[IPK] Gaza-Krieg: Die "Staatsräson" gerät zur Farce

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So Apr 28 20:23:33 CEST 2024


Dossier Gaza-Krieg:

Die „Staatsräson“ gerät zur Farce
Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-ms.htm

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Während sich die Unterdrückung von Solidarität für Palästina in jedem Sektor
des Lebens etabliert, wird das liberale Selbstbild des Staates immer mehr zu
einer Geschichte, die nur Deutsche sich selbst erzählen können.

 

 

Von Michael Sappir

 

 

Nach den vielen Jahren, in denen der Raum für Solidarität mit Palästina
immer kleiner wurde, dürfte es nur wenige Beobachter überrascht haben, wie
rigoros der deutsche Staat nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und dem
darauf folgenden Angriff Israels auf den Gazastreifen gegen die
Meinungsfreiheit vorgegangen ist. Die Aufregung jedoch, die um das
prestigeträchtige internationale Berliner Filmfestival Ende Februar herum
aufbrandete, beförderte die Absurdität von Deutschlands
Pro-Israel-Fanatismus in ganz neue Höhen.

 

Sowohl der Palästinenser Basel Adra als auch der Israeli Yuval Abraham –
beide seit vielen Jahren als Autoren für /+972 Magazine/
[https://www.972mag.com] und /Local Call/
[https://www.972mag.com/introducing-local-call-972-magazines-sister-site-in-
hebrew/] tätig – wurden von deutschen Politikern lauthals überkritisch
niedergemacht, nachdem ihr Film „No Other Land“
[https://www.berlinale.de/en/2024/programme/202409761.html] (Kein anderes
Land) bei den Filmtagen von der Jury die Auszeichnung „Beste Dokumentation“
erhalten hatte und der Film auch den Publikumspreis in dieser Kategorie
einheimste. Die beiden Aktivisten sind zwei der vier Co-Regisseure und auch
selbst Akteure des Films. Sie benutzten ihre Dankesreden als Plattform, um
Israels gewalttätige Unterdrückung der Palästinenser und Deutschlands
Komplizenschaft im Krieg gegen Gaza aufzuzeigen.

 

Als Reaktion auf Adras und Abrahams Worte, die sich in den sozialen Medien
mit Windeseile verbreiteten, beschuldigte Berlins Bürgermeister Kai Wegner
von der konservativen CDU die beiden der Verbreitung „nicht tolerierbarer
Relativierungen“ und des „Antisemitismus“. Deutschlands
Kulturstaatsministerin Claudia Roth erklärte, sie hätte nur für den
„jüdischen Israeli …, der sich für eine politische Lösung und eine
friedliche Koexistenz in der Region ausgesprochen hatte“ applaudiert – aber
anscheinend nicht für seinen palästinensischen Kollegen, der sich für genau
das Gleiche ausgesprochen hatte. Dieser selektive Applaus wirkte umso
bizarrer, als Abraham in seiner Rede ja gerade speziell kritisch über die
unterschiedliche Behandlung sprach, die ihm und Adra unter Israels
Apartheitssystem zuteil wird.

 

Solche öffentlichen Beschuldigungen sind in Deutschland mittlerweile zur
Regel geworden, genau wie die unweigerlich folgenden Rufe nach verschärfter
Zensur sowie Drohungen, Finanzierungen zu entziehen. Diese Atmosphäre
allgemeiner Verdächtigungen ballt sich inzwischen immer mehr zu einer
dunklen Wolke zusammen, die die berühmte pulsierende internationale
Kulturszene des Landes zu ersticken droht.

 

Es gibt nur wenige Anlässe, bei denen die Beschuldigten so berühmt und die
Anschuldigungen so absurd sind, dass sie international Aufmerksamkeit
erregen, aber genau solche Skandale müssten der Welt eine Warnung sein –
sowohl was Deutschlands eigenen illiberalen Weg betrifft als auch was die
Gefahren angeht, die drohen, wenn israelfreundliche Politik in der
Öffentlichkeit erzwungen wird.

