[IPK] Krise des Kapitalismus:: Ein weltweites Schachspiel

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So Mai 20 21:11:42 CEST 2012


Krise des Kapitalismus:
Ein weltweites Schachspiel
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Die Industrieländer sind in eine neue rezessive Phase der seit 2007
schwelenden Krise gerutscht. Der durch staatliche Mittel erzielte Aufschwung
hat sich verbraucht und der kommende Abschwung wird mit stark steigenden
Arbeitslosenzahlen einhergehen. Um das Beschäftigungsniveau vor Ausbruch der
Krise zu erreichen, hätten weltweit 17 Millionen Arbeitsplätze geschaffen
werden müssen, aber die Staatshaushalte sind durch die Bankenrettungen
aufgebraucht.


Von Claudio Katz


Seit Beginn der Krise gibt es zwei vorherrschende Erklärungsmuster. Die
Neoliberalen machen die Schuldner verantwortlich, weil sie sich Geld
geliehen hätten, ohne es zurückzahlen zu können, und prangern die
Verantwortungslosigkeit der Staaten an, die sich heillos verschuldet hätten.
Die Keynesianer monieren hingegen die fehlende Regulierung der Finanzmärkte
und die exzessive Spekulation sowie den Rückgang der zahlungsfähigen
Nachfrage aufgrund stagnierender Löhne und der Spaltung der Gesellschaft.
Beide Strömungen verweisen auch auf wirtschaftspolitische Fehler, die zu dem
gegenwärtigen Einbruch geführt hätten.

Die Diskussion über die Ursachen der Krise verlagerte sich in der Folge auf
ein weiteres Problem: die unterschiedliche Ausprägung der Krise in den
Weltregionen und die sich daraus ergebenden geopolitischen Änderungen, mit
anderen Worten: die Wende zur Multipolarität, der Verlust der
Vormachtstellung für die USA, das Erstarken Chinas und das wachsende
wirtschaftliche Gewicht der Schwellenländer.

Im Folgenden befassen wir uns mit den Fragen, wie sich die Wirtschaftskrise
in den einzelnen Regionen der Erde entwickelt hat, welche Strategien die
herrschenden Klassen einschlagen und welche Szenarien sich weltweit
ankündigen.


DER EINBRUCH DER US-WIRTSCHAFT

Mit der Insolvenz der Schuldner, die ihre Hypotheken ("subprimes") nicht
mehr bedienen konnten, geriet der Zusammenbruch des Immobiliensektors zum
Auslöser der Krise in den USA. Die Banken gerieten in
Zahlungsschwierigkeiten, da elf Millionen Immobilien unter ihren
hypothekarischen Wert gesunken waren und jeder fünfte Eigentümer an seinen
Schulden erstickte.

Die Verschuldung griff rasch auf andere Bereiche über. Die Privathaushalte
sind zu 112 % ihrer Einkommen verschuldet und die Zahlungsverpflichtungen
liegen um 37 % höher als im vorigen Jahrzehnt. In der Kreditwirtschaft
herrscht Misstrauen auf allen Ebenen, weswegen sich die Banken mit
Kreditzusagen zurückhalten und sie dadurch einen Teufelskreis aus Rezession
und instabilem Finanzwesen heraufbeschworen haben.

Die orthodoxen Ökonomen machen die Schuldner verantwortlich und ihre Gegner
die Banken. Beide aber übersehen, dass der Schneeballeffekt aus
kreditbasiertem Konsum seit mehreren Jahrzehnten anschwillt und Folge der
kapitalistischen Umstrukturierung im Gefolge der neoliberalen Globalisierung
ist. Infolge dieses Wandels haben sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert
(unsichere Arbeitsverträge, stagnierende Löhne und Segmentation des
Arbeitsmarktes und der Qualifizierung), wodurch das Einkommen der
Bevölkerung gesunken ist, was wiederum zu Kreditaufnahmen geführt hat, um
den Konsum beizubehalten. In Anbetracht der Arbeitslosenquote von über 10 %,
Löhnen auf dem Niveau von vor 15 Jahren und einer skandalösen Konzentration
des Reichtums [1] wurde die Nachfrage durch Kredite gestützt.

Die neoliberale Umstrukturierung hat auch zur Verlagerung der Produktion in
erheblichem Umfang geführt, wobei sich die Unternehmen im Ausland an den
niedrigeren Löhnen bereichern und den Arbeitsplatzabbau noch beschleunigen.
Die US-Unternehmen schaffen im Ausland die Arbeitsplätze, die sie zuhause
vernichten, wodurch die Rezession in den USA einhergeht mit wachsenden
Deviseneinkünften der 500 größten Unternehmen. [2] In den vergangenen
Jahrzehnten blieb der enorme Konsum in den USA aufgrund der Verschuldung
stabil, wobei die Industrie im Inland schrumpfte und zugleich die
Ausbeutung, das Handelsdefizit und die Abwanderung der Unternehmen zunahmen.
Dieses kritische Szenario war die Folge des durch den Neoliberalismus
erzwungenen Wettbewerbsdrucks. 

Wie instabil dieses neue Wirtschaftsmodell ist, hat sich blitzartig bei der
Subprime-Krise herausgestellt. Die ganze Tragweite aber wurde erst mit der
Pleite der Lehman Brothers (2008) und der Erosion des Finanzsystems im
Ganzen sichtbar. Die darauf folgenden Rettungsmaßnahmen haben schließlich zu
den aktuellen Haushalts- und Bankeninsolvenzen geführt, die die Märkte wie
ein Albtraum erschüttern und weiterhin umfangreiche Maßnahmen erfordern, die
die Staatsverschuldung von 62 % des BIP 2007 auf gegenwärtig 100 %
aufgebläht haben. [3] Die Regierung reagiert auf das Haushaltsdefizit ohne
Konzept. Mal weicht sie dem Druck der Republikaner und reduziert die
Ausgaben, mal legt sie ein Investitionsprogramm mit starken
Steuererleichterungen auf. Obama steckt handlungsunfähig zwischen dem Druck
der Rechten, die die Mehrheit im Kongress erlangt hat, und den Erwartungen
seiner Wähler, seine Wahlversprechen umzusetzen.


DIE REAKTION DER USA NACH AUSSEN

Über die G20 und die vereinte Intervention der Zentralbanken haben die USA
versucht, das globale Krisenmanagement in die Hand zu nehmen. Dabei
verfolgen sie mehrere Strategien unter Ausnutzung ihres
wirtschaftspolitischen Arsenals.

Ihre stärkste Waffe ist der Dollar, über den 85 % der Devisengeschäfte und
65 % des Welthandels laufen und der einen gleichen Anteil (2/3) der
weltweiten Währungsreserven ausmacht. Die Hälfte der weltweiten Schulden und
der überwiegende Erdöl- und Rohstoffhandel werden auf Basis des Dollars
geführt.

Zwar hat der Dollar die absolute Vorherrschaft der Nachkriegszeit verloren,
aber mangels Alternative seine führende Position behalten. Dem Euro fehlt
der für eine Weltwährung notwendige Einfluss, der Yen verliert an Einfluss
und der Yuan ist noch keine international frei konvertierbare Währung. Die
Zukunft wird weisen, ob es drei Leitwährungen nebeneinander (Dollar, Euro
und Yuan) oder wieder ein festes Wechselkurssystem geben wird oder ob ein
neuer Devisenkorb ausgehandelt wird. [4]

In jedem Fall wird der Dollar den Einfluss behalten können, den er seit der
Aufgabe der Goldbindung mit den darauf folgend wechselnden Auf- und
Abwertungen innehat. Zwar sind die Spielräume zur Steuerung der Parität nach
oben (um Kapital anzuziehen) oder nach unten (um den Export anzukurbeln)
gesunken, aber nicht völlig verschwunden. 

Auch bei der Reform des Weltfinanzsystems (Basel III im Dezember 2010) ist
der Einfluss der USA ungebrochen. Diese zielt auf die Aufstockung des
Eigenkapitals der Banken, wobei die Diskussion um die Summen, die die
Institute aufbringen müssen, andauert. Ebenso in der Diskussion steht die
mögliche Regulierung der neuen Spekulationsmechanismen (Derivate, CDS,
Hedgefonds) und der direkten Finanzgeschäfte der Unternehmen. Durch die
Internationalisierung des Finanzkapitals und die Verflechtung der Börsen ist
eine Anpassung der Normen unumgänglich geworden, was eine vorherige
Umstrukturierung der US-Institutionen bedingt. Mit Paul Volcker ist ein
ausgewiesener Vertreter des Bankenklüngels an den Schaltstellen dieser
Umgestaltung tätig. Hierbei arbeiten Wall Street und die Londoner City Hand
in Hand. Gemeinsam steuern sie die Finanzgipfel und achten darauf, jedwede
Reglementierung auf ein mit ihren Geschäften vereinbares Minimum zu
beschränken.

