[IPK] Venezuela: Ist Nicolás Maduro ein Linker?

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Mi Nov 20 18:38:50 CET 2024


Venezuela:

Ist Nicolás Maduro ein Linker?
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Im Gegensatz zu den letzten 25 Wahlen in Venezuela (mehrere Dutzende seit
dem ersten Sieg von Hugo Chávez 1998) ist die gesamte lateinamerikanische
Linke, einschließlich der gesamten Basis des "Progressismus", nach dem
Urnengang vom 28. Juli tief gespalten.

 

 

Von Ana C. Carvalhaes und Luis Bonilla

 

 

Eine zwar schrumpfende, aber immer noch einflussreiche Gruppe von
Intellektuellen beruft sich auf das Forum von São Paulo [1], demzufolge die
Regierung von Nicolás Maduro um jeden Preis unterstützt werden muss, um
Venezuela und die Region vor dem US-Imperialismus zu retten - auch um den
Preis der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses. Anders als bisher ist
nämlich nicht auszuschließen, dass Maduro die aktuellen Wahlen verloren hat,
da er sich nach wie vor weigert, Beweise für seinen Sieg vorzulegen. 

 

Nach dieser Logik, die eher der klassischen Geopolitik als dem Marxismus
entspricht, ist es nicht nur vertretbar, sondern ein Gebot der Stunde, alle
Mittel anzuwenden, um die Macht (und das Erdöl) "nicht an die Rechte
abzutreten". Dieser geopolitischen Logik zufolge ist es zweitrangig, ob
Nicolás Maduro die Wahlen gewonnen oder verloren hat. Vielmehr geht es
darum, im Namen des "nationalen Fortschritts" den Einzug des
US-Imperialismus, in Gestalt des Oppositionskandidaten Edmundo González, in
den Miraflores-Palast und dessen Zugriff auf die staatliche venezolanischen
Erdölgesellschaft PDVSA, die über eine der größten Öl- und Gasreserven der
Welt verfügt, zu verhindern. Ein Teil dieser "Neo-Maduristen" hat
zugegebenermaßen weniger das Öl im Sinn als die Frage, ob man die Niederlage
von Maduro, der ihnen als links gilt, eingestehen soll, was vor dem
Hintergrund des Aufstiegs der extremen Rechten in der Region und in der
ganzen Welt in ihren Augen eine Tragödie wäre. Somit besteht für diese Leute
die einzige Lösung darin, an Maduro festzuhalten. Daher werden auch
Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien abgelehnt, die von Lula und
Gustavo Petro angeregt wurden, um beide Seiten an der Macht zu beteiligen
und den Fortbestand der staatlichen PDVSA - zumindest in einem gewissen
Rahmen - zu gewährleisten. 

 

 

EIN BLICK AUF DIE JÜNGSTE GESCHICHTE UND EIN FAKTENCHECK

 

Zur Erinnerung: Wo verläuft die Trennlinie zwischen rechts und links? Geht
es um Rhetorik oder um Taten? Maduro bedient sich zweifellos einer radikalen
Sprache mit linken Floskeln. Er betrachtet seine Regierung als
anti-imperialistisches Bündnis zwischen dem Militär, der Polizei und dem
Volk und behauptet, für den Sozialismus einzutreten. Er muss sich intern und
extern als Nachfolger von Chávez legitimieren, obwohl er die
Errungenschaften und das Erbe der jahrelangen Fortschritte des
"bolivarischen Prozesses" in weiten Teilen rückgängig gemacht hat.
Ungeachtet des äußeren Anscheins hat Maduro ab 2013 die Bereicherung einer
neuen Unternehmerschicht im Land gefördert und dabei - in seinem
Selbstverständnis als Autokrat - versucht, zwischen den verschiedenen
Fraktionen der neuen und der alten venezolanischen Bourgeoisie eine Balance
zu finden, um sich an der Regierung zu halten. Davon ausgenommen waren bloß
die am engsten mit der extremen Rechten der Yankees verflochtenen Sektoren,
vertreten durch María Corina Machado und Edmundo González. 