 

 

DRAKONISCHE VERBOTE

 

Direkt nach dem 7. Oktober verhängte Deutschland ein fast totales Verbot von
pro-palästinensischen Protesten. Die wenigen (aufgrund ihrer geringen Größe
oder opportunen Inhalte) genehmigten oder trotz des Verbotes stattfindenden
Demonstrationen wurden zumeist von der Polizei aufgelöst, einige
[https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-hunderte-menschen-vers
ammeln-sich-fuer-pro-palaestina-demo-am-potsdamer-platz-100.html] auch mit
Gewalt.

 

Als alarmierend muss auch dieser Vorfall gesehen werden: Als Berliner Eltern
einen Protest gegen Gewalt in Schulen organisierten, nachdem dokumentiert
worden war, dass ein Lehrer einen Schüler, der eine Palästina-Flagge trug,
körperlich angegangen war … wurde auch dieser Protest verboten und von der
Polizei aufgelöst.

 

Zur gleichen Zeit, und gerade als Israel die erste Phase seines von Rache
getriebenen Bombardements auf Gaza entfesselte, während israelische
Führungspersonen sich in Genozid-Rhetorik übten, ergingen sich deutsche
Behörden  in überschäumenden Unterstützungsbezeugungen für Israel, allen
voran die Vorsitzenden sämtlicher großen politischen Parteien. In ganz
Deutschland erließen Behörden drakonische Verbote von Reden und Symbolen mit
pro-palästinensischem Hintergrund.

 

In Berlin, einer Stadt, in der die größte palästinensische Diaspora Europas
zu Hause ist, verbot die Polizei sogar die uralte Parole „From the river to
the sea, Palestine will be free“ (Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei
sein). Selbst bei Variationen wie „From the river to the sea, we demand
equality“ (Vom Fluss bis zum Meer fordern wir Gleichheit) setzte die Polizei
das Verbot durch
[https://www.sueddeutsche.de/politik/demonstrationen-berlin-tausende-teilneh
mer-bei-propalaestinensischer-demo-in-berlin-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101
-231104-99-819180], und laut Augenzeugen ging sie sogar gegen ein Plakat
vor, auf dem nur die rudimentären Worte „From the — to the —,“ zu sehen
waren. Anfang November, als die Bundesregierung die Hamas in Deutschland für
gesetzlich verboten
[https://www.sueddeutsche.de/politik/nahostkonflikt-palaestina-demos-parole-
verbot-1.6301624] erklärte, wurde „From the river to the sea“ als verbotene
Parole der Organisation definiert, und zwar in jeder Sprache und
gleichgültig, was auf diese Worte folgte.

 

In der Praxis erfolgte die Durchsetzung jedoch auf unglaublich einseitige
Weise. Ein aus dem Dezember stammendes Video
[https://twitter.com/RashadAlhindi/status/1735298142545809514] zeigt, wie
Pro-Israel-Demonstranten an der Berliner Humboldt-Universität eine
israelische Flagge hochhielten und spöttisch skandierten: „From the river to
the sea, that’s the only flag you’re gonna see.“ (Vom Fluss bis zum Meer ist
das die einzige Flagge die ihr sehen werdet.) Der unbekannte Kameramann geht
zu Polizisten und fordert sie auf, gegen die verbotene Parole vorzugehen.
Die Polizei weigert sich jedoch mit der Aussage, dass diese Parole zulässig
sei.

 

Praktisch vertraten deutsche Behörden die Position, dass Unterstützung für
Palästinenser als Unterstützung von blindwütiger Gewalt gegen Israelis
angesehen werden müsste. Darüber hinaus stellten sie sich ausdrücklich
hinter die Ansicht, dass der Ruf nach einem Ende des Krieges gleichbedeutend
sei mit der Weigerung, Israel das Recht zuzugestehen, sich angesichts
solcher Angriffe zu verteidigen.

 

Dementsprechend wurden nicht nur explizit pro-palästinensische Proteste
aufgelöst, nein, die Polizei unterdrückte auch oftmals Rufe nach
„Waffenstillstand“ oder „Stoppt den Krieg“. Und als Reaktion auf Südafrikas
Klage vor dem internationalen Gerichtshof mit der Anschuldigung, dass Israel
in Gaza Völkermord begehe, erklärte die deutsche Regierung umgehend, dass
„diese Anklage jeglicher Grundlage entbehrt“. Desweiteren haben Behörden
innerhalb Deutschlands oft damit gedroht, die Wiederholung dieser
Anschuldigung als Hassrede zu behandeln.