Die Galionsfiguren des Neoliberalismus, Greenspan und Bernanke, befinden
sich bei dieser Umstrukturierung in der Defensive. Sie können sich nicht
mehr öffentlich auf die Effizienz der Märkte bei der Eindämmung von
Spekulationsblasen berufen. Ihre keynesianischen Widersacher wie William
Dudley sind ihrerseits ebenfalls außerstande, vorsorgliche Kontrollmaßnahmen
gegen solche Spekulationsblasen durchzusetzen. So oder so werden beide
Reformvarianten von den USA bestimmt werden. [5]

Auch im IWF ist der Einfluss der USA ausschlaggebend. Auch wenn die neuen
Mitglieder mehr Stimmrechte erhalten haben, gibt Washington den Ton vor.
Während der jüngsten G20-Sitzungen konnte Washington durchsetzen, dass die
Fondsmittel verdoppelt werden und die USA mehr Kontroll- und
Interventionsmöglichkeiten in die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder
erhalten. Der IWF legt gegenwärtig in Europa die Sanktionen fest, wenn
Widerstand gegen die Austeritätspolitik aufkommt. So hat er die Kredite für
die Ukraine ausgesetzt, als dort die Mindestlöhne erhöht werden sollten, hat
Lohnsenkungen in Lettland durchgesetzt, die Privatisierungen in Griechenland
gefordert und sich dem Ausgang des Referendums in Island widersetzt, das die
Forderungen der Gläubiger in Abrede stellte. Inzwischen beschränkt er sich
nicht mehr auf wirtschaftliche Eingriffe in den kleinen Ländern, sondern
überwacht auch die Stützungsaktionen für Italien. [6]

Mit diesen Manövern probieren die Herrschenden in den USA
Ausstiegsstrategien aus der Krise aus und setzen dabei auf inflationistische
Szenarien. Seit 2008 hat die US-Notenbank zwei Billionen Dollar in die
Wirtschaft gepumpt und verfolgt dabei eine ultra-expansive
Wirtschaftspolitik, die als "quantitative Lockerung" bekannt ist, was nichts
anderes heißt, als die Notenpresse anzuwerfen. Damit wird die Welt mit
Dollars überschwemmt und die Defizitpolitik der USA exportiert. Die
Staatsschulden sollen somit durch die Inflation verwässert werden, ein
Mechanismus, den die USA zur Senkung ihrer Staatsdefizite praktiziert haben,
indem sie ihre Schulden auf der ganzen Welt verteilt haben. 

Diese Politik ist mittlerweile jedoch problematischer geworden, nicht nur
weil orthodoxe Ökonomen dagegen halten. In der Vergangenheit konnte die
inflationsbetriebene Schuldenreduzierung durch starkes Wachstum kompensiert
werden, wodurch die Verschuldung gemessen am BIP gesunken ist. Für die
kommenden Jahre hingegen traut sich kaum jemand, einen solchen Aufschwung
vorherzusagen. [7]


DER EINBRUCH IN EUROPA

Etliche europäische Analysten haben die Krise auf dem alten Kontinent
anfangs für einen Nachhall der wirtschaftlichen Erschütterung der USA
gehalten. Diese Sichtweise ist durch die gigantischen Ausmaße der
europäischen Wirtschaftskrise mittlerweile widerlegt worden [8], die
wiederum eng mit den durch die Schaffung der EU mit 27 Staaten und der
Euro-Zone mit 17 Staaten bedingten spezifischen Ungleichgewichten
zusammenhängen. Beiden Prozessen lag die Absicht zugrunde, die Gesamtregion
entlang der neoliberalen Doktrin für den weltweiten Wettbewerb auszurichten
und die ursprünglich vorhandene wirtschaftliche Vielfalt durch einen von
Deutschlands Zugkraft und Frankreichs Diplomatie geformten Block zu
ersetzen.

Die Führungsrolle der deutschen Wirtschaft wurde durch die Annexion der
ehemaligen DDR gefestigt und die herrschenden Klassen haben die
technologische Potenz und die hohe industrielle Produktivität benutzt, um
die Löhne zu drücken und das Land dadurch zur absoluten Exportmacht in der
Euro-Zone zu befördern. 

Die gegenwärtige Krise zeigte jedoch, dass dieser Block noch reichlich
unfertig ist. Zwar ist eine gemeinsame Währung als Garant für die deutschen
Exportüberschüsse entstanden, aber die Schaffung einer Haushalts- und
Steuerunion wurde vertagt. Dieses Versäumnis erwies sich als fatal, da durch
die fehlenden gemeinsamen staatlichen Institutionen zur Stützung der Währung
der Zusammenhalt des Projekts untergraben und die Heterogenität der
Gemeinschaft gestärkt wurde. Statt die werdenden Strukturen zu festigen,
wurde dadurch die Distanz zwischen den starken Volkswirtschaften und den
rückständigen Ländern noch vertieft. Bestand anfangs noch eine gewisse
Hoffnung, dass durch die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes das Gefälle
abgebaut werden könnte, überwog am Ende der gegenteilige Prozess, dass
nämlich die Länder mit höherer Inflation und niedrigerer Produktivität
weiter zurückfielen und sich eine Spaltung zwischen den Ländern mit
Handelsüberschüssen (Deutschland, Holland, Österreich) und den defizitären
Staaten (Griechenland, Portugal, Irland) durchsetzte. [9]

Durch die Staatsverschuldung und die Bankenpleiten sind die Abgründe
zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Eurozone noch vertieft worden.
Zuerst gerieten die kleinen Volkswirtschaften in die Abwärtsspirale durch
das Ungleichgewicht der Handelsbeziehungen (Griechenland), den
Investitionsrückgang aus dem Ausland (Irland) und internationale
Finanzspekulationen (Island, Zypern). Dann geriet mit Italien die
drittgrößte Wirtschaftsmacht der Euro-Zone in den Focus der Schuldenkrise
und inzwischen steht Spanien nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes im
Visier. Die Bilanzen aller Banken stecken voll mit faulen Staatsanleihen und
die anfälligsten von ihnen aus Griechenland, Irland oder Island sind bereits
darüber kollabiert. Auch auf die Großbanken Frankreichs, Deutschlands,
Österreichs und Italiens greift die Angst mittlerweile über. Der
Interbankenhandel geht zurück, die Furcht vor toxischen Titeln in den
Bilanzen wächst und Einlagen werden zurückgezogen, um sie an sichereren
Stellen zu parken. [10]


DIE STRATEGIE DEUTSCHLANDS

Deutschland ist nicht in der Lage, globale Antworten auf die Krise zu
liefern, wie dies die USA versuchen. Deutschland hat nicht die Mittel der
Supermacht USA und hat sich für eine deflationistische
Verteidigungsstrategie entschieden, womit es zum Antipoden der expansiven
Geldpolitik der USA wird. Während die FED die Zinsen systematisch nach unten
drückt, hat die EZB das Geld verteuert. Zur Erklärung dafür werden oft
unterschiedliche historische Erfahrungen bemüht und Weimar dem New Deal
gegenübergestellt. Dieser Gegensatz aus der Angst der Europäer vor der
Hyperinflation und der US-Amerikaner vor der Weltwirtschaftskrise sei
maßgeblich für die unterschiedliche Vorgehensweise dieser beiden Länder
angesichts der internationalen Krise. [11]

Auf europäischer Ebene verfolgt Deutschland eine aggressive Politik, die den
Lohnabhängigen die Krisenlasten aufbürdet. Dies ist nicht einfach eine
Anpassungsmaßnahme unter vielen, sondern ein Angriff zur Zerstörung des
Sozialstaats, wie er in der Nachkriegszeit entstanden ist, und zur
Zerschlagung der sozialen Errungenschaften, die die Lohnabhängigen der
anderen Kontinente niemals erfahren haben. Die Arbeitslosenrate in Europa
reicht mittlerweile bis zu 20 % und durch die Zunahme prekärer
Beschäftigungsverhältnisse ist ein Viertel der Bevölkerung vom Armutsrisiko
betroffen. [12]

Die zweite Säule deutscher Wirtschaftspolitik besteht in der strikten
Haushaltsdisziplin zur Stützung des Euro. Dieser ist in den vergangenen
Monaten an den Rand des Abgrunds geraten und man spekuliert über
Umstrukturierung und Bruch der Währungsunion bis hin zum baldigen
Verschwinden. Dabei handelt es sich jedoch um die Währung, die
ausschlaggebend ist für die Vormacht Deutschlands als Exportnation, da somit
ein einheitlicher Markt geschaffen und protektionistische Handelshemmnisse
beseitigt wurden. 

