[IPK] Die aktuelle Autokrise hat sich lange angebahnt

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Mo Okt 28 20:49:04 CET 2024


Ökonomie:

Die aktuelle Autokrise hat sich lange angebahnt
Online unter: https://www.inprekorr.de/636-auto.htm

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Die europäische Automobilindustrie stolpert von einer Krise in die nächste.
Sie ist aber immer noch die Branche mit den meisten Beschäftigten in der
gesamten verarbeitenden Industrie.

 

 

Von Jean-Claude Vessillier

 

 

2023 waren in den Ländern der Europäischen Union eine Million Arbeiter:innen
in den Automobilwerken und 1,2 Millionen bei den Ausrüstern und Zulieferern
beschäftigt. Zählt man alle direkt mit der Automobilproduktion verbundenen
Aktivitäten zusammen, kommt der Europäische Verband der Automobilhersteller
auf eine Gesamtzahl von 3,4 Millionen Beschäftigte.

 

Das Ende der Automobilindustrie in Europa ist also noch lange nicht
gekommen, auch wenn die Produktion von Autos und Nutzfahrzeugen von fast 17
Millionen Fahrzeugen im Jahr 2000 auf 10 Millionen im Jahr 2023
zurückgegangen ist, ein Rückgang um 40 %.  In Deutschland ging die
Produktion um 20 % zurück, in Frankreich und Italien im selben Zeitraum um
zwei Drittel. Die Pandemie und die anschließende Krise bei der Versorgung
mit Bauteilen bildeten einen weiteren Schritt in diesem strukturellen
Abwärtstrend.

 

Der Verkauf von Autos, der aufgrund des internationalen Handels und der
Standortverlagerungen von der Produktion abgekoppelt ist, ist ebenfalls
rückläufig und ist von 17 Millionen Fahrzeugen im Jahr 2000 auf weniger als
12 Millionen im Jahr 2023 gesunken, was einem Rückgang von 30 % entspricht.
Der Hauptgrund dafür ist, dass die Verbreitung des Automobils in Westeuropa
einen Sättigungsgrad erreicht hat, der umso ausgeprägter ist, als in den
meisten europäischen Großstädten die Nutzung des Autos immer stärker
eingeschränkt wird.

 

Diese Trends sind in der übrigen Welt nicht zu beobachten. Der Schwerpunkt
der globalen Automobilindustrie hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten
verschoben. China ist seit 2009 der größte Automarkt der Welt und ein
Drittel der Autos weltweit wird dort verkauft. In der globalisierten
Automobilindustrie ist Europa ein schwaches Glied, weshalb sich die
europäischen Autokonzerne auf anderen Kontinenten nach Geschäftsfeldern und
Gewinnquellen umsehen.

 

Die letzten Jahre nach der Pandemie waren für die Autokonzerne ein Eldorado.
Laut der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst Young hat die
durchschnittliche Rentabilität der Automobilhersteller im Jahr 2023 mit 8,6
% den höchsten Stand seit der großen Rezession 2008–2009 erreicht. Das Geld
ging hauptsächlich an die Aktionäre, weniger in Investitionen und noch
weniger in die Löhne und Arbeitsbedingungen derjenigen, die durch ihre
Arbeit den Wohlstand produzieren. Umso brutaler ist der Schock heute. Die in
Europa angehäuften Schwierigkeiten verleihen in Verbindung mit der
Globalisierung der aktuellen Krise ihre ganze Schärfe.

 

 

DER SCHWIERIGE ÜBERGANG ZUM ELEKTROAUTO

 

Die Automobilfirmen, mit Ausnahme von PSA (das sich inzwischen mit Fiat
zusammengeschlossen und Stellantis gegründet hat), haben den von der
Europäischen Union für 2035 beschlossenen Übergang zu Elektroautos mit
möglichen Anpassungen verteidigt. Volkswagen, der größte europäische
Autohersteller, hatte sich gerade ein wenig von Dieselgate erholt. Der
Umstieg auf Elektroautos ist keine ökologische Notwendigkeit, denn die
Einsparungen bei den Schadstoffemissionen, die während der Fahrt erzielt
werden, heben sich auf, wenn man die gesamte Produktionskette
berücksichtigt, von der Gewinnung der für die Herstellung der Batterien
benötigten Materialien bis hin zu der noch ungelösten Frage der Entsorgung.
Außerdem wird der Strom überwiegend aus umweltschädlichen Quellen oder
mithilfe von AKW erzeugt.

 

 

NEUE ABSATZMÄRKTE FÜR EINE INDUSTRIE IM NIEDERGANG FINDEN

 

Die Gründe für die Entscheidung, auf Elektroautos umzusteigen, liegen also
woanders, nämlich in der Notwendigkeit, neue Absatzmärkte für eine Industrie
mit Wachstumsschwäche zu finden, wenn nicht gar zu erzwingen, und in der
Erkenntnis, dass Erdöl eine Ressource ist, deren Nutzungsdauer zeitlich
begrenzt ist.

