[IPK] Türkei: Im Labyrinth der bürgerlichen Politik

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Türkei:
Im Labyrinth der bürgerlichen Politik
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Ümit Çirak

Seit dem Staatsstreich des Militärs am 12. September 1980 strukturieren zwei
grundlegende Phänomene die gesellschaftliche und politische Entwicklung in
der Türkei: Der türkische Kapitalismus integriert sich immer stärker in die
globalisierte Weltwirtschaft, und die kurdische nationale Frage hat sich
verschärft.

Natürlich existierten diese beiden Phänomene auch schon vor 1980. Die
türkische Wirtschaft wurde seit den sechziger Jahren von einer
Exportindustrie getragen, die ein Auffangbecken für die aus dem
überbevölkerten Anatolien abwandernde Landbevölkerung darstellte. Nach dem
Scheitern der großen kurdischen Revolten -- namentlich des Aufstands von
Scheich Saïd [1] --, die sich noch auf traditionelle Strukturen gestützt
gegen die neue, zentralistische türkische Republik richteten, die auf ihrem
Territorium keinen nationalen Pluralismus duldete, entstand im Laufe der
70er Jahre, ausgehend von kurdischen Studierenden aus der türkischen Linken,
eine neue kurdische nationale Bewegung. Jedoch ist ein wesentliches Element
der 70er Jahre verschwunden: nämlich die Bewegung der Arbeitenden und der
Jugend, die zu wirklich politischen Lösungen nicht in der Lage war, die eine
organische Fortführung ermöglicht hätten; daher wurden sie durch den
Militärputsch von 1980 zerstört. Die brutale Repression, die auf den
Militärputsch folgte, eröffnete seitdem den Weg für einen neoliberalen Umbau
der Gesellschaft.


DIE BEIDEN STRUKTURIERENDEN DYNAMIKEN

1) Eine auf den Export ausgerichtete Wirtschaft, die stark im globalisierten
Kapitalismus verankert ist.

Die Integration des türkischen Kapitalismus in die Weltwirtschaft ist nichts
Neues, doch sie wurde in den vergangenen dreißig Jahren massiv
vorangetrieben. Seit Beginn der 1980er Jahre stützt sich der türkische
Kapitalismus stärker auf den Export als den Binnenmarkt. Diese Entwicklung
wurde heftig von den liberalen Regierungen unter Führung von Turgut Özal [2]
vorangetrieben, die durch ihre Politik die Türkei in den kapitalistischen
Weltmarkt integrieren wollten, indem sie umfangreichere Importe erlaubten
und -- mehr noch -- die Türkei in ein auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiges
Land verwandelten. 1980 beliefen sich die Ausfuhren der Türkei auf drei
Milliarden Dollar; 2008 betrugen sie 132 Mrd. $. Dieses Wachstum war nicht
linear, denn die türkischen Ausfuhren lagen 2000 erst bei 28 Mrd. $, doch
zwischen 2001 und 2005 gab es ein massives Wachstum. Diese Tatsache ging mit
einer starken Industrialisierung einher, deren Produkte hauptsächlich für
die Märkte der USA und der EU bestimmt waren. Der Anteil von
Fabrikprodukten, vor allem Textilien und Autos, am Export nahm von 10
Prozent auf 92 Prozent zu. Es entstanden neue Industrieregionen, vor allem
in Anatolien in Städten wie Mersin, Konya, Kayseri oder Denizli, wo auch
zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen gegründet wurden und eine
industrielle Bourgeoisie der Provinz entstand. Seit 2002 hat sich diese
Entwicklung mit dem Regierungsantritt der AKP [3] enorm beschleunigt, was
besonders auf die Aufstellung eines Dreijahresplans zur Steigerung der
Exporte und auf die gesetzliche Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
zurückzuführen ist.

Der türkische Kapitalismus wurde also in den Jahren ab 2000 zumindest
regional vorherrschend und konnte eine bis dahin nie gekannte Akkumulation
erreichen. Als bezeichnende Anekdote sei angefügt, dass Istanbul mit 28
Milliardären nunmehr weltweit Rang vier hinter New York, Moskau und London
belegt.

