[IPK] Großbritannien nach dem Erdrutsch: Widerstand und Neuausrichtung

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Großbritannien:

Nach dem Erdrutsch: Widerstand und Neuausrichtung
Online unter: https://www.inprekorr.de/634-gb.htm

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Erklärung von Anti*Capitalist Resistance zu den Parlamentswahlen: Die Tories
wurden vernichtend geschlagen, Labour hat einen Erdrutschsieg „ohne große
Begeisterung“ erlitten und der Rechtsextremist Farage legt zu. Es gibt eine
Opposition von links und zum Gazakrieg müssen wir jetzt den Widerstand
organisieren.

 

 

Von Anti*Capitalist Resistance

 

 

(1)  Die überwältigende Mehrheit der Menschen wird froh sein über die
Demütigung und vernichtende Niederlage der Tories. Sie haben den größten
Mandatsverlust ihrer Geschichte erlitten. Konservative Regierungen haben uns
14 Jahre der Misswirtschaft, Korruption und Unehrlichkeit beschert. Die
Sparpolitik von Cameron und den Liberaldemokraten hat das Leben von
Millionen beendet oder verwüstet. Im Jahr 2010 gab es 35 Tafeln; heute sind
es 3572. Unser Gesundheitswesen, unsere Bildung, unsere lokalen
Dienstleistungen, unsere Versorgungsunternehmen und vieles andere wurden um
lebenswichtige Mittel gebracht oder für private Bereicherung geplündert.
Unsere Flüsse und Meere stinken und sind nicht zum Schwimmen geeignet,
während die Aktionäre der Wassergesellschaften großzügig belohnt wurden.
Johnsons kaltschnäuzige Missachtung der öffentlichen Gesundheit führte zu
Tausenden von unnötigen Covid-Todesfällen. Regeln wurden uns auferlegt und
von der Regierung selbst nicht befolgt. Seine Tory-Kumpane erhielten
Millionen, um ungeeignete persönliche Schutzausrüstungen (PSA) zu
beschaffen. Der extrem neoliberale Haushalt von Liz Truss führte dazu, dass
Millionen von Menschen unter massiven Zinserhöhungen ihrer Hypotheken
litten. Der Brexit hat das Wachstum hart getroffen und die europäische
Freizügigkeit gestoppt. Unter Sunaks Ägide sind die Energiepreise in die
Höhe geschnellt, und wir haben die schlimmste Explosion der
Lebenshaltungskosten seit Jahrzehnten erlebt. Die Dämonisierung von
Migrant:innen, Asylsuchenden und Trans-Personen hat zugenommen. Wir können
zumindest einen Moment lang die politische Niederlage der Politiker:innen
auskosten, die für das Ganze verantwortlich sind. Truss, Shapps, Mordaunt,
Gullis, Rees-Mogg, Jenkyns und andere Minister:innen sind alle weg. Dieses
Mal ging es Sunak anders als bei der Wahl von 2019, diesmal hat die
Farage-Partei den Tories geschadet, nicht der Labour-Partei.

 

(2)  Starmers neue Regierung wurde vom Großkapital begrüßt. Der /Economist/,
die /Financial Times/ und die Murdoch-Presse haben Labour bei dieser Wahl
unterstützt. Als Starmer sagte, er habe die Partei verändert, um das Land
verändern zu können, war dies die halbe Wahrheit. Ein sicherer Weg, an die
Macht zu kommen, besteht darin, jede mögliche linke Bedrohung der Macht der
Kapitalistenklasse zu zerstören, die wirklich das Sagen hat. Ja, er hat
seine Partei verändert, aber seine neue Partnerschaft mit dem Kapital zur
„Schaffung von Wohlstand“ wird das Land für die große Mehrheit nicht
verändern. Sie wird dazu beitragen, die Profitmacherei für einige wenige
noch weiter zu beschleunigen. Öffentliche Gelder werden an die Wirtschaft
verschleudert werden, um „Wachstum“ zu fördern, das angeblich auf magische
Weise nach unten durchsickern soll, um die Löhne und Sozialausgaben zu
steigern. Vertreter:innen des Kapitals wurden bereits in sein Kabinettsteam
integriert, um sicherzustellen, dass diese Vision umgesetzt wird.

