[IPK] Buchbesprechung: Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung und Völkermord
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Fr Jul 18 09:58:06 CEST 2025
Palästina/Buchbesprechung:
Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung und Völkermord
Online unter: https://www.inprekorr.de/646-pal-buch.htm
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Zum Buch von Helga Baumgarten und Norman Paech: /Völkermord in Gaza. Eine
politische und rechtliche Analyse/
[https://mediashop.at/buecher/voelkermord-in-gaza/]. Wien: Promedia 2025
Von Jakob Schäfer
Getreu der deutschen Staatsräson streiten offizielle Stellen in Deutschland
weiterhin beharrlich ab, dass heute im Gazastreifen Völkermord betrieben
wird. Das Buch von Baumgarten/Paech liefert politische und juristische
Argumente und Belege für die Einordnung des Massakers, das sich hier vor den
Augen der Weltöffentlichkeit abspielt. Im ersten Teil des Buches zeichnet
Baumgarten in vier Abschnitten die Geschichte des zionistischen
Siedlerkolonialismus nach. Sicher, diese Geschichte ist von einer Reihe von
Autoren (von Walter Hollstein bis Ilan Pappé) aufgearbeitet worden, aber der
Gewinn der hier vorliegenden neuen Darstellung liegt in der
Übersichtlichkeit und im Anführen neuer Belege, die man sonst – wenn
überhaupt – nur verstreut findet.
Wir wollen ein paar Schlaglichter von Baumgartens Darstellung herausgreifen:
Der Widerstand gegen die zionistische Besiedlung begann schon vor dem 1.
Weltkrieg, als die Araber:innen (Muslim:innen und Christ:innen) noch 92
Prozent der Bevölkerung ausmachten. In den 1920er Jahren wurde ihr
Widerstand politisch und gipfelte 1936–39 in einem Aufstand, der von den
Briten im Verbund mit zionistischen Kampfgruppen brutal niedergeschlagen
wurde. Baumgarten zitiert dazu den israelischen Historiker Ilan Pappé:
„Großbritannien regierte nicht mit Würde und es verließ Palästina auch nicht
mit Würde. Stattdessen schuf es ein Vakuum, das zur ethnischen Säuberung
Palästinas führte und zur Etablierung des Staates Israel auf den Ruinen
Palästinas.“
Die zweite Phase des Siedlerkolonialismus wurde 1947/48 mit der Nakba, der
„Katastrophe“ eingeleitet: 750 000 Menschen wurden vertrieben und mehr als
400 Dörfer wurden zerstört. Massaker wie das im Dorf Deir Yassin waren keine
Seltenheit. Mit der Staatsgründung Israels (Mai 1948) wurde der
Siedlerkolonialismus mit staatlicher Macht abgesichert. Der Unterschied
dieses Systems zur Apartheid Südafrikas: In Südafrika waren die Schwarzen
für die Wirtschaft „essenziell“, wie Baumgarten es formuliert. In Palästina
wurde die einheimische Bevölkerung systematisch aus der Wirtschaft
ausgeschlossen.
Mit der Besetzung der Reste des historischen Palästinas im „Sechstagekrieg“
von 1967 betraf die strukturelle Unterdrückung der palästinensischen
Bevölkerung mit einem Schlag noch mehr Menschen. Das Osloer Abkommen (1993)
bildete die Grundlage für eine massive Ausdehnung der israelischen
Siedlungen im Westjordanland und das permanente Schikanieren der
palästinensischen Bevölkerung auf einem extrem zerstückelten und immer
kleiner werdenden Flecken Land. Fortgesetzter Landraub und Angriffe der
Siedler auf Zivilist:innen haben seit dem 7. Oktober 2023 sprunghaft
zugenommen. Ich füge hinzu: Von Oktober 2023 bis Anfang Juli 2025 sind im
Westjordanland 924 palästinensische Todesopfer und 8 515 Verletzte bestätigt
worden. Baumgarten fasst die Gesamtentwicklung folgendermaßen zusammen:
„Ein integraler Bestandteil des Siedlerkolonialismus ist die kontinuierliche
Expansion, um immer mehr Land in Besitz zu nehmen. Damit einher geht die
ethnische Säuberung mit dem Ziel, auf dem neu erworbenen Land die volle
Souveränität des siedlerkolonialistischen Regimes durchzusetzen. In
besonderen Fällen führt die ethnische Säuberung nicht nur zur Vertreibung,
sondern zu einem regelrechten Völkermord, wenn sich nämlich die
Kolonisierten weigern, ihr Land und ihre Heimat zu verlassen und wenn die
Siedlerkolonialisten nicht bereit sind, eine wie auch immer geartete
Koexistenz mit den Kolonisierten zu akzeptieren.“ (S. 80)
Baumgartens Gesamtüberblick und die von ihr angeführten Belege – es sind
international nicht angezweifelte Fakten, offizielle Regierungserklärungen
sowie programmatische Aussagen führender Zionist:innen – sind hilfreich für
die Argumentation mit Menschen und Institutionen, die sich in der
Beurteilung der israelischen Politik unschlüssig sind.