Zur Rettung des Euro wurde kürzlich [9. Dez. 2011] auf einem europäischen
Gipfeltreffen ein Haushaltsabkommen getroffen, in dem ein fester zeitlicher
Rahmen zur Wiedereinhaltung der vereinbarten Defizit- und
Neuverschuldungsregeln fixiert wird. Darin sind automatische Sanktionen für
Länder vorgesehen, die dagegen verstoßen. Die Schuldenbremse im
Staatshaushalt soll verfassungsrechtlich festgeschrieben und durch
internationale Gerichtshöfe kontrolliert werden. Diese Instanzen werden die
Ausgaben überwachen und eine jederzeitige Senkung erzwingen können, was die
betroffene Bevölkerung in einen Schraubstock zwingt. Wer gegen die Agenda
verstößt, soll automatisch aus der Euro-Zone ausgeschlossen werden.

Diese Verschärfung deckt sich mit der deutschen Strategie, ihr Handelsmodell
weiter auszubauen, ohne neues Geld auszugeben. Die europäische Peripherie
soll dadurch noch stärker als Lieferant von Produktionsfaktoren mit
sinkenden Kosten fungieren. Die Senkung der Löhne in Griechenland, die
Zerschlagung der Sozialversicherung in Irland und die allgemeine Erhöhung
des Renteneintrittsalters sind die Vorboten dieser Umstrukturierung. [13]

Vorgegeben wird diese deflationistische Strategie durch Deutschland, wobei
alle finanzpolitischen Vorschläge torpediert werden, die seine
Wettbewerbsfähigkeit infrage stellen könnten. So wurden die Schaffung von
Euro-Bonds und eine gemeinsame Verantwortung für die Verschuldung durch die
deutsche Regierung abgeblockt, die Ausweitung des Euro-Rettungsfonds EFSF
(inzwischen ESM) torpediert, der Aufkauf von Staatsanleihen auf dem
Sekundärmarkt verhindert und das direkte Finanzierungsverbot der
Mitgliedsstaaten durch die EZB verschärft.

Diese rigorose Sparpolitik gilt freilich in keiner Weise gegenüber
Pleitebanken. Deutschland befürwortet die Bankenhilfen, wobei es stets die
Wahrung seines Industriepotentials im Auge hat. Zwar sperrt sich Deutschland
nicht gegen eine künftige Finanzierung der Euro-Zone über föderative
Mechanismen, wie sie in den USA herrschen, aber Vorbedingung ist die
garantierte Haushaltskontrolle. Da die Lage der Banken sehr instabil ist und
wachsende Schulden nicht endlos übernommen werden können, so wie es
beispielsweise die USA mit Lateinamerika jahrzehntelang exerziert hat, hat
Deutschland diese Überwachungsmechanismen forciert. [14]

Dieser neue Haushaltsrahmen hat auf dem EU-Gipfel für neue Konflikte
gesorgt. Großbritannien hat sich gegen den deutsch-französischen Pakt
gesperrt und beschlossen, außen vor zu bleiben, um die Autonomie ihres
Finanzplatzes zu schützen. Das Land lehnt es ab, seine Banken durch Brüssel
überwachen zu lassen, da es kein Vetorecht erhalten hat, seinen Finanzmarkt
zu schützen. Das englische Kapital ist zwar durchaus daran interessiert, auf
dem europäischen Markt mitzumischen, aber nur, wenn der englische
Finanzmarkt weiterhin international ausgerichtet bleibt.

Die Allianz Merkozy geht zwar als scheinbarer Sieger aus dem jüngsten Gipfel
hervor, wie lange dies jedoch Bestand hat, wird sich erst erweisen. Die
Krise verschlingt die politischen Führungen und bei jeder Wahl werden die an
der Regierung sich befindenden Parteien abgestraft. Dies gilt in gleicher
Weise für die Sozialdemokraten (Irland, Portugal, Spanien) wie für die
Konservativen (Frankreich, Italien, Deutschland). [15]


FRAGEN ZU CHINA

Die gegenwärtige Krise hat eine bemerkenswerte Neuigkeit zutage gefördert,
nämlich dass China seine jährlichen Wachstumsraten von 9--10 % beibehalten
konnte. Im vergangenen Jahrzehnt hat der chinesische Gigant seine Exporte in
rasantem Tempo vervielfachen können. China sichert sich den Zugriff auf die
Rohstoffvorkommen in Afrika, baut die Handelsbeziehungen mit Lateinamerika
aus und hat Japan bereits als weltweit zweite Wirtschaftsmacht den Rang
abgelaufen. Dieser Aufstieg bestätigt nur, welch tiefgreifende Veränderungen
die neoliberale Ära mit sich gebracht hat. China hat sich in die
Globalisierung integriert, indem es von seinen billigen Arbeitskräften
profitierte, ohne die dabei übliche Rangfolge einzuhalten, nämlich den Start
in das internationale Geschäft durch Protektionen abzusichern, eine
nationale Bourgeoisie aufzupäppeln und danach in die internationale
Konkurrenz einzusteigen. Stattdessen beteiligte es sich umweglos an der
globalen Kapitalakkumulation.

Zu Beginn der Krise dachten viele Ökonomen, dass das Wachstum Chinas den
wirtschaftlichen Einbruch der Industrienationen auffangen würde. Diese
Hoffnung konnte nur teilweise eingelöst werden. Während der Höhepunkte der
Krise floss finanzielle Unterstützung aus China nach USA und Europa, um so
die Absatzmärkte zu stabilisieren, während zugleich die Binnennachfrage
aufrecht erhalten und verstärkt Rohstoffkäufe auf dem internationalen Markt
getätigt wurden. Dadurch konnte die allgemeine Wirtschaftsdepression
gebremst und die weltweite Ausbreitung der Rezession begrenzt werden, aber
als Zugpferd der Weltkonjunktur konnte China die Industrienationen nicht
ablösen und seine weitere Entwicklung ist offen.

Einige Ökonomen gehen davon aus, dass diese Entwicklung anhält und der Yuan
Europa finanziell stützen wird, indem europäische Staatsanleihen in großem
Umfang erworben werden. Aber China hat bereits große Teile der
italienischen, spanischen oder portugiesischen Schuldentitel übernommen und
ein Viertel der Währungsreserven lauten auf Euro. Weitere Käufe würden in
der chinesischen Spitze Spannungen hervorrufen. 

Die Bereiche der Wirtschaft, die am engsten mit dem Weltmarkt verbunden
sind, würden sich gegen entsprechende Gegenleistungen an weiteren
Stützungsaktionen beteiligen. Sie sind es auch, die Sanktionen wegen
Dumpings möglichst vermeiden wollen und anstreben, dass China als
"Marktwirtschaft" anerkannt wird. Sie wollen auch Investitionen in den
europäischen Infrastrukturen durchsetzen. Diese Fraktion ist bestrebt, China
für den Fall einer künftigen Weltwährung entsprechend zu positionieren.
Daher wollen sie auch, dass ihre Stützungsmaßnahmen teilweise auf Yuan
lauten. Zugleich würde durch solche Engagements der Yuan jedoch aufgewertet
werden, was zulasten des Exports ginge. Bisher hat China dem
Aufwertungsdruck stets widerstanden und die Forderungen abgelehnt, die die
USA in den vergangenen zehn Jahren gegenüber Japan durchsetzen konnten.
Durch ein internationales Engagement im Währungssektor könnte die Autonomie
der stärksten asiatischen Wirtschaftsmacht jedoch gefährdet werden. [16]

Die chinesischen Investmentfonds beteiligen sich aktiv an der Stützung des
Dollars und der US-Staatsanleihen und halten bspw. General-Motors-Aktien und
Beteiligungen an der Morgan-Stanley-Bank. Würden solche Akquisitionen auf
eine andere Ebene -- z. B. in Europa -- gehievt werden, geriete das Land in
eine hochriskante politische Führungsposition. Um die Erwerbungen im Ausland
zu verteidigen, wäre eine geopolitische Präsenz erforderlich, und dies will
die chinesische Spitze vermeiden. Aus diesem Grund sind weite Teile der
chinesischen Führung -- die sogenannte Inlandselite -- skeptisch gegenüber
ständig wachsenden Auslandsinvestitionen und befürworten vordringlich, die
äußerst schwache Binnennachfrage anzukurbeln. Diese Skepsis zeigte sich erst
kürzlich, als sich die Verfechter der Binnenentwicklung gegen ein
finanzielles Engagement in Europa starkgemacht haben. Notabene liegt das
chinesische BIP pro Einwohner bei unter 10 % des europäischen Durchschnitts.

Dieses Dilemma zwischen der Exportorientierung und der Hinwendung zur
Binnennachfrage bleibt vorerst ungelöst. Für die zweite Option wird viel
Druck gemacht, aber bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Käme eine solche
Wendung, dann entstünden Verwerfungen von enormer Reichweite. Um die
Binnennachfrage spürbar zu steigern, müssten die Löhne erhöht und
Sozialleistungen für die Allgemeinheit eingeführt werden. Diese Maßnahmen
würden mit dem Niedriglohnmodell konfligieren, das den kapitalistischen
Aufstieg des Landes erst ermöglicht hat. Welche Probleme ein solcher Schwenk
erzeugen würde, zeigen bereits vorhandene Tendenzen, die Investitionsflüsse
in andere Länder Asiens umzulenken, wo die Löhne noch niedriger als in China
sind.