2) Eine noch immer ungelöste nationale Frage

Nach dem Aufblühen von kurdischen Organisationen Ende der 1970er Jahre
spielt heute nur noch die PKK (die 1978 von linken kurdischen StudentInnen
gegründet wurde) eine größere Rolle. Sie kann von sich behaupten, die
politische Bewegung der Kurden im Südosten der Türkei zu repräsentieren.
Nach einer Reihe von schwierigen Jahren, in denen es der PKK mehr schlecht
als recht gelang, ihre Organisation zu halten, hat sie sich eine größere
gesellschaftliche Basis erobert und zahlreiche Mitglieder gewonnen, vor
allem wegen des Rassismus des Staates und der Brutalität der Repression
gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes. [4] Die Kämpfe
zwischen der PKK und der türkischen Armee und ihren Verbündeten (die
kurdischen Dorfmilizen Korucu, die kurdische Hizbollah, ultrasektiererische
und gewaltbereite religiöse Gruppen, die in die beiden Fraktionen Menzil und
Ilim gespalten sind) haben zu einem richtigen Bürgerkrieg geführt, der im
türkischen Teil von Kurdistan stattfindet, gelegentlich aber auch in den
Großstädten der Türkei. Die Auseinandersetzungen erreichten ihren Höhepunkt
zwischen 1995 und 1996; in dieser Zeit nutzten die Sicherheitsorgane (die
Armee und die Geheimdienste) ihre Autonomie und führten in den
Kurdengebieten Maßnahmen des "Ausnahmezustandes" durch oder setzten die
Jitem-Einheiten (eine geheime Zelle der Gendarmerie, die den Kampf gegen den
Terrorismus durchsetzen soll) ein.

Die "Kurdenfrage" verkam so zu einer einfachen "militärischen" Frage,
während der plurale Charakter der Türkei zugunsten der Dreieinigkeit aus
"Flagge, Sprache und Nation" verneint wurde. Der Tod zahlreicher einfacher
Soldaten bei den Zusammenstößen zwischen der Armee und der PKK und das
Fehlen eines glaubwürdigen alternativen Diskurses verstärkten den
Nationalismus, während die Zeremonien der Einberufung zum Militärdienst und
die Beerdigung von Rekruten die Gelegenheit abgaben, ultranationalistische
Gewaltdemonstrationen vom Zaun zu brechen.

Auch heute noch bleibt Abdullah Öcalan, der historische Führer der PKK und
Objekt eines starken Persönlichkeitskultes, das Gravitationszentrum der
kurdischen Bewegung, trotz der Krise, die diese Organisation nach seiner
Verhaftung durchmachen musste. Er stellt die wichtigste, ja einzige
Legitimitätsquelle für die große Mehrheit der kurdischen Massen und
besonders für die jungen Menschen dar, die mehr noch "Apoisten" [5] als
Sympathisanten der BDP [6] sind. Die Krise, die die PKK nach der Verhaftung
von Öcalan durchmachen musste, bedeutete keineswegs ihr Ende. 

So ist das AKP-Projekt einer "demokratischen Öffnung", mit dem versucht
wurde, Veränderungen in die als unerträglich empfundene Lage der Kurden und
Kurdinnen zu bringen, ohne jedoch die PKK zum Gesprächspartner zu machen,
schon deswegen gescheitert, weil diese Organisation auf den Versuch
entschlossen und heftig reagierte und sich nicht auf diese Weise zur Seite
drängen lassen wollte. Die Zusammenstöße führten auf der einen Seite zum Tod
von kurdischen Militanten und Zivilisten, auf der anderen Seite verloren
Einberufene ihr Leben, was zu einer verstärkten Ethnisierung der Politik
führte. Ein weiterer Beweis (für die Stärke der PKK) war der Erfolg des
Boykotts des Verfassungsreferendums, der von der BDP im türkischen Teil von
Kurdistan im Rahmen ihrer Kampagne für eine "demokratische Autonomie" (diese
Formel läuft auf ein föderales Modell hinaus) organisiert wurde. Diese
beiden Beweise zeigen eindeutig, dass es unmöglich ist, zu einer politischen
Vereinbarung über diese Frage zu kommen, ohne den wichtigsten Bestandteil
der kurdischen Bewegung daran zu beteiligen. Eine solche Lösung könnte von
wichtigen Sektoren des türkischen Kapitalismus vorgeschlagen werden, wie
etwa zur Zeit der Regierung Özal 1993 [7], bevor es dann zur militärischen
Eskalation der 1990er Jahre kam, die den türkischen Kapitalismus durchaus
nicht gestärkt hat.



WAS IST DER SINN DER AKP-REGIERUNG UND DER VERFASSUNGSÄNDERUNG IN DIESEM
RAHMEN?

Die Diskussionen über die soziale und politische Einordnung der AKP, die
seit 2002 an der Regierung ist, werden durch das Etikett "islamistisch" und
einige Initiativen zu einer "Öffnung" sowie durch die Frage nach ihrer
"sozialen Basis" verzerrt.