 

(3)  Der große Wahlsieg von Labour folgt auf den bösartigen Gegenangriff der
Rechten und des Zentrums der Labour Party gegen jeden Anschein einer moderat
linken Infragestellung der Macht des Kapitals. Starmers Kontrolle über die
Arbeiterbewegung wurde verstärkt. Jede Wiederauferstehung einer
Corbyn-ähnlichen linken Mehrheit innerhalb der Labour-Partei ist zum
Scheitern verurteilt – und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Für eine
Weile wird die neue Regierung wahrscheinlich eine Zeit der Flitterwochen
genießen, in denen Spannungen oder Konflikte mit den Gewerkschaften oder der
Linken kaum auftreten werden.

 

(4)  Doch dieses Ergebnis ist ein Zusammenbruch der Konservativen, ebenso
wie ein Sieg der Labour-Partei. Ein Journalist hat es zu Recht als
Erdrutschsieg „ohne große Begeisterung“ bezeichnet. Das unfaire
Mehrheitswahlsystem verzerrt massiv das Ausmaß des Triumphs von Labour.
Gestern erhielt sie 9,6 Millionen Stimmen und rund 34 % der Stimmen. Die
Labour-Partei unter Corbyn, von dem er behauptete, er verhindere einen
Wahlsieg, erhielt 2017 13 Millionen Stimmen und 40 Prozent und 2019 10
Millionen Stimmen und 32 Prozent – und das Ergebnis wurde damals durch den
Brexit und die de-facto-Wahlkoalition Johnson/Farage verzerrt. In Cymru
[Wales] gab es wenig Begeisterung für Starmer. Obwohl Labour 27 von 32
Sitzen gewann, erhielt sie fast 150 000 Stimmen weniger als 2019, als Jeremy
Corbyn an der Spitze stand. In den ärmsten Gemeinden wie Ely und Caerau lag
die Wahlbeteiligung bei nur 23 Prozent. Alle haben die fehlende Begeisterung
für das Starmer-Projekt festgestellt. Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich
zu 2019 um sieben Prozentpunkte niedriger und liegt bei rund 60 Prozent. In
diesem Klima, in dem es keine starke Identifizierung mit der Regierung gibt,
ist es wahrscheinlicher, dass sich Arbeitskämpfe entwickeln. Die
Begeisterung ist geringer als bei Blair 1997. Die neue Regierung hat jedoch
bereits angedeutet, dass sie weder den Beschäftigten im öffentlichen Dienst
einen anständigen Lohn zahlen noch die Steuern für die Reichen erhöhen wird,
um die Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Sozialfürsorge oder die Ausgaben
der Kommunen zu finanzieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Arbeiter
gegen diese Regierung streiken werden, und viele andere werden gegen die
engen Vorgaben ihres Programms kämpfen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie
mit dem US-Imperialismus in Bezug auf den israelischen Apartheidstaat
brechen wird. Anders als Spanien und Irland wird sie den palästinensischen
Staat jetzt nicht anerkennen. Das deutliche Votum für die Labour-Linke
zeigt, dass es Potenzial für Widerstand gegen die moderate Regierungspolitik
gibt.

 

(5)  Wir müssen jeden Kampf oder Widerstand gegen die Politik dieser
sozialdemokratisch-liberalen Regierung unterstützen. Wir respektieren keine
Flitterwochen. Zunächst fordern wir die sofortige Umsetzung ihres sehr
begrenzten Programms ohne weitere Einschnitte – mehr Rechte für
Arbeiter:innen ab Tag 1 sowie die angekündigten progressiven Steuern für
Privatschulen und Non-Doms [Steuersparmodell für reiche Ausländer mit
Zweitwohnsitz]; Abbruch des Ruanda-Projekts und Nutzung seiner Mittel für
Bildung, Gesundheit und Umwelt.