Zwei Kritikpunkte müssen wir allerdings benennen, auch wenn sie für die
Gesamtaussage des Buchs ohne Bedeutung sind. Baumgarten schreibt (S. 76):
„Das Scheitern jeglichen friedlichen Massenwiderstands ließ den Menschen im
Gazastreifen und ihren politischen Führungen nur zwei Alternativen:
* kein Ende des langen Krieges gegen Gaza mit immer mehr Opfern und
Zerstörungen, mit immer mehr und immer heißeren Phasen in immer kürzeren
Zeitabständen oder aber
* bewaffneter Widerstand mit dem Versuch, die Blockade um Gaza für immer
aufzuheben und Freiheit für die Menschen in Gaza zu erkämpfen.“
Dies mag den Menschen so – also im Grunde als ein unausweichliches Dilemma –
erschienen sein, aber es ist nicht weit genug gedacht, vor allem, was die
Folgen angeht. Denn angesichts der militärischen (einschließlich der
geheimdienstlichen), der ökonomischen und strategischen sowie geopolitischen
Kräfteverhältnisse kann das Einschlagen des militärischen Wegs nur in eine
Sackgasse führen, genauer: nur zum Liefern neuer Vorwände für die
israelische Regierung, die ethnische Säuberung und den Völkermord noch
brutaler voranzutreiben, und zwar nicht nur im Gazastreifen. Will die
palästinensische Bevölkerung für ein Ende des Kriegs kämpfen, bleibt nur der
politische, internationalistische Weg. Und der muss auf drei Ebenen
beschritten werden:
1) Die Brücken zur (zugegebenermaßen kleinen) regierungskritischen und
humanistisch gesinnten Opposition in Israel müssen ausgebaut und gefestigt
werden.
2) Mindestens genauso wichtig – letztlich die entscheidende Ebene – ist die
enge politische Kooperation mit den breiten Volksmassen in den
Nachbarländern, vor allem in Jordanien, Ägypten, Libanon und Syrien.
3) Nicht ganz unerheblich ist aber auch eine Stärkung der
Solidaritätsbewegung in den imperialistischen Ländern (etwa im Zusammenhang
mit der BDS-Kampagne).
Ohne wesentliche Fortschritte auf diesen Ebenen kann das Überleben der
palästinensischen Bevölkerung nicht gesichert werden, von einer Überwindung
des „Konflikts“ noch gar nicht zu reden.
Unser zweiter Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass Helga Buamgarten (auf
S. 90) einen Artikel von Al Jazeera zitiert, ohne die dort gezogenen
Schlussfolgerungen anzuzweifeln oder auch nur vorsichtig zu kommentieren. Es
heißt dort: „Die israelische Arroganz und das Gefühl von Sicherheit, dass
man ungestraft unterdrücken, morden und stehlen kann, wurden [mit der Aktion
vom 7. Oktober 2023] zerbrochen. Israel hält uns als Geiseln seit
Jahrzehnten fest. Seit Generationen sind wir Gefangene in unserem Land. Aber
in diesem Oktober … hat der Tyrann einen Schock erlitten. Unsre Unterdrücker
morden wieder in blinder Raserei, aber ein unangenehmes Gefühl breitet sich
schleichend aus bei ihnen, dass nämlich das Gefängnis, in dem sie uns
festhalten, angefangen hat, zu zerbröckeln.“
Sicher, Helga Baumgarten macht sich diese Einschätzung des Zerbröckelns des
Gefängnisses nicht zu eigen (zumindest nicht explizit), aber das reicht
nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte nach einem solchen Zitat
sinngemäß festgehalten werden: Der zionistische Staat ist heute
international so diskreditiert wie er es noch nie war und auch
innenpolitisch könnte es Schwierigkeiten geben, wenn sich herausstellt
(erste Anzeichen dafür gibt es), dass die rassistische Politik der
israelischen Regierung selbst im Interesse der religiösen Hardliner
überdehnt wurde. Eine wachsende Zahl von Menschen kann Zweifel an der Raison
d’être des Zionismus und an der ihm eingepflanzten Herrenvolkideologie und
dem damit strukturell verbunden Rassismus kommen. Doch diese mögliche
Perspektive (es ist kaum mehr als eine zarte Hoffnung) bedeutet in keiner
Weise, dass das „Gefängnis, in dem sie [die Israelis] uns [die
Palästinenser:innen] festhalten, angefangen hat, zu bröckeln.“ Sicher:
dieser Artikel datiert vom 14. Oktober 2023, aber ihn heute ohne Kommentar
oder Einordnung zu zitieren, ist eine schwer zu verstehende Unterlassung.
Schließlich ging es der palästinensischen Bevölkerung noch nie so schlecht
wie heute.