 

In einem offen autoritären Kurs hat Maduro stets die Unternehmerseite
begünstigt, insbesondere den Dienstleistungssektor für die Ölindustrie, der
weitgehend in den Händen der oberen Ränge seiner Streitkräfte und seiner
Polizei liegt. (Daher also das Bündnis .) Selbst unter den drückenden
Sanktionen des westlichen Imperialismus gegen Venezuela, die unter der
Regierung Obama eingeführt, unter Trump fortgesetzt und unter Biden
gelockert wurden, hat er nie auch nur den geringsten Schritt unternommen, um
dem globalisierten Finanzsystem und dessen Handlangern im eigenen Land die
Stirn zu bieten. Er hat einen beträchtlichen Teil des schrumpfenden
Staatshaushalts an Privatbanken übergeben, um Privatunternehmen und Rentiers
den Devisenhandel zu ermöglichen. Mit einem Wort: Er verfolgt eine Politik,
welche die Reichen subventioniert und begünstigt. 

 

Seit dem Dekret 2792 von 2018 sind Streiks verboten, und das Recht der
Arbeiterklasse, sich zu organisieren und Forderungen zu erheben, wurde -
etwa durch das Verbot neuer Gewerkschaften - stark eingeschränkt.
Gewerkschaftsführer, die die internen Praktiken der Unternehmen anprangern
oder einfach nur eine Lohnerhöhung und eine Krankenversicherung fordern,
werden verfolgt und inhaftiert. So geschehen bei Siderúrgica del Orinoco
(Sidor), dem größten Ballungsraum von Proletariern in Venezuela. Nachdem
sich die Beschäftigten im Juni und Juli 2023 für Löhne und Sozialleistungen
eingesetzt hatten, wurden sie Opfer massiver Repressionen. Die
Gewerkschaftsvertreter Leonardo Azócar und Daniel Romero befinden sich
seither im Gefängnis. 

 

Der "Anti-Imperialismus" von Maduro hindert ihn und sein Umfeld nicht daran,
das von den USA benötigte Öl auf Umwegen über Chevron und andere
ausländische Großkonzerne (wie Repsol) zu liefern, denen das
US-amerikanische Finanzministerium erlaubt, das venezolanische schwarze Gold
zu fördern, solange sie in Venezuela selbst keine Steuern und Lizenzgebühren
entrichten. Der "Anti-Imperialismus" à la Maduro hat seine Grenzen, wie sein
Kniefall vor diesen neokolonialen Bedingungen zeigt.

 

Obwohl die Sanktionen gegen Venezuela (unter dem Druck des Konflikts mit
Russland) unter Biden gelockert wurden, hält Maduro in seiner Rhetorik
hartnäckig daran fest, dass die Sanktionen an allem, was schiefläuft, schuld
sind. Dieses Narrativ dient ihm als Vorwand, um eine Strukturanpassung
zulasten der arbeitenden Bevölkerung voranzutreiben. Allerdings hat die
Berufung auf die (realen, konkreten und abzulehnenden) US-Sanktionen
angesichts des (durch milliardenschwere Korruptionsgeschäfte möglich
gewordenen) protzigen und luxuriösen Lebensstils derer, die das Land heute
regieren, jede politische Glaubwürdigkeit verloren.

 

 

DIE ARBEITERKLASSE - EIN NEBENWIDERSPRUCH? 

 

Anstatt die Lage der arbeitenden Klasse in Venezuela und davon ausgehend den
Zustand der Linken zu analysieren, setzt man auf die in Mode gekommene
"Geopolitik des Öls", die ausschließlich den (zweifelsohne wichtigen)
Widerspruch zwischen dem Imperialismus und dem venezolanischen Staat im Auge
hat. Was jedoch fehlt, ist ein Minimum an dialektischem Verständnis, um
angesichts vielfältiger Widersprüche die materielle und politische Lage
sowie die Wünsche und Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu erfassen. Fast
scheint es, man würde diese Frage unter ferner liefen bzw. als
Nebenwiderspruch abtun. Unter der Devise, den Griff der Rechten nach der
Macht zu verhindern, verzichtet man auf eine Klassenanalyse, wobei außer
Acht gelassen wird, dass die Regierung trotz ihrer linken Rhetorik den
wirtschaftlichen Strukturanpassungsrezepten der Rechten folgt. Man sollte
sich vielleicht die Beschäftigten der PDVSA oder von Sidor (dem größten
venezolanischen Stahlkonzern) anhören bzw. mit Lehrkräften und
Universitätsprofessoren sprechen (statt mit der Bürokratie oder den Bossen
vom Gewerkschaftsdachverband CBST), um die prekäre materielle Lage der
arbeitenden Bevölkerung zu begreifen (Mindestlohn von 4 Euro pro Monat,
Durchschnittslohn von 120 Euro pro Monat). Die dramatische Verschlechterung
der Lebensbedingungen geht einher mit einer gravierenden Einschränkung
demokratischer Freiheiten. Seit Jahrzehnten war es nicht so schwierig, sich
zu organisieren, zu protestieren und zu kämpfen. 