 

(6)  Aber das ist nur der erste Schritt für die Arbeiterbewegung, um die
Regierung zu viel radikaleren Maßnahmen zu zwingen – die Ausweitung der
Arbeitsrechte durch die Abschaffung aller repressiven Gesetze Thatchers;
eine Vermögenssteuer und eine erhöhte Kapitalertragssteuer, um unseren NHS
[das staatliche Gesundheitswesen], unsere Bildung und unsere lokalen
Dienstleistungen zu finanzieren; die Energie- und Versorgungsunternehmen in
Gemeineigentum überführen und etwaige erwirtschaftete Überschüsse für die
Entwicklung eines viel ehrgeizigeren Energiewendeplans zu verwenden, um die
Klima- und Umweltkrise so zu bewältigen, dass die Verursacher zur Kasse
gebeten werden; die sofortige Abschaffung der Zwei-Kinder-Grenze und anderer
Leistungsobergrenzen und die Stärkung des Gleichstellungsgesetzes von 2010,
um die Unterdrückten (einschließlich Trans-Menschen) besser zu schützen,
sowie die Abschaffung der repressiven Gesetze zur öffentlichen Ordnung. Dies
sind nur einige wenige Beispiele, aber solche Initiativen gehen Hand in Hand
mit der Mobilisierung der Arbeitenden in diesen Sektoren zur Ausarbeitung
von Aktionsplänen. Wir üben nicht nur Druck auf Labour aus, sondern
versuchen, in all diesen Fragen eine eigenständige Selbstorganisation zu
entwickeln.

 

(7)  Die Ergebnisse der gestrigen Parlamentswahlen zeigen, dass bis zu 3
Millionen Menschen links von Labour gestimmt haben, entweder für ein grünes
Programm, das radikaler ist als das von Labour, oder für linke Unabhängige
oder Kandidaten, die Labour in der Palästina-Frage angreifen. Allein die
Grünen erhielten 6,8 % (plus 4 Prozentpunkte), fast 2 Millionen Stimmen, und
haben jetzt 4 Abgeordnete. Unabhängige Pro-Gaza-Kandidaten gewannen vier
Sitze und lagen knapp vor Labour in Wahlkreisen wie dem von Wes Streeting in
Ilford North. Andrew Feinstein erhielt in Starmers Wahlkreis über 8000
Stimmen, Faiza Shaheen in Chingford kam auf 25 Prozent und hätte gewonnen,
wenn Labour die Stimmen nicht gegen Duncan Smith aufgesplittert hätte.
Corbyn gewann am Ende mit großem Vorsprung. Wir haben noch nie so viele
Unabhängige im Parlament gesehen. Innerhalb von Labour gibt es immer noch
eine geschwächte Linke wie die Grassroots Alliance, Momentum und die
Socialist Campaign Group. Diese Tausenden von Aktivist:innen innerhalb und
außerhalb von Labour bilden die Grundlage für ein strukturierteres Netzwerk
oder eine Bewegung von Ökosozialist:innen und Klimaaktivist:innen, die
bereit sind, sich gegen Starmer zu stellen, wenn er es nicht schafft, den
Wandel voranzubringen, den wir brauchen. Die aktivistische Strömung der
grünen Bewegung wie Just Stop Oil und Extinction Rebellion besetzt ebenfalls
diesen politischen Raum. Der unerwartet hohe Erfolg all dieser Kräfte gibt
uns Hoffnung, dass eine triumphierende Starmer-Regierung nicht ohne
Widerstand voranstürmen wird. Zu Beginn des Wahlkampfs wollte er die erste
schwarze Abgeordnete Großbritanniens loswerden. Er wurde von einer
Basiskampagne gestoppt, die sich mit linken Abgeordneten, Gewerkschaften und
der Welt der Kultur verband. Es gibt keinen Grund, warum solche Bündnisse
nicht auch zu anderen Themen aufgebaut werden können. Die große Mehrheit
könnte es den Abgeordneten erleichtern, sich der Labour-Führung zu
widersetzen – ihre Rebellion würde die Regierung nicht stürzen. Jeder
Kommentator und jede Umfrage haben sowohl auf den sehr starken Wunsch
hingewiesen, die Tories loszuwerden, als auch auf geringe Begeisterung für
Starmer und sein Projekt. Die Menschen könnten also bereit sein, die
Regierung viel früher anzugreifen, als wir uns das vorstellen können. Selbst
der große Erfolg der Liberaldemokraten mit bis zu 71 Sitzen spiegelt
teilweise den Wunsch wider, die Gesundheits- und Sozialfürsorge angemessen
zu finanzieren, was über die begrenzten Budgetpläne von Labour hinausgeht.