 

 

SYMPATHIE REICHT SCHON AUS

 

Nachdem sich die Behörden mit starkem Widerstand in Berlins Straßen und auch
zunehmenden juristischen Problemen bezüglich des pauschalen Verbots von
Demonstrationen konfrontiert sahen, lockerten die Verantwortlichen im
November und Dezember Schritt um Schritt die Auflagen und ließen schließlich
Antikriegs- und pro-palästinensische Demonstrationen zu. Solche Proteste
finden seither regelmäßig in vielen deutschen Städten statt. Andere Formen
der Unterdrückung gibt es jedoch auch weiterhin unvermindert, ein
jahrelanger diesbezüglicher Trend setzt sich ungehindert und immer
intensiver fort.

 

Im Jahr 2019 verabschiedete der Bundestag eine rechtlich nicht verbindliche
Anti-BDS-Resolution. Darin werden Institutionen aufgefordert, niemandem eine
Plattform zur Verfügung zu stellen, der auch nur im Entferntesten mit der
Boykott-Bewegung in Verbindung stehen könnte. Diese Art, Menschen zum
Schweigen zu bringen, die sowohl durch Zensur als auch durch Selbstzensur
immer wirkungsvoller wurde, erfuhr nach den Ereignissen des 7. Oktober
direkt einen ungeheuren Schub.

 

Das Ergebnis war, dass Künstler, Journalisten und Akademiker, die sich gegen
Israel aussprachen, ihre Jobs verloren, dass eine Veranstaltung nach der
anderen abgesagt wurde und dass die Möglichkeiten für freie Debatten und
Meinungsäußerungen seither in atemberaubendem Tempo immer mehr verschwinden.
Die davon betroffenen Veranstaltungen haben dabei meistens gar nichts direkt
mit Israel und Palästina zu tun. Es reicht völlig, wenn einer der
Eingeladenen Sympathie mit Palästinensern bekundet hat.

 

Sehr häufig kommen diese drastischen Maßnahmen, einschließlich fristloser
Kündigungen, erst zum Einsatz, nachdem Dinge, die eine bestimmte Person in
den sozialen Medien gepostet hat, von pro-israelischen Aktivisten oder
Journalisten im großen Rahmen veröffentlicht und so zu einem Skandal
aufgebauscht werden. Seit dem 7. Oktober wurden viele Posts, die sich mit
der Gewalt im Gaza-Streifen befassen, dieser öffentlichen Empörung
preisgegeben. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass sich derlei Skandale auf
viele jahrealten „Beweise“ stützten, wie Unterschriften
[https://www.sueddeutsche.de/bayern/theater-augsburg-warner-muss-sich-gegen-
antisemitismus-vorwuerfe-wehren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240115-99-62
1229] unter offenen Briefen
[https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/laurie-anderson-tritt-folkw
ang-professur-nicht-an-19477836.html] und Petitionen, einschließlich
solcher, die lediglich die Anti-BDS-Resolution als Bedrohung der freien
Meinungsäußerung kritisieren.

 

Die Diaspora Alliance [https://diasporaalliance.co/], eine internationale
Gruppe, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus und dessen
Instrumentalisierung verschrieben hat, ist solchen Fällen nachgegangen. Und
das war der Anlass, warum ich im November damit begann, bei diesen
Nachforschungen mitzuhelfen und darüber zu schreiben. Allein zwischen dem 7.
und dem 31. Oktober haben wir 25 Fälle dokumentiert. Das sind fast so viele
wie die 28 Fälle, die in den neun Monaten vor Beginn des Krieges
dokumentiert wurden.

 

Einer der ersten Vorfälle, durch den die Eskalation dieses Zwangs zum
Schweigen deutlich wird, ereignete sich am 8. Oktober. Malcolm Ohanwe, ein
schwarzer deutsch-palästinensischer Journalist, brachte in einem
Twitter-Thread
[https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/was-erwarten-leute-bayeri
scher-rundfunk-trennt-sich-von-malcolm-ohanwe-li.2147143] den Angriff vom 7.
Oktober mit der Jahrzehnte währenden israelischen Besetzung und Belagerung
von Gaza und der Unterdrückung palästinensischer Proteste in Zusammenhang.
Obwohl der Thread in keiner Weise Gewalt verherrlichte, wurde ein solcher
Kontext bereits als ausreichender Grund für eine Bestrafung erachtet, was
dazu führte, dass die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt Arte sofort und
öffentlich alle Verbindungen mit Ohanwe kappte.