 

Dieser Umstieg auf Elektroautos war bislang durch die Kaufprämien der
öffentlichen Hand für reiche Käufer solcher Fahrzeuge mit einem
Durchschnittspreis von über 40 000 Euro „angekurbelt“ worden. Doch diese
Hilfen für die Reichsten werden nun aufgrund der Sparpolitik eingestellt.
Dies begann in Deutschland, wo der Verkauf von Elektroautos im August 2024
um 69 % einbrach, in Europa betrug der Einbruch 44 %. Abgesehen von diesen
konjunkturellen Maßnahmen sind Elektroautos heute immer noch viel zu teuer,
als dass sie so weit verbreitet sein könnten wie das „Auto“ der 1970er
Jahre. 

 

In ganz Europa gibt es bereits Überkapazitäten in der Produktion. In Italien
wurde das Werk Mirafiori in Turin, in dem der FIAT 500 E hergestellt wurde,
„vorübergehend“ geschlossen. Die Renault-Werke in Douai Maubeuge, die im
nächsten Jahr 400 000 Autos produzieren sollen, werden bis 2024 nur 150 000
Elektroautos herstellen. Viele Pläne der europäischen Firmen werden nach
unten korrigiert.

 

Was bei den Autoherstellern passiert, geschieht verstärkt bei den
Batterieherstellern. Sie sind ein Schlüsselelement bei der Herstellung eines
Elektroautos, denn der Preis der Batterien beträgt bis zur Hälfte des
Gesamtpreises eines E-Autos. Ihre „Gigafabriken“ – Gigas wegen der Anzahl
der Bytes der Bauteile, nicht wegen der Anzahl der Beschäftigten – wurden
durch Subventionen, die von den Regierungen Nordamerikas und Europas
angeboten werden, zum Aufbau von Kapazitäten ermuntert. Dies hat zu einem
regelrechten Run auf diese neue Profitquelle geführt. Und damit ist – ganz
klassischerweise und in Kombination mit den derzeitigen Wachstumsrückständen
bei Elektrofahrzeugen – die Überproduktion bereits da. 

 

 

EIN UND DASSELBE OLIGOPOL DER AUTOKONZERNE SEIT 50 JAHREN

 

Die Herstellung von Elektroautos erfordert andere Produktionsketten als die
von herkömmlichen Autos mit Verbrennungsmotor, einschließlich
Batterieherstellern und Softwareentwicklern, die für die Steuerung des
Fahrverhaltens des Autos benötigt werden. Dies bringt das Oligopol ins
Wanken, das die Automobilindustrie um die gleichen nordamerikanischen,
europäischen und japanischen Firmen herum dominiert.

 

Der Aufschwung des chinesischen Automobilmarktes seit den 2000er Jahren
hatte die bislang dominierenden Automobilfirmen begünstigt. Nach der großen
Rezession 2008–2009 konnten die westlichen Automobilkonzerne in China
Produktionskapazitäten aufbauen, Millionen Autos verkaufen und die in China
erwirtschafteten Gewinne in ihre Konzernzentralen transferieren. Dies gilt
insbesondere für die deutschen Automobilkonzerne Volkswagen, BMW und
Mercedes.  Im Jahr 2023 trug das China-Geschäft von Volkswagen 2,62
Milliarden Euro zum Gesamtbetriebsgewinn des Unternehmens bei, was gegenüber
5 Milliarden Euro im Jahr 2015 ein Rückgang ist. Weltweit werden 4 von 10
Volkswagen-Autos in China verkauft. 

 

Doch heute ändert sich die Situation.  Die chinesische Firma BYD wurde
Anfang 2024 zur ersten Autofirma, die in China mehr Autos verkauft hat als
Volkswagen. Die meisten Beobachter halten dieses Ergebnis für unumkehrbar,
da es auf die Wettbewerbsvorteile zurückzuführen ist, die die chinesischen
Firmen um ihre neuen Elektroautos herum aufbauen konnten.

 

Andere nicht-chinesische Autokonzerne haben mit den gleichen Schwierigkeiten
zu kämpfen. Der Handelskrieg zwischen den USA und China und jetzt auch der
Europäischen Union wird die aktuellen Entwicklungen noch verstärken.

 

Und gleichzeitig will Tesla in Europa nach der Berliner Fabrik [bei
Grünheide] weitere Fabriken bauen. Tesla, das ist die aus Kalifornien
stammende Firma mit einer Marktkapitalisierung von 850 Milliarden Dollar und
einer Million produzierter Autos, kaum mehr als ein Zehntel der von
Volkswagen oder Toyota verkauften Autos.

 

Volkswagen oder z. B. Stellantis wollen Fabriken schließen. Konkurrenten
wollen neue errichten. Das ist das Wesen der kapitalistischen Anarchie, die
durch den Wettbewerb angeheizt wird, Überproduktion erzeugt und der
Verteilung der verfügbaren Arbeit auf alle, der Verkürzung der Arbeitszeit
und der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung zuwiderläuft. 