Somit ist die weitere wirtschaftliche Entwicklung von multiplen
Einflussfaktoren abhängig. Die nächstliegende Unwägbarkeit ist die
Immobilienblase: In den 30 größten Städten sind die Immobilienpreise in den
letzten beiden Jahren um 50 % gestiegen, womit auch hier dieselbe
zweifelhafte Verschuldungsspirale in Gang gekommen ist wie in Spanien und
den USA. Da ein Viertel der chinesischen Volkswirtschaft an der
Bauwirtschaft hängt, könnte ein plötzlicher Umschwung dieser Wertsteigerung
das BIP in Mitleidenschaft ziehen. 

Daneben gibt es gravierende finanzielle Probleme. Obwohl der Staat den
Kreditmarkt kontrolliert, hat sich ein erheblicher informeller Schuldenmarkt
entwickelt, über den sich der Konsum der Mittelschichten und die
undurchsichtige Haushaltsführung der örtlichen Verwaltungen finanzieren.
Diese Diskrepanz erklärt den Anstieg der Inflation, die im vergangenen
Jahrzehnt um die 2 % lag und die jetzt bei 6,2 % angekommen ist. Ein
weiteres destabilisierendes Moment ist die Anhäufung von Vermögen durch die
privilegierten Schichten. Das Einkommen der reichsten 10 % der Bevölkerung
liegt 23-mal so hoch wie das der ärmsten 10 % und die Funktionärselite
bezieht Löhne, die 128-mal so hoch wie der allgemeine Durchschnitt
liegen. [17]

Neben diesem Riss in der Gesellschaft gibt es die strukturellen Probleme
durch den Investitionsüberhang, der bereits bei 45 % des BIP liegt. Eine
solche Investitionsrate erfordert die Erschließung neuer Märkte, und das vor
dem Hintergrund der internationalen Rezession. Außerdem nehmen die
ökologischen Risiken immer mehr zu, da die staatliche Kontrolle wegbricht.

Es lässt sich nicht vorhersagen, welche Auswirkungen eine neue weltweite
Rezession auf China haben wird. Die Einen sagen, dass dieser Effekt
verkraftbar wäre (Stiglitz), die Anderen sehen ernste Konsequenzen
heraufziehen (Roubini). Aber alle sind sich einig, dass davon eine
bedeutende Auswirkung auf die unmittelbare Entwicklung der Weltkonjunktur
haben wird. [18]


BRICS, EAGLE UND SCHWELLENLÄNDER

China ist nicht das einzige Land, das bisher eine weltweite Rezession
verhindern konnte. Auch eine Gruppe mittlerer Wirtschaftsstaaten, die
sogenannten Schwellenländer oder BRICS [Brasilien, Russland, Indien, China,
Südafrika] konnte sich dem Einbruch entziehen. Diese Staatengruppe bildet
die Semiperipherie in der gegenwärtigen Aufteilung der Welt. Das
Wirtschaftswachstum konnte dort im vergangenen Jahr aufrechterhalten und die
Investitionsrate sowie der Anteil am weltweiten BIP gesteigert werden. Wenn
diese Entwicklung anhält, werden sich die Produktions- und
Beschäftigungsstandorte in der kommenden Zeit erheblich verlagern. Diese
Umbrüche entsprechen der neuen internationalen Arbeitsteilung, die dem
asiatischen Kontinent zugutekommt. 

Diese aufstrebenden Wirtschaften sind die Lieblingskinder des Kapitalismus.
Sie werden vom IWF in höchsten Tönen gelobt und ihre Unternehmenschefs waren
die Stars auf den letzten Weltwirtschaftsforen in Davos. Die neuen
Multimillionäre aus China, Russland oder Indien passen sich rasch in den
Club der Herrscher dieser Welt ein. 

Ein weiterer Indikator für die laufenden Umbrüche ist die Verteilung der
weltweiten Geldreserven. Sie belaufen sich für die Schwellenländer auf
6500 Milliarden Dollar und für die Länder der nördlichen Hemisphäre auf bloß
3200 Milliarden. Die Außenverschuldung der ersten Gruppe ist zurückgegangen
und einige von ihnen gehören bereits zu den Gläubigern. An ihrem Gegenpol
ist über Nacht eine neue Kategorie entstanden: die "hochverschuldeten
reichen Länder".

Häufig werden jedoch aus diesen Umbrüchen falsche Schlüsse gezogen.
Hauptsächlich rührt die Konfusion aus der unterschiedslosen Klassifizierung
dieser aufstrebenden Länder in die Einheitskategorie BRIC. Diese Bezeichnung
umfasst ursprünglich Brasilien, Russland, Indien und China und wurde dann um
Südafrika zu BRICS ergänzt und dann um Indonesien und Südkorea zu BRIICS
erweitert. Neuerdings figurieren zusätzlich Mexiko, Ägypten, Taiwan und die
Türkei unter der erweiterten Bezeichnung EAGLE (Emerging And Growth Leading
Economies), also der aufstrebenden und wachstumsstarken
Volkswirtschaften. [19]

Hinter diesen Namensgebungen stecken die Finanzstrategen der Banken (Goldman
Sachs, BBVA), die solche Länder hinsichtlich möglicher Finanzinvestitionen
für gut oder schlecht bewerten. Diese Bewertungen unterliegen ganz
offensichtlich konjunkturellen Schwankungen. Schlimmer jedoch ist, dass mit
diesen Bezeichnungen solche Länder wie China, die auf dem Weg zu einer
Großmacht sind, in einen Topf geworfen werden mit solchen, die gerade mal
mittelgroße Wirtschaftsnationen mit ungewissen Zukunftsaussichten sind.


Zwischen dem asiatischen Giganten und allen anderen sogenannten
aufstrebenden Ländern klaffen Welten, was BIP, Exporte oder Finanzreserven
angeht. Besonders deutlich wird diese Kluft, wenn man Indien, dessen
Wirtschaft ebenfalls in den letzten Jahren stark gewachsen ist, dagegen
hält, oder das benachbarte Südkorea, das China als aufstrebende
Wirtschaftsmacht vorangegangen war und mit dessen Aufstieg wieder
zurückgefallen ist. [20] Wenn man all diese Länder in einen Topf wirft,
lässt man außer Acht, dass viele von ihnen sich erst weiter entwickelt
haben, indem sie China benötigte Basisprodukte geliefert haben. Sie waren
nicht die Motoren des weltweiten Wirtschaftswachstums, sondern wurden davon
mitgezogen. Außerdem muss man strikt unterscheiden zwischen den Vorreitern
einer industriellen Entwicklung und denjenigen, deren Entwicklung auf einem
Höhenflug der Erdöl- oder Agrarpreise (Russland bzw. Brasilien) beruht. Dies
macht einen erheblichen Unterschied, was die Dauerhaftigkeit ihres Wachstums
anlangt.

Noch grundlegender sind die Unterschiede zwischen den Schwellenländern in
geopolitischer Hinsicht. Während Russland und China eine außenpolitische
Vormachtstellung innehaben, sind Länder wie Indien, Brasilien oder Südafrika
weiterhin mit den tonangebenden Mächten der Welt eng verbunden oder von
ihnen abhängig. Aus diesem Grund haben diese sog. BRICS-Staaten auch nicht
aus sich heraus gemeinsame Strategien entwickelt. Die größere politische
Stabilität all dieser Staatengruppe hebt sich momentan sicherlich von der
allgemeinen Planlosigkeit ab, die unter den herkömmlichen Industriestaaten
herrscht. Aber auch daraus leitet sich keinerlei koordiniertes Auftreten auf
der internationalen Bühne ab.

Die neu entstandenen Bündnisse innerhalb der südlichen Hemisphäre, die
zulasten der alten Verbindungen mit den Metropolen gehen, haben begrenzten
Einfluss und sind nicht Vorbote einer "zweiten Globalisierung" unter Führung
der Schwellenländer, wie dies manche Analysten prognostizieren. Am
bezeichnendsten dafür ist die erfolgte Integration von Schwellenländern in
die G20, die zur besseren Stützung des kriselnden Kapitalismus
erfolgte. [21]


DIE LEIDEN DER PERIPHEREN LÄNDER

Die Ausnahmestellung der Schwellenländer blieb ohne Einfluss auf die übrigen
Länder der Peripherie. Die ärmsten Länder werden von der Krise wieder
unverhältnismäßig stark gebeutelt, so wie sie stets den Zuckungen des
Kapitalismus unterworfen sind. Die Auswirkungen betreffen sowohl
Arbeitsplätze als auch Löhne. Emigranten stehen vor noch höheren Hürden,
wenn sie in die Erste Welt gelangen wollen, die Hilfsleistungen gehen zurück
und die Flüchtlingswellen nehmen immer mehr zu. Obwohl in den Medien immer
nur von Schwellen-und Industrieländern die Rede ist, befindet sich die ganz
überwiegende Mehrheit der Länder außerhalb der G20 und leidet täglich unter
den dramatischen Umständen. 2050 Millionen Menschen haben dort keinen Zugang
zur elementaren Gesundheitsversorgung und 884 Millionen keinen zu
Trinkwasser.