 

Etwas später im selben Monat feuerte der Axel-Springer-Verlag einen
Nachwuchsjournalisten, weil dieser intern Fragen zur pro-israelischen
Politik des Verlagshauses stellte. Der Bundesliga-Club Mainz 05 reagierte
mit sofortiger Suspendierung
[https://www.spiegel.de/sport/fussball/mainz-05-stellt-anwar-el-ghazi-nach-a
ntiisraelischem-beitrag-frei-a-8fc39a7a-117e-4611-89d7-3de39b369f7f] eines
seiner Spieler (und hob wenig später den Vertrag dieses Spielers komplett
auf), weil er auf Instagram „From the river to the sea, Palestine will be
free“ gepostet hatte, ein Post, den er inzwischen gelöscht hat. An die
Öffentlichkeit gelangte dieses Posting durch die Bild-Zeitung, die zu dem
gerade genannten Verlagshaus Axel Springer gehört.

 

Ebenfalls im Oktober musste die schleswig-holsteinische Staatssekretärin
[unter anderem] für Integration ihre Pflichten ruhen
[https://www.kn-online.de/schleswig-holstein/toure-setzt-staatssekretaerin-n
ach-aerger-um-instagram-post-vor-die-tuer-OOLCFVHABZBPRNV4WAEGWJRYYU.html]
lassen (und um Entlassung bitten), da sie einen Post geteilt hatte, in dem
sowohl die Hamas als auch die israelische Okkupation verurteilt wurden.

 

 

VORSICHT, SONST …

 

Denunziation und Paranoia haben einen solchen Umfang angenommen, dass sie so
gut wie jeden Lebensbereich in Deutschland beeinflussen. Das schließt auch
die Wissenschaft mit ein – die ja eigentlich eine Bastion der freien
Meinungsäußerung sein sollte –, denn das Max Planck Institut z. B. feuerte
im Februar den renommierten Anthropologen Ghassan Hage [1]. Die illiberale
Entwicklung hat aber vor allem auch Deutschlands Kulturszene stark
erschüttert, denn jetzt ist nicht nur die Karriere von Einzelnen in Gefahr,
nein, ganze Institutionen sind gefährdet.

 

Im Laufe des Oktobers erlebten Sänger, Künstler, Publizisten, Aktivisten,
Akademiker und DJs, wie ihre Vorstellungen, Museumsgespräche, Ausstellungen,
Gedichtbandvorstellungen und Konferenzen abgesetzt oder Interviewzusagen
zurückgezogen wurden. Einigen wurden überhaupt keine spezifischen
Anklagepunkte mitgeteilt, wie z. B. als eine Preisverleihung an die
palästinensische Autorin Adania Shibli, die anlässlich der Frankfurter
Buchmesse stattfinden sollte, einfach auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.

 

Die Absagen, Ausladungen und auch Kündigungen erfolgten den ganzen November
über in rascher Reihenfolge, fast jeden Tag wurde ein neuer Fall bekannt.
Zwar hat die Intensität solcher Geschehnisse seither abgenommen, trotzdem
vergeht keine Woche, in der nicht eine weitere Geschichte über Aggressivität
und Mobbing ans Licht kommt.

 

So enthüllte
[https://www.facebook.com/mohammadshawky/posts/pfbid02DHoKSCba4hadjsSm9swPWe
Ex8pB6NA1GCUHAotrgb1qMdAQCRDC1hwkJsP1FW91Vl] z. B. der ägyptische
Filmemacher Mohammad Shawky Hassan, dass zur selben Zeit wie der
Berlinale-Skandal eine Berliner Galerie von ihm gefordert hatte, dass er,
bevor er als Teil einer Gruppenausstellung arabische Schriftzeichen an einer
Wand anbringen konnte, erst eine Übersetzung des geplanten Textes beibringen
sollte, damit dieser von der Galerie und deren „Kooperationspartnern“
geprüft werden könnte. Die Direktion der Galerie rechtfertigte die
Überprüfung der Übersetzung damit, dass sie von der Stadtverwaltung als
Voraussetzung einer finanziellen Unterstützung durch die Stadt gefordert
worden sei.