 

(8)  Farages rassistische Reformpartei war, nach Starmer, der
Überraschungssieger des Abends. Sie gewann 4 Sitze und über 4 Millionen
Stimmen. Ihr Stimmenanteil ist über 3 Prozentpunkte besser als ihr
bisheriges Rekordergebnis im Jahr 2015. Die Reformpartei kam in Hunderten
von Wahlkreisen auf Platz 2, auch bei einigen von Labour gehaltenen. Farages
Hauptbotschaft nach der Wahl war, dass er die Tory-Partei überholen und zur
wichtigsten Opposition gegen Labour werden wollte. Er ist in der Lage, eine
Rolle bei der Neuordnung der rechten Politik zu spielen, entweder durch eine
umgekehrte Übernahme der Tory-Partei oder durch eine neue Bewegung, die den
traditionellen Toryismus bekämpfen und einige ihrer Basis und Abgeordneten
gewinnen wird. Dieser Prozess ist bereits im Gange. Er ist auch eine
Bedrohung für die Starmer-Regierung. Farage hat gesagt, er wolle die
wirkliche Opposition sein, die die Massenproteste anführt. Angesichts der
geringen Anzahl seiner Abgeordneten im Verhältnis zu den Millionen von
Stimmen ist er in der Lage, die Frustrationen seiner Basis auszunutzen, die
sich vom politischen Prozess entfremdet fühlt. Labour griff Farage aus
engstirnigen wahltaktischen Überlegungen heraus nicht an und dachte, er
würde den Tories mehr schaden als Labour. Starmer zog sogar seinen
Kandidaten aus dem Kampf in Clacton zurück [den Farage gegen die Tories
gewann]. Labour trägt ebenso wie die Tories die Verantwortung für den
Aufstieg der Reformpartei. Labour hat den rassistischen Rahmen der Debatte
über Migrant:innen gesellschaftsfähig gemacht. Es wird an der Linken und der
Arbeiterbewegung liegen, gegen eine stärker werdende Farage-Strömung zu
kämpfen. Sein Erfolg wird auch die Selbstgewissheit neofaschistischer
Straßenbanden unter der Führung von Tommy Robinson und anderen stärken.

 

(9)  Ökologische Aspekte fehlten größtenteils im Wahlkampf. Labour hatte
sein Großbritannien-Energie-Projekt bereits verwässert und nicht in den
Vordergrund gestellt, weil sie Angst hatte, dass die Wähler:innen durch die
Kosten abgeschreckt werden könnten. Sowohl die Liberaldemokraten, die sogar
auf 71 Sitze kamen (mehr als die Nachwahlbefragung vermuten ließ), als auch
die Grünen profitierten davon, dass sie die Umwelt auf die Tagesordnung
setzten. Die Linke muss aufstehen und eine ökosozialistische Strategie
verfolgen. Die andere große Fehlstelle im Wahlkampf war Gaza. Die großen
Parteien haben es kaum erwähnt, aber das Auftreten unabhängiger Kandidaten
hat dies völlig gestört. Wir begrüßen die Arbeit all jener Aktivist:innen,
denen es gelungen ist, bei dieser Wahl der Stimme der Palästinenser:innen
Gehör zu verschaffen.

 

(10)  Die ACR wird sich in den Dienst des Widerstands gegen den
sozialdemokratischen Liberalismus der Labour Party stellen. Wir werden jede
Kampagne unterstützen, um Trans-, Frauen- und demokratische Rechte,
Palästina, den Lebensstandard der Arbeitenden und öffentliche
Dienstleistungen zu verteidigen und auf starke Maßnahmen zur Bewältigung der
Klima- und ökologischen Krise sowie auf einen gerechten Übergang zu grünen
Arbeitsplätzen zu drängen. Innerhalb der breiten Bewegung werden wir für die
Notwendigkeit einer antikapitalistischen ökosozialistischen Strömung
eintreten, die die Grundlage für eine strategische Alternative zur
Labour-Politik bilden kann.

 

 

5. Juli 2024

 

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Vorabdruck aus: die internationale Nr. 5/2024 

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