Wahrhaft neu an dieser Katastrophe ist aber, dass zu diesen Entbehrungen
noch eine Hungersnot dazukommt. Der bereits vor der Krise spürbare
Preisanstieg für Nahrungsmittel hat sich durch die Rezession nicht
umgekehrt. In vielen Regionen verschärft sich die dramatische
Unterernährung. In Somalia bspw. herrschen sämtliche Symptome einer
Hungersnot. Insgesamt leiden 1020 Millionen Menschen an Hunger, davon
bedroht sind jedoch 2500 Millionen, die in Armut leben. Dies Elend wächst
mit den steigenden Getreidepreisen als Folge der zunehmenden Agrarexporte,
mit denen der Neoliberalismus die kleinen Erzeuger und die traditionelle
Subsistenzwirtschaft ruiniert und dadurch die Enteignung der Bauern und die
Landflucht befördert.

Die kapitalistische Umstrukturierung der Landwirtschaft führt zur
Nahrungsmittelknappheit, unter der ein Sechstel der Menschheit leidet,
während die Gesamtproduktion ausreichen würde, die Menschheit ausreichend zu
ernähren. Das Profitstreben und die Kontrolle des Agrarhandels durch eine
Handvoll supranationaler Oligopole (Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill
und Louis Dreyfus) verschärfen die Hungerkatastrophe noch weiter. Die
Hoffnungen, dass die durch die Konjunkturabschwächung ausgelöste Deflation
dieses Problem mildern würde, haben sich nicht erfüllt. Der Preisanstieg für
Nahrungsmittel setzt sich seit 2003 im Wesentlichen fort.

Viele Ökonomen glauben, dass hier eine neue Spekulationsblase entsteht.
Warentermingeschäfte mit Getreide sind mittlerweile hochprofitabel. Dadurch
wird überschüssige Liquidität infolge mangelnder profitabler
Investitionsmöglichkeiten in den Industrieländern umgeleitet. [22] Andere
Analysten glauben, dass der Preisanstieg für Nahrungsmittel ein
strukturelleres Problem ist, das aus der wachsenden Nachfrage neuer
Konsumenten aus Asien resultiert. Zudem verweisen sie auf die gestiegenen
Produktionskosten und die sinkende Produktivität im Agrarsektor. [23]

Hierbei handelt es sich um zwei Sichtweisen ein- und desselben kurz- wie
langfristigen Phänomens, die einander ergänzen. In jedem Fall bedeuten die
Finanzspekulationen und das strukturelle Auseinanderklaffen von Angebot und
Nachfrage, dass die Nahrungskrise, die von allen Experten der FAO
vorhergesagt wird, sich weiter verschärft. Erschwerend hinzu kommt der Druck
der Agrarindustrie, der innerhalb der G20 jede internationale
Preisreglementierung blockiert. Und die Mitglieder der G20 produzieren 77 %
der Getreide und kontrollieren 80 % des Agrarhandels weltweit. Die
Hungersnot der Armen ist die Kehrseite der Gewinne auf Seiten Einiger in der
G20.


MULTIPOLARITÄT UND HEGEMONIE

Die regional unterschiedliche Lage in der gegenwärtigen Krise hat zur Folge,
dass allgemein ein Umschwenken der Weltherrschaft hin zur Multipolarität
angenommen wird. Die Rahmenbedingungen sind anders als bei der Bipolarität
im Gefolge des Zweiten Weltkriegs (USA vs. UdSSR) und der Unipolarität der
90er Jahre (absolute Vorherrschaft der USA). Der Abstieg der USA geht einher
mit dem Aufstieg Chinas und der Schwellenländer. Manche Analysten gehen
davon aus, dass sich der Neoliberalismus erschöpft habe und die Peripherie
durch nachholende Entwicklung auf der Grundlage staatlicher Interventionen
und Handelsbeziehungen zwischen den Ländern der Südhalbkugel weiter wachsen
wird. [24]

Diese Sichtweisen lassen außer Acht, dass zwischen der vorherigen und der
jetzigen Periode ein tragendes Kontinuum besteht. Zwar könnten sich die
Kräfteverhältnisse zwischen den mächtigen Staaten durch die Multipolarität
ändern, aber die Grundpfeiler der neoliberalen Globalisierung sind davon
nicht betroffen. Die multinationalen Konzerne existieren weiterhin und
ebenso die weltweite Konkurrenz um die Profite aus der Ausbeutung der
Arbeitskraft. Außerdem werden durch die Internationalisierung des Kapitals
der Freihandel und der grenzüberschreitende Finanzkapitalfluss weiter
bestehen. Im Unterschied zu der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen werden
durch die Multipolarität keine protektionistischen Blöcke entstehen, die
Kriege zur Eroberung von Märkten führen.

Die wirtschaftliche Stagnation der alten Industrieländer wird in der Tat zu
vermehrter Interaktion zwischen den Schwellenländern führen. Aber dieser
Austausch geht in enger Anbindung an die Konzerne der Ersten Welt vonstatten
und beruht nicht auf einer technologischen Notwendigkeit oder auf
Finanzierungszwängen. Die Bourgeoisien der Schwellenländer haben ihren
Aktionsradius gemeinsam mit dem Auslandskapital erweitert und bauen diese
Verbindungen weiter aus. 

Ihre Strategien sind von antiimperialistischen Einflüsterungen weit entfernt
genauso wie von der Bewegung der "Blockfreien". Ebenso wenig gehen von ihnen
Impulse für eine Planwirtschaft (COMECON) oder eine solidarische
Völkergemeinschaft (Bandung) aus. Ihre Handlungsmaxime ist der Profit und
damit die Beibehaltung traditioneller Ungleichheit in den Beziehungen
zwischen Zentrum, Peripherie und Semiperipherie. Die Globalisierung hat den
geographischen Rahmen dieser Beziehungen verschoben. Mittlerweile ist eine
geographische Nähe zwischen den dominierenden Wirtschaftsstaaten und ihren
Zulieferern vorgefertigter Teile nicht mehr unabdingbar. Insofern
überschreiten die Herrschaftsverhältnisse allmählich ihren traditionellen
Rahmen. 

Man kann zwar nicht voraussagen, wie diese Änderungen schließlich ablaufen
werden, aber natürlich wird es am Ende nicht nur Gewinner geben. Die Gesetze
der Akkumulation erzwingen ein Gleichgewicht zwischen den Gewinnern auf der
einen Seite und den Verlierern auf der anderen. Wenn eine Region
prosperiert, muss eine andere niedergehen, damit die Bereicherung der
obsiegenden Kapitalisten von der Bevölkerung der unterlegenen Region bezahlt
werden kann.

Die Multipolarität ändert nichts daran, dass die Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft nach dem Selektionsprinzip verfährt. Der
Kapitalismus ist langfristig unvereinbar mit einem vereinheitlichten,
gemeinsamen Wachstum und der allmählichen Ausschaltung aller
gesellschaftlichen und regionalen Unterschiede. Die Verfechter der neuen
Weltordnung übersehen, dass diese Bruchlinien zunehmen, und stellen sich
vor, dass mit der Multipolarität ein Umbruch der politischen Hegemonie
zugunsten Chinas und zulasten der USA einherginge. Aber es fehlt jedwede
Klarheit darüber, was ihrer Ansicht nach Hegemonie eigentlich heißen soll.
Man kann darunter entweder imperialistische Vorherrschaft verstehen oder
konsensorientierte Politik zur Abwehr drohender Kriege. Das erste
unterstellt, dass der chinesische Expansionsdrang die US-Dominanz ersetzen
würde. Das Zweite, dass dies auf friedlichem Weg passieren würde, also das
Ergebnis einer erdrückenden wirtschaftlichen Überlegenheit. Dass beide
Annahmen falsch sind, liegt auf der Hand.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs üben die USA eine unumwundene
imperialistische Dominanz aus. Sie treten als militärischer Garant für die
Kapitalreproduktion auf und gewährleisten den Schutz aller herrschenden
Klassen, wenn es zu Aufständen der Bevölkerung kommt oder das System ins
Wanken gerät. Die chinesische Führung denkt nicht einmal im Traum daran,
diese Rolle künftig übernehmen zu können.