 

Was den Ausgang der Wahlen vom 28. Juli betrifft, distanzieren sich die
neuen Geopolitiker des "Progressismus" von den Schlussfolgerungen
[Wahlschwindel auf Kosten der
[https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article71740#nb5] rechten
Opposition, Anm. d. Red.] der großen internationalen Medien (CNN, CBS und
anderen). Schließlich vertreten sie nicht die Interessen von María Corina
Machado und Edmundo González, sondern ihre eigenen (die von Maduro und der
neuen Bourgeoisie), und zwar ausgehend von der falschen Prämisse, dass
Maduro die Arbeiterklasse verkörpert. Dabei verzichten sie auf eine nähere
Betrachtung ihrer gegen die Werktätigen und die Bevölkerung gerichteten
Politik. Sie tappen in die Falle einer Fetischisierung der Justiz, da sie
ihre Analyse der politischen Lage auf das Wahlergebnis beschränken und dabei
Klassenkriterien ausklammern. Maduro und die [Nationale Wahlbehörde, Anm. d.
Red.] CNE haben nicht offengelegt, aufgrund welcher Berechnungen sie dem
Präsidenten zum Wahlsieg verholfen haben, und das hat konkrete Auswirkungen
auf das Ausmaß demokratischer Freiheiten und auf den Handlungsspielraum, den
die arbeitende Klasse zum Überleben braucht.

 

Ohne Transparenz und Glaubwürdigkeit bei den nationalen Wahlen, zu denen
Kandidaten verschiedener Schattierungen bürgerlicher Wahlprogramme
zugelassen waren, ist es schwierig, an eine Wiederherstellung der
demokratischen Mindestfreiheiten zu denken, die für die Arbeiterklasse
unabdingbar sind, um sich gegen die Angriffe des Kapitals zur Wehr zu
setzen. Es geht um das Recht auf angemessene Löhne, das Streikrecht, die
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung
sowie das Recht, zu protestieren und sich in politischen Parteien zu
organisieren. Die Arbeiterklasse hat größtes Interesse daran, zu erfahren,
ob nach dem 28. Juli die Freiheiten, die sie braucht, um sich als
ausgebeutete Klasse Gehör zu verschaffen, garantiert oder eingeschränkt
werden. Aber dieses Interesse entspricht nicht der Logik der neuen
"progressistischen" Geopolitik. 

 

 

VERZICHT AUF KLARE WORTE UND VIELSAGENDES SCHWEIGEN

 

Die Unterdrückung der gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der
arbeitenden Bevölkerung ist diesen "Progressiven" ziemlich egal. Es kümmert
sie auch nicht, dass Maduro ein Antreten des linken Flügels der PSUV [2] bei
den Wahlen im Juli untersagt hat - wobei er selbst vor einer Unterwanderung
und Kriminalisierung von Parteien sowie vor Frontalangriffen auf die
Parteiführungen der Wahlbewegung des Volkes (Movimiento Electoral del
Pueblo, MEP), Vaterland für alle (Patria Para Todos, PPT), der Tupamaros und
der Kommunistischen Partei (PCV) nicht zurückschreckte, um die Wahlen zu
beeinflussen. Die Anhänger von Maduro lassen unerwähnt, dass die Regierung
nach dem 28. Juli die Repression verschärft hat - und zwar nicht mehr gegen
den Mittelstand, sondern gegen die Arbeiterklasse. So wurden rund 2 000
Jugendliche unter dem Vorwand der "Umerziehung" ins Gefängnis gesteckt, wo
sie schikanösen Gehirnwäscheritualen unterzogen werden. 