RECHTLICHE BEWERTUNG DES VÖLKERMORDS IM GAZASTREIFEN
Norman Paech, ein über alle Zweifel erhabener Völkerrechtler, ist – wie
übrigens auch Helga Baumgarten – seit Jahrzehnten in der
Solidaritätsbewegung für Palästina aktiv. Auf gut hundert Seiten führt er
eine ganze Reihe von Belegen an, die deutlich machen, dass Israel eine
Besatzungsmacht ist, die sich noch nicht mal an die daraus sich ergebenden
Verpflichtungen hält. „Für die Regelung der Besatzung gelten die Genfer
Konventionen, die Israel am 6. Juli 1951 ratifiziert hat, und die HLKO
[Haager Landkriegsordnung] von 1907, die Israel aber weder unterzeichnet
noch ratifiziert hat. Der Oberste Gerichtshof in Jerusalem hat jedoch
festgestellt, dass die HLOK von 1907 Teil des Völkerrechts geworden ist und
damit für alle Staaten verbindlich ist, auch für diejenigen, die dem Vertrag
nicht beigetreten sind. Das ist heute unter den Staaten Konsens. Doch die
israelische Regierung ist anderer Ansicht: für die besetzten Gebiete, also
auch den Gazastreifen, würden die Verpflichtungen nicht gelten.“ (S. 153 f.)
Paech gibt auch einen Überblick über die Vorgeschichte und die
völkerrechtliche gebotene Bewertung der Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023.
So können wir politisch wie rechtlich nachvollziehen, wie sich die Politik
der ethnischen Säuberung verschärft, ja brutalisiert hat. Jahrzehntelang (im
Grunde seit dem ersten Libanonkrieg in den 1980er Jahren und schließlich in
kodifizierter Form seit 2006) wurde die israelische Strategie von der
Dahiya-Doktrin bestimmt (Dahiya ist ein Vorort von Beirut). Damals befahl
der seinerzeitige Generalstabschef Gadi Eisenklot im Libanonkrieg nach einem
Beschuss der israelischen Invasionstruppe durch libanesische Kräfte die
massive Vernichtung des „feindlichen Gebiets“ einschließlich der Vernichtung
ziviler, lebenswichtiger Infrastruktur und Wohngebiete. Dies wurde seit
jener Zeit zur Kriegsstrategie der israelischen Armee.
Mit der Operation „Eiserne Schwerter“ (seit dem 8. Oktober 2023) ist selbst
diese völkerrechtswidrige Strategie noch in den Schatten gestellt worden.
Die Politik der ethnischen Säuberung hat inzwischen das Ausmaß eines
Völkermords erreicht. Wir dürfen uns über die Absichten der israelischen
Regierung nicht täuschen: Einer der maßgebenden Minister in Netanyahus
Kabinett, Finanzminister Smotrich (Vorsitzender der Nationalen Religiösen
Partei – Religiöser Zionismus) erklärte am 30. Mai 2024 zur anvisierten
Ausdehnung des Kriegs auf das Westjordanland: „Wir werden euch in Schutt und
Asche legen, wie wir es jetzt im Gazastreifen tun.“ Paech fügt an:
„Vergleichbare Aussagen lassen sich bis in die Gegenwart dokumentieren.“ (S.
191)
Die Perspektiven sind eher düster. Paech führt aus: „Die letzten Jahre unter
der immer stärker rassistisch auftretenden Regierung Netanyahu haben
offensichtlich zu einer Radikalisierung der jüdischen Gesellschaft in der
Besatzungsfrage geführt, und zwar nicht nur in rechtsextremen Kreisen. Die
Rechtsradikalen wollen den Gazastreifen von Palästinenser:innen säubern und
selbst dort siedeln. Der Polizeiminister Itamar Ben-Gvir war einer der
Podiumsteilnehmer auf einer Konferenz am 20. Oktober 2023, die die
Neubesiedlung zum Thema hatte. Das Motto lautete: ‚Erobern, rausschmeißen,
neubesiedeln‘.“
Wir fügen hinzu: Das Verheerende ist, dass es zu solchen Vorhaben kaum
Proteste in der israelischen Gesellschaft gibt und dass der zurzeit laufende
Völkermord nur wenige Menschen in Israel berührt. So tief und nachhaltig ist
der Rassismus in der israelischen Gesellschaft inzwischen verankert.
Zusammenfassend lässt sich zu dem vorliegenden Buch sagen: Die politische
und rechtliche Analyse, die uns Helga Baumgarten und Norman Paech hier
präsentieren, ist sehr wertvoll. Sie gibt der Solidaritätsbewegung Argumente
an die Hand, vor allem in den Diskussionen mit Zweiflern in der
Palästinafrage oder mit Anhängern der deutschen Staatsräson. Wir wünschen
dem Buch eine weite Verbreitung.
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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 5/2025
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de
Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR
Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%
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