Diejenigen, die meinen, Zwangsmittel seien aufgrund der Wirtschaftskraft im
Osten gar nicht nötig, erklären nicht, wie der internationale Kapitalismus
ohne militärische Garantien funktionieren könnte. Eine solche Vision
übersieht, dass ein auf der Konkurrenz um Profite basierendes System, das
sich auf Ausbeutung stützt, sich nicht halten kann, ohne auf Gewalt
zurückzugreifen.

Multipolarität mit dem militärischen Rückzug der USA oder ihrer europäischen
Verbündeten gleichzusetzen, wäre naiv. Mag sich die Weltwirtschaft noch so
sehr von der einseitigen Ausrichtung auf den Westen freimachen, werden
dennoch die USA weiterhin als Weltgendarm Invasionen, Okkupationen und
Massaker verantworten. Natürlich befindet sich die Supermacht gegenwärtig
nicht in der omnipotenten Position wie in den 90er Jahren. Aber sie
dominieren die Nato, verfügen über die Hälfte des weltweiten
Militärhaushaltes und sind weiterhin eng mit all den Ländern verbündet, die
sie während des Kalten Krieges hinter sich gebracht haben. Und die
wichtigsten dieser Bündnispartner neigen nicht dazu, diese engen Bande
infrage zu stellen, bloß weil sie wirtschaftlich auf dem Vormarsch sind.
Exemplarisch dafür ist die ungebrochene Loyalität der Golf-Staaten und noch
bezeichnender die Ergebenheit Japans, das nicht einmal nach irgendeiner
politischen Unabhängigkeit strebt, um so der wirtschaftlichen Stagnation zu
entkommen. Der wirtschaftliche Niedergang Japans hat sich durch die
Rekordverschuldung des Staates und das Scheitern der Konjunkturprogramme
nach dem Erdbeben weiter verstärkt. [25]

Die zentrale Position der USA hat sich erst kürzlich bestätigt, als die G7
durch die Kooptation der Mittelstaaten erweitert und der IWF wieder
aktiviert wurde, um den Fortbestand der herrschenden Weltordnung zu sichern.
Der Weltgendarm wird auch seine Macht nutzen, um verlorenes Terrain
zurückzuerobern, wie die Druckmittel zeigen, die er gegenüber dem
chinesischen Rivalen unverhohlen eingesetzt hat: Manöver zur See in Südkorea
und zu Land in der Mongolei sowie die künftige Einrichtung einer
Militärbasis in Australien. Er versucht seinen Rivalen zu testen, und zwar
unter Ausnutzung des Streits Chinas mit Taiwan und Indien oder indem der
Status Tibets thematisiert wird. Trotz alledem ist er aber auch bisher nicht
so weit gegangen, das seit Jahrzehnten bestehende partnerschaftliche
Verhältnis zu China aufs Spiel zu setzen.

Der asiatische Riese hat sich gleichfalls seinen Platz in der
kapitalistischen Gemeinschaft erobert. Statt auf den Zusammenbruch der
westlichen Banken zu setzen, ist er ihnen zu Hilfe geeilt. Bei der
Euro-Krise ist er weiter auf den IWF zugegangen, indem er künftige
Kreditleistungen von der Einhaltung der IWF-Kriterien abhängig gemacht hat.
Solche Engagements verstärken noch die abwehrende Haltung der chinesischen
Führung gegenüber lokalen oder internationalen Protesten gegen den
Neoliberalismus. [26]


NEOLIBERALE UND KEYNESIANER

In der Wirtschaftsdebatte stehen sich weiterhin die orthodoxen und die
heterodoxen Vertreter gegenüber. Die Neoliberalen führen die Krise auf die
"unverantwortliche Haushaltspolitik" zurück und schimpfen auf die
Regierungen, die das Geld für unproduktive Posten verschwendet hätten. Dabei
übersehen sie, dass diese Ausgaben ursprünglich die wirtschaftliche
Expansion der Industrieländer gefördert haben und der nachfolgende
Kontrollverlust auf die Bankenrettung zurückzuführen ist. Vor 2007 noch
hatte die Mehrheit der europäischen Länder bspw. einen Haushaltsüberschuss.

Der neoliberale Diskurs redet diese Hilfspakete klein und macht für das
aktuelle Desaster "die Bevölkerung, die über ihre Verhältnisse gelebt" habe
verantwortlich, als ob es eine Sünde sei, besser leben zu wollen. Auch
liefert er keine Erklärung dafür, dass die Reichen von allen Opfern
ausgenommen werden. Die Dauerhaftigkeit der Krise muss auch dafür herhalten,
die Angriffe auf den Lebensstandard zu rechtfertigen. Wenn sich keiner mehr
traut, die Flexibilisierung der Arbeit als Schlüssel zum Wohlstand zu
verkaufen, bekommen wir erklärt, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen,
um zu überleben. [27]

In den USA werden dieselben Argumente von den Republikanern verwandt, um
weitere Einschnitte bei den "Soziallasten" zu fordern, wobei natürlich die
Privilegien der Banken, die Militärausgaben und die Steuererleichterungen
für die Reichsten außen vor bleiben. Sie fordern eine strikte
Schuldenobergrenze, die von Wächtern des Finanzsystems kontrolliert wird,
und vergessen dabei, dass die Hilfen für die Finanzwirtschaft ihren eigenen
Grundsätzen der freien Marktwirtschaft zuwiderlaufen.

Die Keynesianer hingegen führen die Krise auf die Deregulierung der
Finanzmärkte und die Schrumpfung der Nachfrage zurück. Insofern schlägt
Krugman vor, die Reichen zu besteuern, die öffentlichen Investitionen
anzukurbeln und die Löhne zu erhöhen. Stiglitz stößt ins gleiche Horn und
appelliert für Annullierung der Hypotheken und für Sanktionen für die
Banken. [28] Diese Autoren verweisen zu Recht darauf, dass die katastrophale
Krise durch bewusst unzureichende Risikokontrolle, getrickste Bilanzen und
Handel mit Derivaten und verbrieften Schuldentiteln im Paket ausgelöst
worden ist. Dabei übersehen sie aber, dass diese Praxis logische Folge des
systemimmanenten Wettbewerbs beim Umgang mit Krediten ist. Das Gleiche gilt
für die Verschuldung der Privathaushalte und soziale Ausgrenzung, die nicht
bloß Folge einer verfehlten Wirtschaftspolitik sind.

Die heterodoxen Ökonomen vergessen, dass das Auseinanderklaffen von Konsum
und Produktion Folge der Akkumulation selbst ist, die den
Produktivitätszuwachs vom Anstieg der Kaufkraft entkoppelt. Diese
Widersprüche sind durch die Rivalität noch verschärft worden, die sich im
Zuge der neoliberalen Globalisierung auf die gesamte Welt ausgedehnt hat.
Zudem halten sie es für möglich, diese Ungleichgewichte durch eine
gleichmäßige Verteilung der Kosten der Krise zu mildern. Ihr Vorschlag
lautet, die finanziellen Verluste gleichermaßen auf die Schuldner und die
Gläubiger zu verteilen. Man muss sich aber bloß die Reaktion der Banken
angesichts des vorgesehenen Schuldenschnitts für Griechenland vor Augen
führen, um zu wissen, wie die Fronten verlaufen. Diese Ankündigung hat die
Ratingagenturen Sturm laufen lassen und zur überstürzten Haushaltsanpassung
der EU geführt. Genauso heftig fiel zuvor die Reaktion der Finanzmärkte aus,
als die Schließung von Steuerparadiesen oder die Streichung der
astronomischen Prämien ["Boni"] für die Führungskräfte vorgeschlagen wurden.


Um diesen Widerstand seitens der Finanzwelt auszuschalten, bräuchte man
energischere Maßnahmen wie die Aufkündigung der Schuldendienstzahlungen, ein
Audit über die Passiva und die Verstaatlichung des Bankenwesens. Das Gleiche
gilt für die Förderung der Konjunktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Um solche Ziele zu erreichen, müssten die Zahlungen an die Gläubiger
eingestellt, die Kapitalflüsse kontrolliert und eine drastische
Steuerprogression eingeführt werden. [29]

Die gegenwärtige Konjunktur hat den Spielraum eingeengt, sodass soziale
Reformen nur im Zuge antikapitalistischer Aktionen durchgeführt werden
können. Wir leben in einer Atmosphäre des "Rette sich, wer kann", die nur
sehr geringe Manövrierräume für eine Politik des "Kapitalismus mit
menschlichem Antlitz" zulässt. Stattdessen herrscht der Druck, die
insolventen Banken zu kurieren, die Unternehmen zu sanieren und den Wert der
Arbeitskraft zu drücken. In diesen Tendenzen kommt nicht nur die rechte
Ideologie der Herrschenden oder der übermächtige Einfluss der Finanzmärkte
zum Ausdruck. Die gesamte herrschende Klasse unterstützt die Finanzmärkte
bei der Durchsetzung der Strukturmaßnahmen, was sich auch im Verhalten der
europäischen Sozialdemokraten zeigt. Wenn sie an die Regierung gelangen,
betreiben sie die gleiche Politik wie die Rechte und akzeptieren den
autoritären Kurs des Gespanns Merkel-Sarkozy. Beispielsweise haben alle die
Entlassung Papandreous gebilligt, als dieser die "Chuzpe" besaß, um ein
Referendum zu ersuchen, und somit eine klare Botschaft in puncto
neokolonialer Einmischung an Griechenland übermittelt. [30] Die Indifferenz
der US-Regierung gegenüber Petitionen liberaler Kräfte spricht dieselbe
Sprache. Dieses Gebaren unterscheidet sich völlig von der Politik eines
Roosevelt in den 30er Jahren, als reformistische Ideen noch Gehör fanden.