Das Adjektiv "islamistisch", das häufig durch "gemäßigt" ergänzt wird, ist
vielleicht das größte Problem bei der Einschätzung der AKP, denn diese
Kategorie ist nichts weiter als der Gebrauch einer bestimmten religiösen
Bezeichnung, ohne dass man sich über den wirklichen sozialen und politischen
Charakter des von ihr vertretenen Projektes Rechenschaft gibt. Einerseits
ist die AKP unbestreitbar aus der Strömung Millî Görüs (nationale Vision)
hervorgegangen, der wichtigsten Strömung, die dem Bezug zur Religion in
ihren Diskursen einen zentralen Platz einräumte, andererseits hat die AKP
diesen Bezug "gemäßigt" in dem Sinne, dass dieser Bezug weniger ausgeprägt
ist (das Prinzip des Laizismus [8] wird akzeptiert) und die Religion wird
nicht als Quelle der politischen Legitimität angesehen. [9] Jedoch gehen
diese Feststellungen nicht auf den Klasseninhalt der AKP ein. Auch wenn ihre
Wählerbasis in der einfachen Bevölkerung liegt, was es ihr ermöglicht, über
eine absolute Mehrheit im Parlament zu verfügen, so stellt sich die AKP doch
entschlossen in den Rahmen der Interessen der Bourgeoisie. Schematisch
lassen sich drei Sektoren dieser Bourgeoisie herausstellen:

* Das konservativ-nationalistische Kleinbürgertum: Handwerker und kleine
Eigner in Anatolien und den Städten, wichtigere Unternehmer, die erst jüngst
aus diesem Kleinbürgertum aufgestiegen sind und das Rückgrat des
"muslimischen" Kapitals darstellen, subalterne Beamte, Grundbesitzer usw.
Ihre Wünsche gehen wesentlich in Richtung Verteidigung des kleinen Kapitals
gegen die Erschütterungen der kapitalistischen Weltwirtschaft, dazu kommt
der moralische Konservatismus und Nationalismus. Das Kleinbürgertum stellte
traditionell die soziale Basis der konservativen parlamentarischen Parteien
oder des politischen Islam dar und teilte sich auf die Regierungspartei AKP,
aber auch auf die ultranationalistische (MHP) oder andere islamistische
Gruppierungen (Saadet) auf.


* Die "liberale" Bourgeoisie -- die klar in den globalisierten Kapitalismus
integriert ist, Leiter von Unternehmen, Teile der Intelligenz und der
Hochschullehrer, die -- trotz aller Spannungen -- hinter der AKP stehen,
weil es keine glaubwürdigen anderen "liberalen" Parteien gibt. Sie wünschen
sich einen Umbau der Gesellschaft gemäß der neoliberalen Doktrin, was zu
einer noch stärkeren Integration in den globalisierten Kapitalismus führen
würde, wobei man die Vorteile des Landes (das industrielle Netz, die
Infrastruktur, die qualifizierten und relativ billigen ArbeiterInnen) nutzen
möchte. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Anschluss an die Europäische
Union, auch die demokratischen Veränderungen, die er mit sich brächte, vor
allem ein Projekt dieser "liberalen" Bourgeoisie, auch wenn diese
Perspektive, die häufig mit einer höheren Lebensqualität in Verbindung
gebracht wird, sich einer weit breiteren Unterstützung erfreut (etwa beim
kurdischen Nationalismus, wir kommen darauf zurück). Die große Stärke der
AKP liegt in ihrer Fähigkeit, während ihres Aufstiegs an die Regierung den
Spagat zwischen dem konservativen Kleinbürgertum und der "liberalen"
Bourgeoisie hinbekommen zu haben. Wir haben "liberal" in Anführungszeichen
gesetzt, um auf den äußerst wetterwendigen Charakter dieses "Liberalismus"
hinzuweisen. Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte hat sich diese
Bourgeoisie nicht gegen die politische Autorität des bestehenden politischen
Regimes gewehrt (wie etwa in Frankreich und Großbritannien), sondern ist
ganz und gar in dessen Schatten verblieben. Die ersten großen industriellen
Vermögen der republikanischen Türkei (unter Atatürk) wurden im Schatten des
neuen Staates und seines Willens, eine industrielle, türkische und
/muslimische/ Bourgeoisie gegen die jüdische und christliche (Armenier,
d. Ü.) Handelsbourgeoisie aufzubauen, akkumuliert (obgleich das neue Regime
immer wieder große Erklärungen über seinen Laizismus abgab).

