[IPK] Bankrott der "westlichen Wertegemeinschaft"

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Mo Jul 7 09:43:18 CEST 2025


Nahost:

Bankrott der „westlichen Wertegemeinschaft“
Online unter: https://www.inprekorr.de/644-nahost-bankrott.htm

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Die Mitte Mai 2025 gestartete neue Offensive der israelischen Armee versetzt
einige Regierungen des Westens zwar in Erklärungsnöte. Doch eine Änderung
ihrer Politik ist nicht zu erwarten.

 

 

Von Jakob Schäfer

 

 

Am 16. Mai startete die IDF (israelische Armee) ihre „Gideon’s Chariots“
genannte Offensive. Neu daran ist, dass nun erstmals „regierungsoffiziell“
verlautbart wurde, was das Ziel ist, nämlich die dauerhafte Besetzung
(Einnahme) des Gazastreifens (mindestens großer Teile desselben). Hier nun
haben die meisten Regierungen des „freien Westens“ ihre Probleme, treten sie
doch im Fall der Ukraine oder ähnlicher Konflikte für die „Einhaltung des
Völkerrechts“ und die „Unverletzlichkeit von Grenzen“ ein.

 

Dass seit dem 19. Oktober 2023 ein erbarmungsloser Krieg gegen die
palästinensische Bevölkerung geführt wird, hat die Regierungen der
„westlichen Wertegemeinschaft“ nicht gekümmert und wurde gebetsmühlenartig
mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“ erklärt. Heuchlerisch daran war und
ist, dass während der ganzen Zeit die Fakten klar sind und spätestens seit
Bekanntwerden des „Plans der Generäle“ [1] deutlich war, dass die
Herrschenden in Israel die Gelegenheit des Angriffs vom 7. Oktober 2023 und
die Geiselnahme nutzen, dem Ziel eines Großisrael (Erez Israel) ein
bedeutendes Stück näher zu kommen, und zwar mittels einer drastischen
Verschärfung ihrer Politik der ethnischen Säuberung.

 

Es ist die spezifische Verbindung des langanhaltenden, völkermörderischen
Kriegs im Gazastreifen mit der nicht mehr zu leugnenden Zielsetzung der
israelischen Regierung (nämlich der dauerhaften Besetzung), was es den
westlichen Regierungen seit kurzem so schwer macht, einfach nur zu
schweigen. Dabei haben vorangegangene Grenzverletzungen vonseiten Israels im
Libanon und in Syrien den Westen lediglich veranlasste, zur „Mäßigung“
aufzurufen. Die aktuellen Erklärungen der westlichen imperialistischen
Regierungen zum Gazakrieg sollen nun die Bevölkerung im eigenen Land wie
auch die Regierungen im Globalen Süden von der Werteorientierung mindestens
der europäischen Regierungen überzeugen. Dabei wird aber verschwiegen:

 

Die „westliche Wertegemeinschaft“ hat trotz des bekannten Ausmaßes des
Kriegs gegen die Bevölkerung im Gazastreifen der israelischen Regierung
unablässig den Rücken gestärkt.

 

Die Kritiker in den eigenen Ländern wurden und werden weiterhin unterdrückt,
vor allem in den USA und in Deutschland. Dass sich bei uns sogar Teile der
Linken vor den Karren der „Deutschen Staatsräson“ spannen lassen, ist
besonders traurig. [2]

 

Vor allem aber: Die westlichen imperialistischen Staaten haben ohne
Unterlass Waffen (vor allem Unmengen an Munition) nach Israel geliefert,
nicht zuletzt die 500-Pfund-Bomben, mit denen selbstredend keine
„Terroristen“ ins Visier genommen werden können. Sie sind per se auf
maximale Zerstörung ausgelegt.