Viele Keynesianer gestehen zu, dass die Lage vertrackt ist, meinen aber,
dass man die Zwischenlösungen, die Argentinien nach dem Staatsbankrott und
dem Schuldenerlass betrieben hat, auch auf internationaler Ebene übertragen
könne. [31] Dabei übersehen sie freilich die spezifischen Bedingungen, die
dieses Experiment ermöglicht haben. Argentinien konnte es sich erlauben, vom
internationalen Finanzmarkt relativ abgeschnitten zu sein, weil es in den
Welthandel als Nahrungsmittelexporteur involviert war. Dabei konnte es von
Preissteigerungen profitieren und avancierte zum bevorzugten Lieferanten der
aufstrebenden asiatischen Staaten. Außerdem verwandte es die riesigen
Exportgewinne dazu, die Binnennachfrage wieder zu beleben, nachdem eine
brutale Abwertung vorangegangen war, die zugleich eine Kapitalbereinigung
und eine Lohnsenkung mit sich gebracht und somit die zyklische
Neuzusammensetzung der Profitrate erleichtert hatte.

Die meisten wirtschaftlich abhängigen Länder, die von der Krise betroffen
sind, verfügen jedoch weder über vergleichbare Ressourcen noch über die
Ausgangsbedingungen, die eine solche Erholung ermöglichen könnten. Sie
könnten in der Tat einige der damals von Argentinien praktizierten Ansätze
übernehmen, aber lediglich als Ausgangspunkt für viel radikalere und
forschere Maßnahmen. [32]

Aufgrund der enormen Ausmaße der Krise ist eine antikapitalistische
Herangehensweise, die einen Bruch mit den verschiedenen Varianten des
gegenwärtigen Gesellschaftssystems beinhaltet, unumgänglich. Die gängigen
Sichtweisen der Ökonomen sind außerstande, diese Einschränkungen gedanklich
zu überwinden und beschränken sich darauf, sich zwischen dem
angelsächsischen Modell, dem deutschen Schema und dem Weg Chinas zu
bewegen. [33] Dabei ignorieren sie, dass die gegenwärtige Krise im
kapitalistischen System an sich ihre Wurzeln hat, und gehen über die
Widersprüche hinweg, die immer wieder aus dem Akkumulationsprozess heraus
entstehen und sich überall hin ausbreiten. Ein System, das auf der
Konkurrenz um die Aneignung der durch Ausbeutung entstandenen Profite
basiert, produziert zwangsläufig die Art von Krisen, wie wir sie gegenwärtig
erleben. 

Wenn man wirkliche Alternativen zur Lösung der Krise entwickeln will, muss
man sich zuerst darüber im Klaren sein, dass der Kapitalismus weder das
einzige noch das beste aller möglichen Systeme ist. Ist man dafür offen,
kann man die Resignation überwinden, zum entschlossenen Kampf bereit sein
und die Wege beschreiten, von denen die Mehrheit der Bevölkerung profitiert.


SOZIALER WIDERSTAND

Der Verlauf der Krise kann sich abrupt durch die in den letzten Monaten
zunehmenden Aktionen seitens der Betroffenen ändern. Lässt man diese
Reaktionen außer Acht, bleiben die Analysen abstrakt und unterstellen, dass
sich die wirtschaftlichen Abläufe in einem gesellschaftlichen Vakuum
vollziehen oder bestenfalls am grünen Tisch der Politiker und Finanzmanager.

Der Ausbruch der Krise hat unter der Bevölkerung, die Katastrophen
eigentlich immer mit der Dritten Welt in Verbindung bringt, zunächst große
Verwirrung gestiftet. Zugleich war die Bestürzung von der Angst um den
Arbeitsplatz geprägt. Aber mit den Aufständen im arabischen Raum Ende 2010
trat ein neues Element hinzu, da dort gezeigt wurde, dass es der
Demokratiebewegung möglich ist, große Siege zu erkämpfen. Dieser Impuls von
außen hat den Widerstand in Griechenland gefestigt und zur wichtigsten
Bastion der rebellierenden Bevölkerung werden lassen. Die Demonstranten, die
die Plätze besetzen und das griechische Parlament umzingeln, befinden sich
quasi im Aufstand.

Diese Proteste wiederum haben die spanischen "indignados" [die "Empörten"]
motiviert, die Bankenhilfe infrage zu stellen und "wirkliche Demokratie" zu
fordern. Die Bewegung dort hat sich inzwischen Legitimation und neue
Unterstützer verschafft und ist im gesamten spanischen Staat präsent.

Soziale Proteste sind auch in England entstanden, sowohl unter den jungen
Arbeitslosen, die von der Polizei schikaniert werden, als auch unter den
gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen. In Italien wird gestreikt und
in Portugal gibt es Mobilisierungen. Diese Kämpfe weiten sich allmählich aus
und das positive Image der EU erhält Risse. Wenn von unten her ein Sieg
errungen werden kann, könnte die große Tradition der Revolutionen auf dem
Alten Kontinent wieder aufleben.

Das frappanteste Ereignis des Jahres [2011] fand jedoch auf der anderen
Seite des Atlantiks statt, nämlich mit dem Aufkommen der "Occupy Wall
Street"-Bewegung. Dieser Anstoß hat mittlerweile Wellen im ganzen Land
geschlagen und genießt die Sympathie der Bevölkerung, Solidarität unter den
Intellektuellen und Unterstützung durch die Gewerkschaften. Zum ersten Mal
seit Jahrzehnten finden somit wieder Massendemonstrationen im Herzen des
Kapitalismus statt, die sich der institutionellen Kontrolle entziehen.

Auf weniger starkes Medieninteresse sind die Protestbewegungen gestoßen, die
China umtreiben. Dabei hat es allein im Lauf des vergangenen Jahres 180 000
Protestaktionen gegeben, die zumeist gegen die Ausbeutung der Lohnabhängigen
gerichtet waren. Dort ist eine neue Generation von ArbeiterInnen entstanden,
die sich von ihrer bäuerlichen Herkunft gelöst und Selbstvertrauen gefasst
hat und ihre Errungenschaften in der direkten Auseinandersetzung mit den
Unternehmern erzielt. [34]

Auf allen Kontinenten erhebt sich die Jugend und baut Bewegungen auf, indem
sie die sozialen Netzwerke zur Information und Organisierung nutzt. Ein
erster Ansatz zu einer internationalen Bewegung ist am 15. Oktober 2011
entstanden, als weltweit in 950 Städten und 80 Ländern zugleich
Demonstrationen stattfanden. Eine koordinierte Aktion solchen Ausmaßes hat
es seit den Mobilisierungen gegen den Irak-Krieg 2003 nicht mehr gegeben.

Wenn sich diese Widerstandsbewegungen auf regionaler und internationaler
Ebene weiter vernetzen, könnte ein Gegengewicht geschaffen werden gegen die
Versuche der Herrschenden, die ArbeiterInnen Land für Land in die Knie zu
zwingen. Die führenden Vertreter dieser Strategie sitzen in den deutschen
Herrschaftsetagen und verbreiten, dass die deutschen ArbeiterInnen "ihr
Opfer schon bereitwillig geleistet" hätten und "nicht die Zeche für den
faulen Süden zahlen müssten". Mit dieser Botschaft sollen die Lohnabhängigen
gegeneinander ausgespielt und die Gewinne, die die Kapitalisten aus dieser
Spaltung ziehen, kleingeredet werden. Die Hetzkampagnen der Rechten gegen
die ImmigrantInnen verfolgen das gleiche Ziel. [35]

Ein Weg nach vorn aus dieser Krise setzt voraus, diesen Spaltungsversuchen
unter der weltweiten ArbeiterInnenschaft entgegenzutreten. Die Spannungen
zwischen den deutschen und griechischen, US-amerikanischen und chinesischen
oder spanischen und marokkanischen Lohnabhängigen führen dazu, dass das Volk
die Konsequenzen aus der aktuellen Krise des Kapitalismus zahlen muss.
Internationalistische Gegenreaktionen darauf würden diese Gefahr kontern und
dazu führen, dass die Jugend und die Teile der Arbeiterklasse, die sich noch
nicht gegen die neoliberalen Angriffe zur Wehr setzen konnten, wiederfinden
können. Das Jahr 2012 bietet Gelegenheit, den Verlauf der Krise zum Wohle
der abhängig Beschäftigten zu ändern.