Die Anwandlungen im Hinblick auf den politischen Liberalismus dieser großen
türkischen Bourgeoisie haben sich generell als äußerst beschränkt erwiesen.
Angesichts des Auftauchens von sozialen Bewegungen mit ihren Forderungen im
Verlauf der 70er Jahre stellte sie sich schnell hinter die Armee und die
staatliche Repression. So hat die TÜSIAD (Vereinigung der Geschäftsleute und
der Industriellen der Türkei), eine der wichtigsten Organisationen des
Großkapitals, den Staatsstreich vom September 1980 eindeutig unterstützt.
Heute verteidigt die gleiche Unternehmerorganisation, die immer noch die
Großbourgeoisie vertritt, die Perspektive eines Beitritts zur EU und in
diesem Rahmen auch die kulturellen Rechte der Kurden (etwa den Gebrauch der
Muttersprache im Unterricht). In der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus
und wegen des Fehlens einer realen gesellschaftlichen und politischen
Opposition verteidigt diese Bourgeoisie politische Reformen einer
"Liberalisierung" des Regimes, die ziemlich weit gehen, um jene Probleme zu
klären, die zu einer "Schwächung der Türkei" (also des türkischen
Kapitalismus) führen könnten, besonders natürlich die kurdische nationale
Frage. Insgesamt betrachtet handelt es sich um den Willen, eine
parlamentarische Demokratie zu haben, die durch einen Föderalismus ergänzt
wird, für den es aber gegenwärtig keine nennenswerte Anhängerschaft gibt.

* Die Zwischenschichten und die etatistische, militaristische und
nationalistische Bourgeoisie: Hier handelt es sich um hohe und mittlere
Beamte, Magistrate, gewisse Fraktionen von "liberalen" Berufen (der Begriff
ist eher unzutreffend), etwa Rechtsanwälte oder "Intellektuelle" aus den
Universitäten, vor allem aber die militärische Führung (die Offiziere und
der Generalstab); sie stellen das Knochengerüst der Verteidiger des
"Kemalismus" dar. Wir können zu dieser keineswegs erschöpfenden Liste noch
die militärische Bourgeoisie hinzufügen, die sich nicht nur im Schatten des
Staates entwickeln konnte, sondern ihre Existenz den beträchtlichen
Militärhaushalten verdankt. So haben die Arbeiten des Hochschullehrers Ismet
Akça sehr deutlich den Charakter eines "kollektiven Kapitalismus" des
Militärs gezeigt. Die Führer der türkischen Armee stellen nicht nur den
bewaffneten Arm des Kapitals dar, sondern sie sind selbst Kapitalisten,
entweder über die wirtschaftlichen Direktinvestitionen der Armee, die
Aktivitäten der Stiftungen, die mit ihr verbunden sind, oder aber den
militärisch-industriellen Sektor, der dank der Verträge mit den Militärs
besteht und die Offiziere im Ruhestand und ihre Familien aufnimmt.



ERFOLG UND SACKGASSE DES REFERENDUMS

Die Haltung der AKP sowie die Charakteristika ihres Projektes für die
Verfassung können über die Beziehungen mit jedem dieser drei Sektoren
verstanden werden. Die Beibehaltung einer großen Zahl von früheren
Verfügungen, die die konservativ-nationalistische Kleinbourgeoisie ruhig
stellen sollen (der unitarische Charakter des Staates und die Verneinung
jedes Bezugs auf den nationalen Pluralismus), die kosmetischen und formalen
Fortschritte in der politischen Liberalisierung (Abbau der Kompetenzen der
Militärgerichte) und vor allem der Zugriff auf das Justizmilieu, das dem
dritten Sektor der Bourgeoisie nahe steht und der AKP feindlich gesonnen
ist. Diese hat also ihre vorherrschende politische Position ganz logisch
eingesetzt, um ihre Position zu stärken und ihren Zugriff auf die Teile der
Bourgeoisie, die ihr feindlich gesonnen sind, zu verbessern, indem sie ein
Projekt durchgesetzt hat, was noch hinter eine "parlamentarische Demokratie"
zurückfällt -- trotz aller ohnmächtigen Kritiken von Seiten von Liberalen
und der frontalen, aber erfolglosen Gegnerschaft der etatistischen
Bourgeoisie. Wir möchten aber noch anmerken, dass diese Spannungen sich
strikt im kapitalistischen Rahmen abspielen. Es scheint daher, dass die
"neue" Verfassung der AKP den Beziehungen zwischen den verschiedenen
kapitalistischen Sektoren entspricht, wie sie sich im langen Prozess des
neoliberalen Umbaus der Gesellschaft herausgebildet haben, der in der Türkei
im wesentlichen zu Beginn der 1980er Jahre von Turgut Özal begonnen wurde.