 

Ebenso wenig äußern sich die Progressisten zu der Errichtung von zwei
Hochsicherheitsgefängnissen für alle, die bei Straßenprotesten aufgegriffen
oder bei Protestaufrufen in den sozialen Medien ertappt werden. Sie
schweigen zu der Inhaftierung mehrerer Oppositionspolitiker und zu den
unverhohlenen Drohungen, die im Fernsehen gegen verschiedene prominente
Personen ausgesprochen wurden - etwa vom Innenminister [und Offizier im
Ruhestand, Anm. d. Red.] Diosdado Cabello (dem "Hammerminister") [3] gegen
Juan Barreto, den ehemaligen Bürgermeister von Caracas, oder gegen Vladimir
Villegas, den Bruder des Kulturministers und Vorsitzenden eines
Parlamentsausschusses. Angesichts der Einschüchterung öffentlicher
Persönlichkeiten kann man sich unschwer vorstellen, womit gewöhnliche
Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen, zu rechnen haben. In letzter Zeit
wurden häufig Sicherheitskräfte in Zivil eingesetzt, um Aktivisten
einzuschüchtern - etwa gegen Koddy Campos und Leandro Villoria, die Anführer
der LGBTQ+-Gemeinschaft in Caracas, oder in der traditionellen Hochburg der
Chavististen vom 23. Februar, ebenfalls in Caracas, wo Regierungsbeamte die
Häuser von Aktivisten mit einem X markiert haben, um ihnen Angst einzujagen
und sie so vor etwaigen Protesten abzuhalten. 

 

Die "geopolitische" Linke schweigt sich über die Zahl der Toten nach dem 28.
Juli aus (nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen
Bewegungen sind es mehr als 20) bzw. behauptet, dass es sich dabei ohnehin
nur um Angehörige der Rechten gehandelt habe. Das ist nicht nur falsch,
sondern bedeutet auch ein Zurückfallen hinter die demokratischen
Errungenschaften, die in der [gesamten, Anm. d. Red.] Region nach dem Ende
der Diktaturen erzielt wurden.

 

Der "geopolitische Progressismus" hält am Trugbild einer Volksregierung
fest, die es seit Maduros gesellschaftspolitischen Weichenstellungen gegen
die arbeitende Bevölkerung nicht mehr gibt. Von der Arbeiterklasse wird
verlangt, ausschließlich innerhalb des von Maduro erlaubten Rahmens für ihre
Rechte einzutreten. Damit soll zumindest nach außen hin der Schein einer
Utopie gewahrt werden, deren Verwirklichung im eigenen Land gescheitert ist.
Der "Progressismus" verschließt seine Augen vor der Tatsache, dass Maduro
und seine Clique zwar eigene beglaubigte (und kostenpflichtige) Konten in
den sozialen Netzwerken haben, während das Meinungsspektrum der Bevölkerung
(auf kostenlosen Konten) zensuriert wird. Daher ist es diesen Leuten auch
egal, dass die Regierung die Netzwerke X und Signal mindestens zehn Tage
lang gesperrt hat, während alle hohen Funktionäre ihre Kommunikation über
den für das Volk gesperrten Kanal VPN aufrechterhalten. 

 

 

UND WAS IST MIT DEM ERDÖL?

 

Angesichts der Gefahr einer Regierungsübernahme durch die "abgetakelte"
Rechte werden alle ernst zu nehmenden Einwände von den Verfechtern von
Maduros "Sieg" als "formaldemokratische" Nebensächlichkeiten abgetan. Diese
Logik klammert nicht nur die Klassenfrage aus, sondern verkennt schlicht und
einfach die Realität im Land. 

 

Im November 2022 hat der US-Finanzminister im Zusammenhang mit dem Krieg in
der Ukraine Chevron erlaubt, venezolanisches Öl zu fördern und zu
exportieren - unter der Bedingung, dass der Konzern keine Steuern oder
Abgaben an die venezolanische Regierung entrichtet. Diese neokolonialen
Auflagen, die man den [bürgerlichen] Regierungen vor Chávez erspart hatte,
wurden von Maduro akzeptiert. Somit ist Venezuela wieder zu einem stabilen
Öllieferanten für Nordamerika geworden. Das erklärt auch die Gratwanderung
von Biden und seine Zurückhaltung gegenüber den Vermittlungsversuchen des
progressistischen Dreigestirns Lula, Petro und AMLO [4] (von denen sich AMLO
inzwischen zurückgezogen hat).