 

Im November hatten inzwischen sämtliche Mitglieder der Findungskommission
für die künstlerische Leitung der nächsten Ausgabe der Weltkunstausstellung
(„documenta“), die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, ihren Rücktritt
erklärt: Einer ihrer Kollegen war zum Rücktritt gezwungen worden, nachdem
die /Süddeutsche Zeitung/ ihn ob seiner Unterschrift unter einer Petition im
Jahr 2019 des Antisemitismus bezichtigte. Das Chaos der letztjährigen
Documenta, die ins Zentrum eines gigantischen antisemitischen Skandals
geraten war, wirkt auch jetzt noch unvermindert nach: Noch immer konnte
keine neue Findungskommission für die für den Sommer 2027 geplante nächste
Ausgabe der Ausstellung vorgestellt werden.

 

Inzwischen wurde die Biennale für aktuelle Fotografie 2024 in der
Metropolregion Rhein-Neckar komplett abgesagt, weil der Vorstand der
Biennale Anstoß an Postings eines Kurators in den sozialen Medien genommen
hatte. In der Pressemitteilung, in der die Absage verkündet wurde, sagten
die Veranstalter, dass dadurch die Zukunft der seit nunmehr zwei Jahrzehnten
stattfindenden Veranstaltung gefährdet würde.

 

Das besonders Erschreckende an dieser Angelegenheit ist: Die
Zurverfügungstellung einer Plattform für jüdische Kritiker am Staat Israel
wird von deutschen Politikern als Freibrief genommen, kulturellen
Institutionen zu drohen. So erging es z. B. Oyoun, einem von Migranten
geleiteten Kulturzentrum, das sich weigerte, dem politischen Druck
nachzugeben und die Jubiläumsveranstaltung zum 20. Jahrestag der jüdischen
Antizionistengruppe „Jüdische Stimme“ im November abzusagen. Berlins Senator
für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Joe Chialo, beendete den
Vertrag der Stadtverwaltung mit dem Zentrum, dem er „verborgenen
Antisemitismus“ vorwarf, wodurch Oyoun praktisch arbeitsunfähig wurde.

 

Dieses gefährliche Narrativ nahmen einige deutsche Politiker, vor allem
solche aus der Mitte-Rechts-Partei FDP, zum Anlass, zukünftige öffentliche
Finanzierungen für die Berlinale in Frage
[https://fdp-brandenburg.de/2024/antisemitismus-muss-geaechtet-und-nicht-gef
oerdert-werden-streichung-der-oeffentlichen-berlinale-foerderung/] zu
stellen. Sie bezogen sich dabei sowohl auf den Skandal um Abraham und Adra
als auch darauf, dass einige weitere Künstler die Bühnen des Filmfests
genutzt hatten, um ihre Solidarität mit Palästinensern zu erklären.

 

Großzügige finanzielle Unterstützung für Kunst und Kultur durch den Staat
wurde lange Zeit als wichtiger Teil der Bewahrung einer demokratischen
Gesellschaft in Deutschland angesehen. Aber während in der Verfassung eine
große Bandbreite an künstlerischer Freiheit garantiert wird, sind
Kultureinrichtungen an sich von finanziellen Zuwendungen aus der
öffentlichen Hand abhängig. Politiker wiederum können sehr effektiv mit
einer Streichung dieser Finanzierungen drohen, wodurch die
Kultureinrichtungen einem starkem Konformitätsdruck ausgesetzt sind. Auch
ohne formelle, die künstlerische Freiheit einschränkende Regeln
signalisieren solche Dinge Direktoren und Kuratoren, dass sie vorsichtig
agieren müssen, sonst …

 

 

LEGITIMIERUNG VON FREMDENFEINDLICHKEIT 

 

Während dieser Kaskade an zunehmender Zensur proklamierten deutsche Behörden
und Politiker*innen immer wieder dasselbe grundlegende Motiv: den Kampf
gegen Antisemitismus als Teil der historischen deutschen Verantwortung nach
dem Holocaust.