Gegen dieses Projekt sind mehrere Oppositionsfronten aufgetaucht:

* Das "Nein" der Liberalen vor allem des TÜSIAD (eine Art türkischer BDI),
der die Großkapitalisten repräsentiert: Sie fanden, das Projekt sei zu weit
von einem bürgerlichen Parlamentarismus entfernt.

* Das ultranationalistische Nein der MHP, die sich vor allem abgrenzen
wollte. Die extreme Rechte prangert die Politik der AKP generell an und
meint, sie mache den Kurden zu viele Konzessionen (der Versuch einer
"demokratischen Öffnung"), obwohl es im Projekt überhaupt keinen Bezug zu
den Rechten der Kurden gibt. Hier handelte sich somit um eine reaktionäre
Opposition.

* Das zweischneidige Nein der wichtigsten Oppositionspartei im Parlament,
der "kemalistischen" CHP, die ein paar vage Überlegungen zu sozialen Fragen
mit einem nationalistischen und etatistischen Diskurs verband.

* Der von der BDP angeleierten Boykottkampagne muss man einen besonderen
Platz einräumen. Denn die kurdische Bewegung und ihre Führung stellten fest,
das Projekt bringe den Kurden absolut nichts, was zutrifft. Sie riefen daher
eher zum Boykott als einem Nein auf. Diese Taktik verweist auf den Charakter
der kurdischen Frage. Denn die politische Lage in Kurdistan ist ganz anders
als die im übrigen Land. Die BDP verfügt über einen Massenanhang,
boykottierte das Referendum und startete als Alternative eine Kampagne
zugunsten einer "demokratischen Autonomie" (eine Formel, die man gemäß dem
deutschen Föderalismus verstehen darf). Wenn der Boykott aus der Sicht der
BDP einen Sinn hat, gilt es zu betonen, dass auch mehrere Gruppen der
radikalen Linken sich ihm angeschlossen haben, die aber isoliert sind und
natürlich keine der "demokratischen Autonomie" der BDP vergleichbare
Aussicht für den Rest des Landes besitzen. Wir müssen also feststellen, dass
es außerhalb Kurdistans keine Bedingungen gab, diese Taktik erfolgreich
umsetzen zu können.

* Im Unterschied zu diesen verschiedenen Ablehnungen, allerdings weniger
hörbar, gab es ein "linkes Nein", das dem Entwurf demokratische und soziale
Forderungen entgegen stellte, und das von verschiedenen nationalen
Vereinigungen, Berufsverbänden und politischen Organisationen vertreten
wurde: der ÖDP (Özgürlük v Dayanisma Partisi, Partei der Freiheit und der
Solidarität, in der die türkischen Mitglieder der IV. Internationale
Mitglied sind), die TKP (Kommunistische Partei der Türkei), die Emep (Emegin
Partisi, Partei der Arbeit, pro-albanisch), aber auch die Volkshäuser haben
sich auf dieser Grundlage erklärt. Diese Position erfreute sich auch der
Unterstützung von gewissen Gewerkschaften und Vereinigungen. Die Wirkung
blieb wegen der Schwäche der Linken in der Türkei beschränkt, aber auch,
weil die Kampagne zu spät gestartet wurde und sich nicht auf Basisgruppen,
etwa lokale Komitees stützen konnte, in denen sich alle AnhängerInnen eines
"Neins der Linken" hätten zusammenfinden können. Diese Begrenztheiten
trübten die Dynamik dieser Zusammenarbeit, doch ist positiv zu werten, dass
es sie überhaupt gab. Und damit lässt sich auch die Konfusion angehen, die
sich aus dem "Ja der Linken" ergab.


