali Bennet, der, bevor er Premierminister
wurde, sagte, der israelisch-palästinensische Konflikt könne nicht gelöst
werden, sondern müsse ertragen werden, wie ein „Schrapnell im Hintern“.

 

Der 7. Oktober hat gezeigt, dass – wie gesagt – dieses Konzept der
„Konfliktbewältigung“ gescheitert ist. Jeder Gedanke an eine ewige
Militärherrschaft über die Millionen von Palästinenser*innen in den
besetzten Gebieten ist zum Scheitern verurteilt und führt zu weiterer Gewalt
und untergräbt zudem die Sicherheit sowohl der Palästinenser als auch der
Israelis.

 

Das palästinensische Volk wird nicht bereit sein, auf sein Recht auf
nationale Selbstbestimmung in einem eigenen Staat zu verzichten. Unter den
gegebenen Kräfteverhältnissen besteht daher die Wahl zwischen der
Zwangsumsiedlung von Millionen Palästinensern, die damit erneut zu
Flüchtlingen werden (eine Option, die von einigen im israelischen
Establishment nicht ausgeschlossen wird), der physischen Vernichtung eines
ganzen Volkes (wovon einige ultranationalistische Politiker offen sprechen)
oder der Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Souveränität und
Unabhängigkeit.

 

Diese letzte Option ist eine Schreckensvision für die israelische Rechte.
Die von Bezalel Smotrich geführte Partei des religiösen Zionismus ließ
kürzlich ein riesiges Plakat an der Ayalon-Autobahn im Zentrum von Tel Aviv
aufstellen mit der Aufschrift „Die Palästinensische Autonomiebehörde =
Hamas“.

 

Sie wissen, dass nach dem 7. Oktober immer mehr Stimmen laut werden, die
vertreten, dass eine Rückkehr zum Status quo ante bellum unmöglich ist und
dass die Verhandlungen mit der PLO im Hinblick auf eine diplomatische Lösung
wieder angedacht werden müssen, vor allem, wenn die Mitte-Links-Parteien
eine Mehrheit in der Knesset erreichen, wie es die Meinungsumfragen
nahelegen.

 

Standing Together setzt sich für das Recht beider Völker in unserem Land
ein, in Frieden, Sicherheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit zu leben, und
unterstützt die Forderung nach einer Wiederaufnahme der Gespräche mit der
PLO, um ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen zu erreichen.
Sowohl die Hamas als auch der Likud leugnen das Recht des jeweils anderen
Volkes auf ein Leben in Frieden und Sicherheit. Wir stellen uns dagegen und
auf die Seite der Menschen in diesem Land, die eine sichere Zukunft
verdienen.

 

 

Uri Weltmann ist nationaler Organisator von Standing Together. 

Übersetzung: MiWe

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 3/2024 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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