 

Was das US-Embargo gegen Venezuela betrifft, muss man differenzieren, denn
Embargo ist nicht gleich Embargo. Die Sanktionen, die über Lebensmittel,
Medikamente und Ersatzteile für Busse und Autos verhängt wurden, haben
maßgeblich zur Abwanderung von vier bis fünf Millionen Werktätigen
beigetragen. Dennoch hat es Venezuela geschafft, zum sechstgrößten
Öllieferanten der USA aufzusteigen und Länder wie Großbritannien und Nigeria
zu überholen. 

 

In Venezuela geht es um die Frage, welche Fraktion der herrschenden Klassen
das Geschäft mit dem Öl kontrolliert: entweder die alte, abgewirtschaftete
Oligarchenbourgeoisie oder die neuen, mit dem "bolivarischen" Militär eng
verflochtenen Wirtschaftszweige, die unter Maduro reich geworden sind. Es
wird also darum gestritten, wer den Löwenanteil der Öleinnahmen erhalten
soll. Beide Fraktionen sind Garanten für die geostrategische Ölversorgung
der westlichen kapitalistischen Mächte, und sie werden eine Beteiligung der
Bevölkerung an den Öleinnahmen nicht zulassen. Das liegt nicht nur in der
Natur der kapitalistischen Bourgeoisie, sondern auch daran, dass der
Charakter des fossilen, mono-extraktivistischen, exportorientierten Staates
durch den bolivarischen Prozess nicht angetastet wurde und Maduro trotz
seiner Rhetorik weder sozialistisch noch anti-imperialistisch ist. Es zeugt
von Naivität und mangelnder Kenntnis der Fakten, sich vorzustellen, dass
Maduro ein mutiges Programm vorlegt, um den imperialistischen Ambitionen,
sich das venezolanische Öl auf dem Weltmarkt anzueignen, entgegenzutreten.
Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung wäre
es ein grober Fehler, im Namen einer angeblichen Souveränität die Augen vor
den zunehmenden autoritären Tendenzen des Maduro-Regimes zu verschließen.

 

Bedauerlicherweise verkennen die geopolitischen Maduristen, dass der
Ölreichtum nicht Venezuelas Rettung, sondern sein historischer Fluch ist.
Selbst der große brasilianische Entwicklungsökonom Celso Furtado hatte
diesen Irrglauben bereits in den 1950er Jahren als extrem problematisch für
sein eigenes Land erachtet - und er war weder Sozialist noch "grün". 

 

 

GIBT ES EINEN AUSWEG?

 

Natürlich ist das Erstarken der rechten Opposition, die bei früheren Wahlen
mehrmals von Chávez und einmal von Maduro geschlagen wurde und an deren
Spitze heute mit der Oligarchin María Corina Machado ihr extremster Flügel
steht, eine Tragödie. Aber eine noch größere Tragödie ist die Tatsache, dass
dieser rechtsextreme Flügel die letzten Wahlen möglicherweise gewonnen hat
oder zumindest nahe daran war, denn anders lassen sich Maduros beharrliche
Weigerung, die Ergebnisse zu veröffentlichen, und die brutale Unterdrückung
der Bevölkerung nicht erklären. Da eine friedliche Lösung nicht in Sicht ist
und eine unkomplizierte Übergabe der Regierung an die rechtsextreme
Opposition schwer zu verdauen wäre, könnte das "Blutbad", mit dem beide
Seiten drohen, durch das Aufgreifen der Vorschläge der Regierungen
Brasiliens und Kolumbiens vermieden werden: Offenlegung der Wahlergebnisse
sowie Verhandlungen zwischen den Kontrahenten, in erster Linie mit Maduro
selbst. (Die Vermittler verweigern den Dialog mit der Opposition und die
Prüfung der von ihr vorgelegten Ergebnisse.) Von diesen Verhandlungen kann
man sich die Zusicherung demokratischer Mindestfreiheiten, die Freilassung
politischer Gefangener, ein Ende der Repression sowie weitgehende Freiheiten
für Gewerkschaften und politische Parteien erhoffen, aber es sollte auch
möglich sein, Klauseln zum Schutz der PDVSA auszuhandeln.