Es scheint daher ziemlich erstaunlich zu sein, dass es Individuen und
Gruppen [10] der radikalen Linken gab, die beim Referendum für ein
"kritisches Ja" eingetreten sind. Sie haben behauptet, die Annahme der
Verfassungsänderungen würde es ermöglichen, die Seite des Staatsstreichs von
1980 zu wenden, während aber das Projekt der AKP keinerlei soziale und
politische Freiheiten enthält, die es den Arbeitenden erleichtern würden,
sich selbst zu organisieren. So macht die Aufhebung des Verbots von
politischen oder von Solidaritätsstreiks, worüber viel geredet wurde, nur
wenig Sinn, weil die Möglichkeit, einen Streiks "auszusetzen", wenn die
"nationale Sicherheit" gefährdet ist, beibehalten wurde. Wenn es nicht zu
einer Vereinbarung kommt, dann entscheidet schließlich eine
Schiedskommission (die in der Regel für die Arbeitenden ungünstig ist),
deren Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann (Art. 54). Zu diesem
Vorgehen haben die Regierungen, auch die der AKP, schon häufig
gegriffen. [11] Dies ist auch ganz logisch, denn aufgrund des Fehlens einer
starken Arbeiterbewegung gibt es kein Kräfteverhältnis, was wirkliche
Veränderungen durchsetzen könnte.

Ein "kritisches Ja" liefe also im Grunde darauf hinaus, größere
demokratische Fortschritte von der Partei des Präsidenten der Republik
Abdullah Gül zu erwarten, der zur Kurdenfrage äußerte: "Es wäre schlecht für
den Kampf (gegen den Terrorismus), Einzelheiten zu nennen, nachdem die
Entscheidung getroffen wurde. (...) Es wird bereits ein Programm
ausgearbeitet, doch es wäre schlimm, darüber zu reden." [12] Er kritisierte
indirekt den Chef des Generalstabes, der angeblich der Presse zu viel
erzählt habe, ohne dass es in seinem Lager auch nur die geringste Regung
gab. In der Zeitschrift der türkischen Sektion der IV. Internationale
beschrieb Masis Kürkçügil dieses Vorgehen des Präsidenten, er habe sich "im
Labyrinth der bürgerlichen Politik verloren" [13]. Dies bedeutete
gleichzeitig, aus den Augen zu verlieren, dass sogar die geringsten
Fortschritte zugunsten der Arbeitenden nur aus der realen Bewegung der
Arbeitenden stammen, weil es ihnen gelang, ein bestimmtes Kräfteverhältnis
aufzubauen.

Die Annahme dieser Verfassung durch ein Referendum geschah zu einem
Zeitpunkt, da die Arbeiterbewegung stark geschwächt ist, was gleichzeitig
bedeutet, dass die soziale Frage aus der politischen Agenda verschwunden ist
und die zersplitterte Linke sich unfähig zeigt, ihre Isolierung zu
überwinden. Die politische Agenda ist daher im Allgemeinen von den
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen abgekoppelt und zwischen dem
Imperativ des "Kampfes gegen den Terrorismus" (der kurdischen Bewegung) und
dem Aufbrechen der Spannungen zwischen verschiedenen Sektoren der
Bourgeoisie eingezwängt. Das kann auf völlig künstliche Weise geschehen wie
etwa die Aufdeckung des "Ergenekon"-Netzwerkes, das in der Türkei und im
Ausland häufig als ein dramatischer Kampf zwischen der AKP und dem
putschlüsternen Teil der Armee hingestellt wird, obwohl es sich nur um die
Verhaftung der härtesten Teile der kemalistischen Opposition gehandelt hat,
die überhaupt nicht in der Lage wären, einen Staatsstreich durchzuziehen. Es
kann auch um die Probleme gehen, die einen Großteil der Bevölkerung
betreffen wie die Kurdenfrage, die es ermöglicht, auf dem Klavier der
nationalen Eintracht zu spielen und jeden subversiven Diskurs zu
disqualifizieren, oder aber um das Tragen des Schleiers. Das Tragen des
Schleiers in öffentlichen Gebäuden (der Universität) nimmt einen wichtigen
Platz ein, weil es eine starke Opposition von Seiten der etatistischen
Bourgeoisie gibt, die sich immer mehr verkrampft, weil sie nach und nach
viele Positionen verloren hat. Das ermöglicht es der AKP, mit wenig Kosten
als Vertreterin der Interessen des Volkes zu erscheinen, obwohl sie eine
brutale Politik gegen die Mobilisierungen der Arbeitenden veranstaltet. Aber
es sind genau diese Mobilisierungen, die es von Zeit zu Zeit möglich gemacht
haben, dass die soziale Frage auf der politischen Agenda aufgetaucht ist.