 

„Die Zahlen sind unglaublich. Israel warf innerhalb eines Jahres mehr als
100 Tonnen Bomben auf Gaza ab. […] Den Angaben zufolge warf die israelische
Armee innerhalb von sechs Monaten, zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 24.
April 2024, etwa 70 Tonnen Bomben auf den Gazastreifen […] und ebenso viel
in den darauf folgenden sechs Monaten, von Mai bis Oktober 2024. [3]“
Übrigens: Etwa 10 % der abgefeuerten Landmunition explodierten nicht und
stellen eine dauerhafte Gefahr dar. /Lancet/, eine der weltweit führenden
medizinischen Fachzeitschriften, schätzt die Zahl der Todesopfer auf 186
000. Die Zahl der Verletzten und für immer Verstümmelten beträgt ein
Vielfaches davon.

 

Es sind nicht nur die menschlichen Opfer und die fehlenden (weil
blockierten) Hilfslieferungen: Die gesamte Infrastruktur ist zerstört. Es
gibt keine Wasserversorgung, keine Schulen, keine funktionierenden
Krankenhäuser usw. All dies wissen die Regierungen in Washington, Berlin und
anderswo und sie wissen, dass sie dafür mitverantwortlich sind. So ist ihr
ganzes Gerede von der schwierigen humanitären Lage im Gazastreifen nur
leeres Geschwätz. 

 

 

EINE FRAGE DER GEOPOLITIK

 

Zurzeit existieren in der „westlichen Wertegemeinschaft“ zwei verschiedene
Linien der Außenpolitik.

 

Die Mehrheit der europäischen Staaten verfolgt die Linie, das Verhängen von
Sanktionen oder ihr direktes Eingreifen in andere Länder mit dem Schutz der
Menschenrechte und der Unverletzlichkeit der Grenzen zu rechtfertigen. Bis
zum Regierungswechsel in den USA war dies in groben Zügen auch dort die
offizielle Linie, wobei man sich in der Wirklichkeit allerdings keinen Dreck
darum scherte. Es war eben nur die nach außen (gegenüber dem Rest der Welt)
genutzte „Erklärung“ ihrer Interventionspolitik. Schon immer waren die
wirklichen ökonomischen und militärischen Interessen das Ausschlaggebende.
Clinton zum Beispiel erklärte seinerzeit sein Nichteingreifen in den
Kaschmirkonflikt damit, dass sein Land dort keine eigenen Interessen habe
und sich deshalb ein Eingreifen nicht lohne.

 

Die neue US-Regierung erklärt ganz offen, dass sie Machtpolitik betreibt,
weil sie die Interessen der USA (Make America Great Again, MAGA) verfolgt.
In Wirklichkeit sind es natürlich die Interessen der Reichen und Mächtigen
in den USA, nicht der breiten Bevölkerung.

 

Speziell die europäischen Regierungen haben (noch) Schwierigkeiten, auf
diese Politikvariante umzuschwenken, schließlich haben sie lange Zeit – auch
und gerade im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg – ihre Politik mit dem
„Völkerrecht“ erklärt und wollen nun nicht in der eigenen Bevölkerung und
gegenüber dem Globalen Süden noch mehr an Glaubwürdigkeit verlieren. Da sie
allerdings unter dem Druck der Rechtspopulisten stehen (einige sind ja schon
an der Regierung), kann sich auch in Europa in Zukunft eine weniger
verschleierte, offenere Machtpolitik durchsetzen. Exponierte Vertreterin
dieser Linie ist die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas.

 

Aufgrund dieser Tendenz und vor alle wegen der geopolitischen Zusammenhänge
sollte klar sein, dass trotz der Erklärungen verschiedener europäischer
Spitzenpolitiker:innen eine Änderung der EU-Politik gegenüber Israel völlig
unrealistisch ist, besonders in der Frage der Waffenlieferungen (die USA
stehen sowieso unverbrüchlich hinter der israelischen Politik). Denn wichtig
ist ihnen die Rückendeckung für ihren engsten Verbündeten in der Region.
Geopolitische Machtinteressen wiegen nun mal schwerer als die Bekenntnisse
zum Völkerrecht. Schon in den 1950er Jahren bezeichnete die israelische
Zeitung /Haaretz/ Israel als den Kettenhund des Imperialismus.