 

Aber während große Bereiche des politischen Spektrums des Landes willens
sind, derartige behördliche Interventionen zur Aufrechterhaltung des
Zionismus zu akzeptieren und sie sogar unterstützen, wird immer deutlicher
sichtbar, wie diese Aktionen unterschwellig auf all jene abzielen, die in
Deutschland als Ausländer betrachtet werden. Dabei handelt es sich vor allem
um Menschen, die aus Ländern mit muslimischer Mehrheit und anderen Ländern
des Globalen Südens stammen.

 

In den letzten Monaten hat die deutsche Regierung eine
„Abschiebungsoffensive“ auf den Weg gebracht, anscheinend als Antwort auf
die seit Jahren ständig zunehmende Migranten-feindliche Hysterie, die einen
Nährboden für die aufsteigende extreme Rechte bereitstellt. Eine ihrer
Rechtfertigungen war das Gespenst vom „importierten Antisemitismus“. Dieser
Ausdruck bezieht sich auf von Neuankömmlingen, vor allem aus dem Nahen
Osten, geäußertes antiisraelisches Gedankengut.

 

Diese Politik der Unterstützung Israels, die Migranten als Quelle von
Antisemitismus in Deutschland dämonisiert, vereint die extreme Rechte mit
der Rechten, der Mitte und signifikanten Teilen der Linken. Damit wird der
so wichtige Kampf gegen Bigotterie in eine legitimierte Ideologie der
Fremdenfeindlichkeit verwandelt. Und wenn das dann darin mündet, dass
jüdische Menschen direkt zu Schaden kommen, ist die Absurdität des Ganzen
nicht mehr zu übersehen.

 

Als der auf die Berlinale folgende wütende Protest dazu führte, dass
Israelis aus dem extrem rechten Lager das Haus von Yuval Abrahams Familie in
Israel angriffen, schrieb Abraham in einem von Millionen gelesenen Tweet
[https://twitter.com/yuval_abraham/status/1762558886207209838], wie
schändlich es ist, dass deutsche Politiker Hass gegen jüdische Kritiker
Israels schüren, einschließlich gegen Nachkommen von Holocaust-Überlebenden
wie ihn selbst. Aber da Deutschland seinen „Kampf gegen Antisemitismus“ im
Verlauf des letzten Jahrzehnts verschärft hat, ist es inzwischen schon fast
zu einer alarmierenden Normalität geworden, dass eingeladene ausländische
Gäste, sogar jüdische Gäste, von Deutschen im Namen dieses „Kampfes“ Opfer
einer vernichtenden Kritik werden.

 

Deutsche Behörden haben diese Agenda immer mehr institutionalisiert und auf
allen Regierungsebenen „Antisemitismus-Beauftragte“ ernannt. Doch wie die
gefeierte jüdische russisch-amerikanische Schriftstellerin Masha Gessen
Anfang November in einem Essay
[https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holoc
aust] im auflagenstarken /The New Yorker /schrieb, sind die meisten dieser
Beauftragten keine Juden – aber viele ihrer Angriffsziele sind Juden.
Tatsächlich hatte, wie von der Diaspora Alliance dokumentiert, fast ein
Viertel aller Fälle von Zensur und Absage im Jahr 2023 Juden zum Ziel.

 

Gerade mal einen Monat nach ihrem Essay im /New Yorker/ wurde Gessen Teil
genau dieser Statistik. Eine große pro-israelische Gruppe, die zum Teil vom
deutschen Außenministerium finanziert wird, stieß sich
[https://www.zeit.de/news/2023-12/13/hannah-arendt-preis-an-masha-gessen-kri
tik] an einem Vergleich, den Gessens Essay zwischen Gaza und von Nazis
eingerichteten Ghettos zog. Die Gruppe drang erfolgreich auf die Absage
[https://www.zeit.de/news/2023-12/13/hannah-arendt-preis-an-masha-gessen-kri
tik] einer Zeremonie, in der Gessen mit dem Hannah-Arendt-Preis für
politisches Denken ausgezeichnet werden sollte.