 

Derzeit ist es politisch richtig, die von Kolumbien und Brasilien
vorgeschlagene Verhandlungslösung - die von Chile mitgetragen, jedoch wenig
überraschend vom [nicaraguanischen] Diktator Daniel Ortega abgelehnt wird -,
zu unterstützen, da sie vernünftig und realistisch ist und im Interesse der
arbeitenden Bevölkerung des Landes liegt. Diese Politik richtet sich zwar
gegen ein zunehmend autoritäres Regime, das Jugendliche,
Gewerkschaftsaktivisten und linke Oppositionelle unterdrückt, aber sie
beschränkt sich nicht auf die bloße formal-juridische Bestätigung von
Unregelmäßigkeiten [vor allem bei den Wahlen] und Regierungswillkür. Während
sie Möglichkeiten eröffnet, sich gegen die Angriffe der extremen Rechten auf
die PDVSA und die wenigen verbliebenen sozialen Errungenschaften zu wehren,
gehen sie nicht von der irrigen Annahme aus, dass Maduro und sein
militärisch-bürokratisches Umfeld ein Garant für eine wie auch immer
geartete venezolanische "Souveränität" sein können. 

 

 

NATIONALE SOUVERÄNITÄT UND VOLKSSOUVERÄNITÄT

 

Der lateinamerikanische "Progressismus", aber auch die Dritte-Welt-"Theorie"
und die stalinistische Linke werfen unter dem Begriff Souveränität zwei
verschiedene Konzepte - nationale Souveränität und Volkssouveränität - in
einen Topf. Natürlich ist die nationale Souveränität in der Regel eine
Voraussetzung für die volle Ausübung der Volkssouveränität. Angesichts der
Zwänge des Weltmarkts und des Imperialismus ist es jedoch problematisch,
dass völlig unterschiedliche Regierungen (und ideologische Strömungen) -
sowohl fortschrittliche als auch reaktionäre - die Verteidigung der
nationalen Souveränität für sich in Anspruch nehmen.

 

Die Frage der nationalen Souveränität war das zentrale Thema der
antikolonialen und nationalen Unabhängigkeitsbewegungen sowie etlicher
populistischer Strömungen zur nationalen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Auf
sie berufen sich aber auch Militärdiktaturen (wie im Süden Lateinamerikas in
den 1960er Jahren), theokratische Diktaturen (wie der Iran), bürokratische
Staaten und rechtsextreme Regierungen (wie Modi und Trump). Es stimmt zwar,
dass auch äußerst reaktionäre Regimes die nationale Souveränität verteidigen
und selbst die Konfrontation mit dem Imperialismus suchen können, aber
unseres Erachtens ist der Kampf um nationale Souveränität nur sinnvoll in
Verbindung mit dem Kampf um Volkssouveränität, also der demokratischen
Selbstorganisation der Massen, der Eroberung von Freiheiten und Rechten, die
den historischen Block der Volksklassen stärken und Alternativen zum
globalen Kapitalismus und zu den imperialistischen Mächten, die ihm dienen,
aufzeigen können. 

 

Außerdem lassen sich nach den Erfahrungen mit dem Stalinismus des 20.
Jahrhunderts die Völker nicht automatisch mit ihren politischen Führern, von
denen sie in einer stets dynamischen Beziehung vertreten werden oder auch
nicht, gleichsetzen. Wenn diese Verbindung abreißt (wie aktuell in
Venezuela), wird der Kampf um demokratische Freiheiten zu einem Eckpfeiler
im Kampf um die Souveränität des Volkes - und letztendlich auch der Nation.

 

 

UND DIE DEMOKRATIE?

 

Bürgerlich-demokratische Regierungen entsprechen nicht den Wünschen und
Vorstellungen von uns Sozialist:innen. Was wir strategisch anstreben und
wofür wir eintreten, das sind basisdemokratische Organisationen, direkte
Demokratie und Volksmacht - als Keimzellen einer neuen und lebendigeren
Demokratie, die von der Masse der Werktätigen und der einfachen Bevölkerung
in einem ständigen Prozess revolutionärer Offensive ausgeübt wird. Aber ist
die formale Demokratie tatsächlich so wenig wert, dass wir Wahlen und ihren
manipulierten Ergebnissen keinerlei Bedeutung beimessen?