DER BEISPIELHAFTE KAMPF DER ARBEITERINNEN VON TEKEL

Dies traf zu während des großen Marsches der Bergleute von Zonguldak nach
Ankara im Jahr 1991 oder für den Kampf der Beamten 1995. Die markanteste
Mobilisierung in den vergangenen Jahren war die der Arbeitenden von Tekel
(dem früher staatlichen Unternehmen für Alkohol und Tabak) in diesem Jahr,
die sich gegen ein neues Statut zur Wehr setzen, das nach der Privatisierung
des Unternehmens und den Teilschließungen für sie höchst nachteilig
ausgefallen wäre. Diese massenhafte und lange Mobilisierung, bei der 78 Tage
lang in Ankara eine Vertretung eingerichtet wurde, war in mehrfacher
Hinsicht aufschlussreich. Nicht nur handelte es sich um eine direkte
Reaktion auf den Neoliberalismus in der Türkei, sondern auch -- da der
Großteil der beispiellosen Privatisierungen bereits erfolgt war -- um eine
verspätete Reaktion und einen notwendigen Kampf, der wertvoll, aber ein
Nachhutgefecht war. Neuerlich hat die AKP ihren wahren Charakter als
bürgerliche Partei gezeigt, indem sie sich der Arbeiterklasse brutal in den
Weg stellte und heftigste Repressionsformen einsetzte. Schließlich war diese
Mobilisierung mit einer Front des Schweigens von Seiten der
Gewerkschaftsbürokratien konfrontiert, die gegen das Entstehen einer
radikalen Bewegung mit dieser Dauer und diesem Umfang waren. So waren die
ArbeiterInnen von Tekel nicht nur mit der polizeilichen Gewalt konfrontiert,
sondern auch mit zahlreichen Manövern der Führung des Dachverbandes, zu dem
ihre Gewerkschaft gehört, um die Bewegung zu kanalisieren und dadurch zu
schwächen. Die Reaktion der Arbeitenden von Tekel, denen sich andere
kämpfende Sektoren anschlossen, war entschlossen und nahm eine ganz radikale
Wendung, als die Tribüne des 1. Mai, auf der die Führer der verschiedenen
Gewerkschaftsverbände saßen, von den Arbeitern gestürmt wurde und es ihnen
gelang, den Vorsitzenden der Türk-Is zu verjagen. Diese Aktion wurde von
allen sechs Gewerkschaftsführungen verurteilt, auch von derjenigen, die man
als die linkeste ansieht, nämlich der KESK. Darauf antworteten die
Arbeitenden von Tekel mit einer Besetzung der Lokale der Türk-Is in Istanbul
und erhielten die Unterstützung von vielen Gewerkschaftsmitgliedern. Die
Mobilisierungen führten schließlich zu einem Sieg in der Sache beim
Staatsrat; der Fall gelangte schließlich sogar zum Verfassungsgericht,
dessen Entscheidung allerdings noch aussteht.

Die Arbeiterbewegung von Tekel kann natürlich nicht allein den Weg ändern,
auf dem sich die Türkei befindet und zu dem die neue Verfassung nur einen
weiteren Stein darstellt; damit meine ich den Weg des neoliberalen Umbaus
der gesamten Gesellschaft, bei dem die soziale Dimension aus den politischen
Debatten verschwunden ist und die Auseinandersetzungen sich auf die
Spannungen zwischen den verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie beschränken.
Trotzdem stellt die Bewegung von Tekel ein beachtliches Beispiel dar, um zu
zeigen, wie man in der Türkei die sozialistische Linke neu aufbauen muss, um
den Weg der Gesellschaft zu ändern. Dies ist eine immense Aufgabe, die mit
dem Bewusstsein beginnt, dass es keine Abkürzungen gibt, etwa künstliche
Wahlen für ein neues Parlament, Brosamen einer Demokratie, die vom Tisch der
Parteien der Bourgeoisie gefallen sind, oder aber Umbesetzungen innerhalb
der gewerkschaftlichen Bürokratien, die über keine wirklichen Bindungen an
die Arbeiterklasse verfügen.


Ümit Çirak ist Politologe und Mitglied der Neuen antikapitalistischen Partei
(NPA, Frankreich) und in der Vierten Internationale.