 

Die Zulieferer sind von den laufenden Veränderungen am stärksten betroffen.
Die mächtigsten Unternehmen, wie Bosch in Deutschland oder Valeo in
Frankreich, passen sich den Veränderungen an, indem sie sich mit der
Schließung von Betrieben und der Verlagerung von Aktivitäten
umstrukturieren. Die anderen Ausrüstungshersteller und Zulieferer, die oft
nur eine einzige Technik anbieten, werden von ihren Auftraggebern, den
Automobilherstellern, im Stich gelassen. In Deutschland ist es der
Zulieferer ZF, der 14 000 von 54 000 Arbeitsplätzen streicht. Und es ist
dieselbe ZF, die die Schließung eines seiner Zulieferer in Straßburg
(Frankreich) veranlasst.

 

Diese Angriffe sind Vorläufer dessen, was sich bei den Automobilherstellern
abzeichnet, die sich gerade anschicken, ihre Produktionskapazitäten durch
die Schließung von Fabriken und die Entlassung von Arbeiter:innen zu senken.
Dies ist die Absicht von Volkswagen, das damit droht, neben dem Audi-Werk in
Belgien auch ein Werk in Deutschland zu schließen. Dies ist auch eine
Möglichkeit für Stellantis in Bezug auf das Mirafiori-Werk in Turin, das
derzeit „vorübergehend“ geschlossen ist. 

 

Da die Autoproduktion rückläufig ist und das Auto zunehmend mit
Umweltverschmutzung und Klimaschädigung in Verbindung gebracht wird, könnte
die Versuchung bestehen, nicht gegen die Schließung solcher Fabriken zu
kämpfen. Franco Turigliatto, Führungsmitglied von Sinistra anticapitalista
(Italien), bemerkte dazu: „Im Gegensatz zu dem, was einige unaufmerksame
Beobachter, sogar aus der Linken, behaupten, betrifft das mögliche
Verschwinden von Mirafiori nicht nur die Zukunft von Zehntausenden von
direkt betroffenen Arbeiter:innen, sondern wird sich auch auf die Zukunft
der Stadt und ihre soziale Struktur auswirken. In der Vergangenheit haben
die Löhne und Einkommen, selbst die bescheidenen, die durch die starke
Präsenz des Industriesektors garantiert wurden, eine kollektive Organisation
für eine gegenseitige Unterstützung und Solidarität in der Arbeiterklasse
ermöglicht, die Perspektiven für eine soziale Alternative eröffnete“.

 

Deshalb betrifft der Kampf gegen die Werksschließungen die gesamte soziale
Bewegung über die Automobilbranche hinaus. Der Widerstand von heute gegen
die Umsetzung der Pläne der Arbeitgeber bereitet die notwendigen Offensiven
von morgen vor.  

 

 

WIDERSTAND DER ARBEITER:INNEN IST ANGESAGT

 

Während sich die Angriffe der Konzerne in ganz Europa ausweiten, werden
Gegenmaßnahmen der Arbeiter:innen der gesamten Automobilbranche vorbereitet:
in Frankreich am 17. Oktober mit einer geplanten Kundgebung von
Beschäftigten vor dem Pariser Autosalon, in Italien am 18. Oktober mit einem
historischen Tag der Mobilisierung gegen die Pläne von Stellantis-Chef
Tavares und in Deutschland mit Aktionen gegen die Pläne von Volkswagen zur
Schließung von Werken. „Gleichzeitig“ zu handeln, ist bereits ein positives
Signal. Der Weg zu einer Mobilisierung gegen eine immer stärker
konzentrierte Autoindustrie ist angesichts der Realität der heutigen
zersplitterten Arbeiterbewegung allerdings noch weit.

 

Im Verlauf der Widerstandsaktivitäten kann Unerwartetes eintreten. Ein
Beweis dafür ist der erfolgreiche Streik der Automobilarbeiter vor einem
Jahr in den USA. Sie gewannen gegen die „Großen Drei“ General Motors, Ford
und Stellantis mit ihrer Gewerkschaft UAW (United Auto Workers), deren
Führung erst wenige Monate zuvor erneuert worden war. Es wurden erhebliche
Lohnerhöhungen, ein Ende der Lohnunterschiede nach Einstellungsjahren und
auch Investitionsverpflichtungen der Konzerne erreicht. Die Zukunft der
gegenwärtigen Krise der Automobilindustrie hängt von den sozialen
Kräfteverhältnissen ab, die die Arbeiterbewegung durchsetzen kann oder
nicht. 

 

 

8.10.2024

/Übersetzung: J. S./

Jean-Claude Vessillier, bis zu seiner Rente Statistiker und Gewerkschafter
bei Renault, ist Mitglied der NPA und der IV. Internationale.

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2024 

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