 

In einer Welt, die zunehmend von rechtsextremen Kräften bedroht wird, gilt
es heute und auf längere Sicht, demokratische Freiheiten und Rechte und
selbst die Institutionen bürgerlich-demokratischer Regierungen gegen die
Angriffe der extremen Rechten zu verteidigen - gegen Trump, Bolsonaro,
Erdoğan, Orbán und andere. Können wir es uns als Linke leisten, die
Demokratie so sehr gering zu schätzen, dass wir Wahlmanipulationen in einer
wachsenden Anzahl von Ländern, wo der Kampf gegen die extreme Rechte
überlebensnotwendig ist, einfach so hinnehmen?

 

Gruppierungen, die sich selbst als links bezeichnen, aber repressive Regimes
dulden, erweisen strategisch gesprochen dem notwendigen politischen,
theoretischen und praktischen Aufbauprozess einer neuen antikapitalistischen
Utopie - die in der Lage ist, breite Schichten von Jugendlichen, Frauen und
der arbeitenden Bevölkerung wieder zu begeistern - einen schlechten Dienst.
Eine neue antikapitalistische Massenlinke wird nur dann Bestand haben, wenn
sie demokratisch und unabhängig ist und sich von autoritären "Modellen"
abgrenzt. 

 

Zuletzt stellt sich eine Frage, die für jeden Aktivisten und jede
sozialistische Organisation in Lateinamerika und in der ganzen Welt im
Mittelpunkt stehen sollte: Wie können wir die Erwartungen der arbeitenden
Bevölkerung, der einfachen Menschen und der spärlichen Überreste der
unbürokratischen Linken erfüllen? Dürfen wir die Kräfte links von der PSUV
und die verdeckt agierenden Kritiker im Inneren der in sich gespaltenen
PSUV, die unermüdlich gegen die Diktatur auftreten und daher verfolgt werden
oder im Gefängnis sitzen, im Stich lassen? Unsere vorrangige
internationalistische Aufgabe ist es, ihre Kämpfe zu unterstützen, ihre
Einheit im Widerstand zu fördern und ihnen nicht nur das Überleben zu
ermöglichen, sondern ihnen auch Luft zum Atmen zu verschaffen. Ohne
Berücksichtigung dieser Kriterien folgt man vielleicht einer geopolitischen
Logik, aber das hat nichts mit einem Internationalismus von unten zu tun.
Letztendlich liegt die einzige strategische Garantie für ein souveränes
Venezuela, für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, für gesellschaftliche
Änderungen und mittelfristig für die Machtübernahme des Volkes in den Händen
der sozialen und politischen Subjekte, die in den goldenen Jahren des
bolivarischen Prozesses die Hauptrolle gespielt haben, und nicht in den
Händen ihrer Totengräber.

 

 

Ana Cristina Carvalhaes, Journalistin und Bundesbeamtin, ist
Gründungsmitglied der brasilianischen PSOL und Mitglied des Exekutivbüros
der Vierten Internationale.

Luís Bonilla-Molina ist ein venezolanischer Universitätsdozent, kritischer
Pädagoge und Präsident der venezolanischen Gesellschaft für vergleichende
Bildung.

/Übersetzung aus dem Französischen: E. F./

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2024 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]  Ein breiter Zusammenschluss linker Parteien, der 1990 von der
brasilianischen PT ins Leben gerufen wurde und heute über 100 Organisationen
umfasst, darunter die Kommunistische Partei Kubas, Ortegas Partei in
Nicaragua sowie Evo Moralez und seine MAS in Bolivien. Die Frente Amplio in
Uruguay distanziert sich seit über einem Jahr von Maduro. Heute haben Lula,
Petro (Kolumbien) und López Obrador (Mexiko) den Block endgültig
"gesprengt".

[2]  Partido Socialista Unido de Venezuela (Vereinigte Sozialistische Partei
Venezuelas), die Partei von Präsident Nicolás Maduro. 

[3]  Diosdado Cabello moderiert eine Fernsehsendung, in der er Abtrünnige
als Verräter "verurteilte" und sie mit einem riesigen Hammer "hinrichtete".
Nein, das ist keine fiktive Erzählung aus dem lateinamerikanischen magischen
Realismus.

[4]  Es handelt sich dabei um die Präsidenten der Staaten Brasilien,
Kolumbien und Mexico.

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