 

 

‚STRIKE GERMANY‘ 

 

Obwohl es viele Deutsche vorziehen mögen, von sich selbst als „weniger
antisemitisch als die anderen“ zu denken, dringt die internationale Kritik
manchmal dennoch durch. Wenn eine Person, die wie oben beschrieben
attackiert wird, über genügend Berühmtheit verfügt, so wie es bei Gessen und
Abraham der Fall war, können die harschen, von außen kommenden Reaktionen
innerhalb der deutschen Blase nicht mehr ignoriert werden – vor allem nicht
von Kultureinrichtungen, die stolz auf ihr internationales Ansehen und
Prestige sind.

 

In Gessens Fall brachten diese Reaktionen die Heinrich-Böll-Stiftung dazu,
nach der abgesagten Zeremonie ein öffentliches Gespräch
[https://www.youtube.com/watch?v=oHczC-xKIqo] mit der Schriftstellerin
anzuberaumen. Der Versuch, ihr mit der Absage eine Plattform zu entziehen,
war gescheitert. Im Gegenteil, dadurch wurde Gessens Kritik eine noch
größere Sichtbarkeit zuteil.

 

Dieses Ergebnis war jedoch von der Plattform abhängig, die sie bereits
hatte. In den allermeisten Fällen hören nur wenige Menschen von dieser Art
der Zensur und noch wenigere erfahren davon außerhalb der deutschen Grenze.
Aktivisten haben versucht, die Aufmerksamkeit auf diese Flut von Fällen zu
lenken, was unter anderem zu einem „Archive of Silence
[https://www.instagram.com/archive_of_silence/]“ (Archiv des Schweigens)
führte, dem Tausende auf Instagram folgen.

 

In der Zwischenzeit haben seit Oktober Kulturschaffende und Akademiker
weltweit damit begonnen, aus Protest gegen die Zensurmaßnahmen und die
antipalästinensische Außenpolitik Deutschlands öffentlich Einladungen in
dieses Land zurückzugeben und abzulehnen. Im Januar wurde eine kollektive
Aktion unter dem Titel „Strike Germany [https://strikegermany.org/]“
gestartet, die von solch prominenten Persönlichkeiten wie z. B. der
Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Annie Erneaux
[https://www.ndr.de/kultur/buch/Strike-Germany-Worum-geht-es-bei-dem-Boykott
-Aufruf,strikegermanydebatte100.html] Unterstützung erhielt.

 

Als Antwort darauf unterstellte der deutsche Journalist Sebastian
Engelbrecht in einer Sendung des Deutschlandfunks
[https://www.deutschlandfunkkultur.de/folgen-des-boykottaufrufs-strike-germa
ny-berlinale-absage-und-verlagstrennung-dlf-kultur-0fe5ce84-100.html], dass
Deutschland aufgrund seiner Unterstützung von Israel jetzt selbst zur
Zielscheibe von Antisemitismus geworden sei. Strike Germany, so seine
Argumentation, versuche, „Deutschland aus dem Bewusstsein zu tilgen“, und
zwar in einer Art, die dem historischen Versuch gleiche, jüdisches Leben
physisch auszulöschen.

 

Je größer diese Absurdität wird, desto schwieriger wird es für
internationale Beobachter zu ignorieren, wie Deutschlands obsessiver
Pro-Israelismus in ein Werkzeug des Autoritarismus und der
Fremdenfeindlichkeit verzerrt wurde. Als Ergebnis wird das Selbstbild des
Landes – zivilisiert, kosmopolitisch und offen – immer schneller zu einer
Geschichte, die Deutsche nur sich selbst erzählen können. Und da auch in
vielen anderen Ländern der Versuch gemacht wird, Kritik an Israel zu
unterbinden unter dem Vorwand, Juden zu beschützen, muss diese deutsche
Travestie eine Warnung sein, die weit über die deutschen Grenzen hinaus
hallt und gehört werden muss.

 

 

21. März 2024

 

Michael Sappir ist ein in Deutschland lebender linker Schriftsteller und
Organisator aus Israel. 

 

Quelle: +972
[https://www.972mag.com/germany-israel-palestine-solidarity-repression/]

/übersetzt von Antje H./

 

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Aus:   die internationale Nr. 3/2024 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1] Zu den Hintergründen siehe
https://en.wikipedia.org/wiki/Ghassan_Hage#Controversies
[https://en.wikipedia.org/wiki/Ghassan_Hage#Controversies] [Anm. d. Red.]

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