 

 

ETHNISCHE SÄUBERUNG UND VÖLKERMORD

 

Von Anfang an haben wir erklärt, dass es sich bei diesem Krieg um eine neue
Stufe der ethnischen Säuberung handelt. Schon nach wenigen Wochen wurde
klar, dass er dieses Mal die brutale Form des Völkermords annahm. Dies war
und ist nur möglich, weil der jahrzehntelang „eingeübte“ und praktizierte
Rassismus dieses Siedlerstaates gegenüber den Palästinenser:innen (und
gegenüber anderen arabischen Menschen) so tief in der Gesellschaft
verwurzelt ist, dass auch das Grauen dieses Kriegs nur wenig Widerstand
unter jüdischen Israelis hervorruft. Auch unter denjenigen, die sich aktiv
für ein Ende des Kriegs einsetzen, um auf diese Weise die Geiseln
freizubekommen, empfinden nur die wenigsten Empathie mit der gemarterten
palästinensischen Bevölkerung.

 

Mit dem Verlauf des aktuellen Gazakriegs und der Zuspitzung zum Völkermord
erweist sich übrigens auch der völlige Bankrott der sogenannten
Anti-Deutschen, die letztlich völkisch argumentieren. Für sie gibt es keine
gleichen Rechte aller Menschen, keinen Universalismus.

 

All dies darf uns allerdings nicht dazu verleiten, die Überzeugungsarbeit
gegenüber der Mehrheitsgesellschaft in Israel oder auch hierzulande
gegenüber den Anhänger:innen der „Deutschen Staatsräson“ einzustellen.
Mehreres gilt es unablässig zu analysieren und in unserem jeweiligen Umfeld
in geeigneter Form zu vermitteln:

 

/Erstens/: Die Politik der israelischen Regierung hat nicht erst mit der
jüngsten Offensive die Form des Völkermords angenommen, sondern schon wenige
Wochen nach Beginn dieses neuen Gazakriegs; siehe dazu die Auszüge aus der
Rede der irischen Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh, am 11.1.2024 und vom 28.
April 2025 vor dem IGH, die wir in diesem Heft (Auszüge aus Reden vor dem
Internationalen Gerichtshof, /die internationale/ Nr. 4/2025 (Juli/August
2025)) dokumentieren.

 

/Zweitens/: Das, was seit über einem Jahr (und verschärft seit einigen
Wochen) im Westjordanland geschieht, kann ebenfalls nicht mit
„Selbstverteidigung“ Israels gerechtfertigt werden. Auch in diesem
völkerrechtswidrig besetzten Gebiet, wo die palästinensische Bevölkerung
seit Jahrzehnten unter extremen Bedingungen der Apartheid lebt und
unterdrückt wird, finden unablässig Angriffe auf die einfache, unbewaffnete
Bevölkerung statt. Vor allem rassistische israelische Siedler – oft
unterstützt von der Armee – schikanieren und ermorden Menschen, die nur
einen Fehler haben, nämlich Palästinenser:innen zu sein und das Land nicht
freiwillig zu verlassen. Die Palästinenser:innen stehen dem Traum von einem
ethnisch gesäuberten Großisrael im Weg.

 

/Drittens/: Auch ein Sieg über die Hamas (was immer das konkret bedeutet)
würde nicht zu einer Lösung des Konflikts führen. Die Mehrheitsgesellschaft
in Israel (also die dortige jüdische Bevölkerung) profitiert von der
Apartheidpolitik (schließlich werden auch die in Israel lebenden 2 Millionen
Palästinenser:innen unterdrückt). Der israelische Staat sorgt dafür, dass
die jüdische Mehrheitsgesellschaft ihre privilegierte soziale Stellung
gegenüber der palästinensischen Bevölkerung nicht verliert. Den Rassismus in
Israel gilt es aufzubrechen, denn ohne eine Aussöhnung und die Durchsetzung
gleicher Rechte und gleicher sozialer Verhältnisse wird der Konflikt nicht
zu lösen sein.