Übersetzung aus dem Französischen: Paul B. Kleiser



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Aus:   Inprekorr Nr. 468/469   (Internationale Pressekorrespondenz)
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[1]  Der Scheich-Said-Aufstand war ein religiös und nationalistisch
motivierter Aufstand sunnitischer Kurden im Jahre 1925 unter der Führung
Scheich Saids, eines hohen Vertreters der Naqschbandi-Tarikat, gegen die
neue säkulare türkische Republik. Der Aufstand wurde von dem Regime Mustafa
Kemals blutig unterdrückt und Scheich Said mit 47 Mitkämpfern durch ein
türkisches Unabhängigkeitsgerichtzum Tode verurteilt und in Diyarbakir
öffentlich gehängt.
[2] Der ehemalige hohe Staatsbeamte und leitende Berater bei der Weltbank
mit anschließenden Spitzenpositionen in Privatunternehmen war bis zum
Militärputsch von 1980 Mitglied der rechten Regierung unter Demirel. Sein
Name steht für die vom IWF oktroyierten Austeritätsmaßnahmen vom Januar
1980. Nach dem Putsch wurde er Wirtschaftsminister und 1983 für die von ihm
gegründete Mutterlandspartei ANAP Ministerpräsident.
[3] Die Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung,
AKP) wurde 2001 vom Reformflügel der islamistischen politischen Bewegung
unter Recep Tayyip Erdogan und Teilen der parlamentarischen Rechten
gegründet. Die AKP bildet derzeit mit 337 Abgeordneten die stärkste Fraktion
im türkischen Parlament und hat die absolute Mehrheit der Sitze inne.
[4]  So war beispielsweise das Gefängnis in Diyarbakir, wo eine große Zahl
von kurdischen Gefangenen einsaßen, für seine Härte bekannt. Zwischen 1981
und 1989 verloren dort 34 Häftlinge ihr Leben.
[5]  "Apo" ist eine geläufige Kurzform für Abdullah und bezeichnet häufig
Öcalan. Seine Anhänger und Mitkämpfer standen schon vor der Gründung der PKK
als "Apocular" (Apo-Anhänger) in den öffiziellen Fahndungsbüchern.
[6] Die Baris ve Demokrasi Partisi (Partei des Friedens und der Demokratie,
BDP) ist gegenwärtig die Partei der kurdischen Bewegung in der Türkei. Sie
wurde 2008 als Nachfolgerpartei der DTP, die unter dem Vorwand der PKK-Nähe
aufgelöst worden war, gegründet.
[7]  1993 gab es öffentliche Debatten an der Spitze des Staates über die
Möglichkeit, die KämpferInnen der PKK aus den Bergen herauszuführen, indem
man ihnen Sicherheitsaufgaben anvertrauen wollte.
[8]  Die türkische Variante des "Laizismus" zeigt viel eher eine Kontrolle
der religiösen Institutionen durch den Staat als eine Trennung vom Staat. So
ist die Führung des Instituts für religiöse Angelegenheiten eine staatliche
Institution, die Imame werden normalerweise in öffentlichen Schulen
ausgebildet und sind Beamte.
[9]  Wir möchten auch darauf hinweisen, dass eine ganze Reihe von Politikern
der AKP aus Formationen der parlamentarischen Rechten stammen, die
verschwunden sind.
[10]  Die bekanntesten sind: die EDP (Esitlik ve Demokrasi Partisi, Partei
der Gleichheit und der Demokratie), die kleine Gruppe von Ufuk Uraz, dem
"Einheits"-Abgeordneten der Linken in Istanbul, von Antikapitalist, die zur
Internationalen Sozialistischen Tendenz gehört und die DSIP (Devrimci
Sosyalist Isçi Partisi (Revolutionär-Sozialistische Arbeiterpartei), die
früher mit der SWP verbunden war und immer noch Beziehungen unterhält.
[11]  Zwischen 1983 und 2007 gab es 27 Entscheidungen eines "Aufschubs"
eines Streiks, wovon über 600 Arbeitsstätten betroffen waren (eine
Entscheidung gilt für diverse Betriebe). Diese Praxis wird weitergeführt: In
den Jahren seit 2000 waren die Reifenproduktion (Goodyear, Pirelli,
Bridgestone, Petlas), eine Kristallfabrik (Pasabahçe), die Bergwerke
(Erdemir) usw. betroffen. Vgl. dazu Aziz Çelik, Milli Güvenlik Gerekçeli
Grev Ertelemeleri, Çalisma ve Toplum, Nr. 18-3, unter
www.birikimdergisi.com/birikim/makale.aspx?mid=475
[12] /Milliyet/, 8. Juli 2010, "Gül Basbug'u elestirdi: Detay mücadeleyi
etkiler". Auch im Netz unter
http://www.milliyet.com.tr/gul-basbug-u-elestirdi-detay-mucadeleyi-etkiller-
/siyaset/sondakika/08.07.2010/1260883/default.htm
[13]
http://www.sdyeniyol.org/index.php/siyasal-guendem/353-esas-felaket-zihinler
de-yaanm-yenilgidir-masis-kuerkcuegil.



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