 

 

„GAZA IST DER MORALISCHE KOMPASS DER WELT“ 

 

So urteilt Pfarrer Munther Isaac (Westjordanland) am 3.5.2025 auf dem
Palästinatag in Hannover über das Verhalten der Regierungen in aller Welt,
aber auch der Kirchen, die sich oft noch nicht einmal trauen, diesen
Kritiker der israelischen Politik zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Die
evangelische Kirche hat noch nicht einmal zu einem Waffenstillstand
aufgerufen.

 

Von Amnesty International bis Human Rights Watch sind die Urteile seit
Beginn der massiven Bombardierung des Gazastreifens mehr als eindeutig. Seit
Dezember 2024 sprachen mehr und mehr Organisationen und Personen von
Völkermord. John J. Mearsheimer sprach in diesem Zusammenhang am 24.12.2024
und bezogen auf die aktive Hilfestellung des Westens von “The Moral
Bankruptcy of the West.” [4]

 

Alex Lo, Kolumnist der /South China Morning Post/, kommt am 11. Mai 2025 zu
dem Schluss: „Der Westen hat im Gaza-Krieg bereits sein eigenes Grab
geschaufelt“. Er schreibt: „In vielen westlichen Ländern, aber vor allem in
den Vereinigten Staaten und in Deutschland, wird eine außergewöhnliche
Zensur ausgeübt, um jeden zum Schweigen zu bringen, der versucht, das
auszusprechen, was in Palästina vor sich geht und was jeder bereits weiß. Es
ist kein Zufall, dass die beiden Länder, die den Holocaust als universelle
politische Bildung am meisten nutzen, die beiden Länder sind, die am
aktivsten einen Völkermord in Echtzeit ermöglichen, der begangen und live
auf unseren Computerbildschirmen und Social-Media-Seiten gezeigt wird. […]
Der Westen kümmert sich mehr um die Gefühle der Schlächter als um das Leben
und die Gliedmaßen der Opfer. Die westliche ‘Zivilisation’ klingt jetzt wie
ein Widerspruch in sich selbst.“ [5]

 

Der UN-Menschenrechtsrat hat bereits bei seiner Tagung vom /26.2.–5.4.2024/
einen Bericht unter dem Titel „Anatomie eines Völkermords“ vorgelegt. [6]
Seitdem hat sich die Zahl der Opfer dramatisch erhöht. Und dennoch haben so
manche Menschen (auch unter der Linken) Schwierigkeiten, von Völkermord zu
sprechen. Weil man sich der „Deutschen Staatsräson“ beugt?

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 4/2025 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]  Mehr dazu in: Jakob Schäfer, Michael Weis: Israels Krieg gegen eine
ganze Bevölkerung [https://www.inprekorr.de/636-pal-jsmw.htm], /die
internationale/ Nr. 6/2024 (November/Dezember 2024)

[2]  Mehr zur „Deutschen Staatsräson“ unter: Jakob Schäfer, Michael Weis:
Wider die deutsche Staatsräson [https://www.inprekorr.de/632-pal-sr.htm],
/die internationale/ Nr. 4/2024 (Juli/August 2024)

[3]  Mehr Details unter: https://euromedrights.org/fr/?s=gaza
<https://euromedrights.org/fr/?s=gaza&lang=fr> &lang=fr

[4] https://mearsheimer.substack.com/p/the-moral-bankruptcy-of-the-west

[5] The Western world has already dug its own grave in Gaza war
[https://www.scmp.com/opinion/article/3309917/western-world-has-already-dug-
its-own-grave-gaza-war?module=top_story&pgtype=section]

[6] Agenda item Human Rights situation in Palestine and other occupied Arab
territories: /Anatomy of a Genocide/
[https://www.un.org/unispal/document/anatomy-of-a-genocide-report-of-the-spe
cial-rapporteur-on-the-situation-of-human-rights-in-the-palestinian-territor
y-occupied-since-1967-to-human-rights-council-advance-unedited-version-a-hrc
-55/]

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