Buenos Aires, 21. Dezember 2011
Claudio Katz ist Wirtschaftswissenschaftler und Forscher im Nationalen
Wissenschafts- und Technologiekonzil (CNCT) und lehrt an der Universität in
Buenos Aires (Argentinien). Sein jüngstes Werk Bajo el Imperio del capital
[Unter der Herrschaft des Kapitals] (Bogotá 2011) liefert eine neuartige
Analyse des gegenwärtigen Imperialismus. Er ist Mitglied der EDI
(Economistas de Izquierda [Linke WirtschaftswissenschaftlerInnen]). Seine
Beiträge sind zu lesen unter: http://katz.lahaine.org/
Übersetzung aus dem Französischen: MiWe



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Aus:   Inprekorr Nr. 2/2012    (Internationale Pressekorrespondenz)
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
Bestellungen:          Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34, 25761 Büsum
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Artikel im CL-Datennetz:                        cl.medien.inprekorr
Artikel im Internet:                        http://www.inprekorr.de
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[1] 1979 entfiel auf das reichste Prozent der Bevölkerung 9 % des nationalen
Einkommens, mittlerweile beanspruchen sie 24 %. Wenn die Vertreter von
OccupyWall Street von sich behaupten"wir sind99 %der Bevölkerung",wissen sie
durchaus, wovon sie reden. Vgl. Roberts, Paul Craig, "Las pérdidas de
puestos de trabajo en Estados Unidos son permanentes", /Rebelión/,
30. Oktober 2010.
[2] /Wall Street Journal/, "La recuperación de EEUU es una de las más
decepcionantes", /La Nación/, 31. Dezember 2010.
[3] Auch wenn einige Banken kürzlich Eigenkapital und Liquidität
aufgebessert haben, bleibt der unlängst erfolgte Bankrott der achtgrößten
Investmentgesellschaft(MFGlobal)ein Beispiel für die drohenden
Gefahren.MFGlobal ist zusammengebrochen, weil es sich mit europäische
Schuldtiteln verspekuliert hatte. Montero, Alberto: "Cuando la democracia
entra por la puerta", /Rebelión/, 2. November 2011.
[4] Kennedy, Paul: "Un mundo de tres monedas", /Clarín,/ 8. Juni 2011 ;
Robert Mundell: "El futuro de las monedas de reserva luego de la crisis",
/El País,/ 18. Januar 2010 ; Michel Crittenden: "Puede el dólar ser
destronado",online.wsj, 1. März 2011/./ Siehe auch: Wallerstein, Inmanuel:
"Guerra de divisas", /La Jornada/, 6. November 2010, Eichengreen, Barry: "El
reinado del dólar llega a su fin", /La Nación/, 2. März 2011.
[5] Ocampo, Emilio: "Brujas y burbujas", /Ámbito Financiero/, 2. September
2010, wie auch /La Nación/ vom 13. September 2010 und vom 30. August 2010
sowie /Financial Times/ vom 20. September 2010.
[6] Die USA haben auch alles daran gesetzt, die Legitimationskrise des IWF
zu entschärfen und noch immer bleibt die Rolle, die sie bei dem Skandal um
den ehemaligen IWF-Vorsitzenden Dominique Strauss-Kahn gespielt haben, im
Dunkeln. Vgl. CADTM, "FMI, le lamentable symbole d'un système capitaliste et
patriarcal", http://www.cadtm.org/FMI-lamentable-symbole-d-un
[7] Fiori, José Luis: "Muy lejos del equilibrio", Sin Permiso, 19. Dezember
2010, Cantelmi, Marcelo: "El G 20 en las puertas", /Clarín/, 23. Oktober
2010.
[8] Für die erste Sichtweise vgl. Pasquino, Gianfranco: "La UE aún
representa el progreso", /Clarín/, 31. August 2010.
[9] Husson, Michel: "Euro: en sortir ou pas?", /Inprecor/ Nr. 575/576,
Juli-September 2011; Samary, Catherine: "The Eastern periphery of the
European Union faced with the global crisis". In: Onaran Ozlen (Red.),
/Capitalist Crises and alternative/s, Resistance Books, London 2011.
[10] Seit dem Bankrott der belgischen Bank Dexia kursieren zahlreiche
Hypothesen über eine Wiederauflage des Szenarios, das auf die Pleite von
Lehman Brothers gefolgt war. Die "Stresstests" der europäischen Banken
konnten die Fachleute wenig überzeugen, was die fällige Rekapitalisierung
dieser Banken angeht. Durch diese Verpflichtung werden wiederum die Kredite
verknappt und die Rezession verschärft.
[11] Llach, Juan: "Pulseadas en el palacio global", /La Nación/, 30. Juni
2010.
[12] /La Nación/, 16. Januar 2010.
[13] Husson Michel, "Eine bodenlose Krise", /Inprekorr/ 5/2011,
September-Oktober 2011 ; Louca, Francisco: "La izquierda contra la dictadura
de la deuda", www.sinpermiso, 17. Oktober 2011.
[14] Es mangelt an Zeit, um die Schuldentitel auf nachrangige Inhaber zu
übertragen, die Bilanzen zu säubern oder Parallelmärkte für die faulen
Kredite zu schaffen. Die gegenwärtige Krise trifft die von einander
abhängigen Volkswirtschaften im Zentrum des Kapitalismus zu einer Zeit
heftiger konjunktureller Schwankungen. Arceo Enrique, /Página 12/, 12
septembre 2011 ; Toussaint Eric, "Krach de Dexia : un effet domino en route
dans l'UE ?", /Inprecor/ n° 577/578 vom Oktober-November 2011.
[15] Die Reorganisation der Euro-Zone soll die Einführung föderativer
Strukturen innerhalbder EU vorbereiten, damit Entscheidungsprozesse auf
lokaler Ebene stärker unter staatlicher Aufsicht zentralisiert werden.
Dieser Umbruch führt zu enormen Verwerfungen und könnte zur Stärkung
sezessionistischer Kräfte in den Ländern führen, in denen es starke
separatistische Parteien gibt (Belgien, Spanien oder Italien). Diese
Sektoren könnten auf eine direkte Einbindung in die Euro-Zone setzen und die
vorhandenen staatlichen Strukturen umgehen, um sich so die armen Regionen
vom Hals zu schaffen.
[16] Shujie Yao, "Los límites del modelo China", /Cash-Pagina 12/, 7. August
2011. S. a.: /Wall Street Journal/, /La Nación/, 17. November 2011.
[17] /La Nación/, 5. Juni 2010.
[18] Roubini, Nouriel, "El boom de China tiene fecha de vencimiento", /La
Nación/, 24. April 2011. Stiglitz Joseph, www.elperiodico.com, 9. August
2011.
[19] Bocco Arnaldo, "De los Brics a las Eagles" /Página 12/, 10. Januar
2011 ; Abeledo Anahí, "El desafío para los emergentes es tener crecimiento",
/Clarín/, 10. Juli 2011.
[20] Beckett Paul, "Pese al crecimiento, aumentan las dudas sobre el milagro
indio", /La Nación/, 30. März 2011 ; Nye Jospeh, "La carrera de fondo,
/Clarín/, 2. Februar 2011 ; Ramstad Evan, "El milagro coreano", /La Nación/,
8. November 2010.
[21] Eine bemerkenswerte Analyse in: Kateb Alexander, "Los países BRICS dan
una lección", /Página/ 12, 20. September 2011.
[22] Halevi Jospeh "Se avecina una nueva crisis", /Il Manifesto/ 8. Juni
2011.
[23] Krugman Paul, "Las limitaciones que nos impone un mundo finito", /La
Nación/, 29. Dezember 2010 ; Blejer Mario, "Argentina y la seguridad
alimentaria" /La Nación/, 4. Dezember 2011.
[24] Die verschiedenen Standpunkte in: De La Balze Felipe, "La crisis
acelera el curso de la historia", /Clarín/ 27. November 2011; Turzi Mariano,
"La nueva divisoria global: emergentes y declinantes", 18. August 2011;
Tokatlian Gabriel, "El año de la encrucijada", /La Nación/, 11. Januar 2011;
Cufré David, "Con la vieja receta", /Pagina 12/, 26. Juni 2010.
[25] Belson K, Onishi N, "Una falta de liderazgo que agudiza la crisis", /La
Nación/, 17. Februar 2011.
[26] Dieses Thema habe ich kürzlich dargelegt in: Katz Claudio, /Bajo el
imperio del capital/, Espacio Crítico Ediciones, Bogotá 2011.
[27] Die Standpunkte im Einzelnen in: Gros Daniel, "En defensa de la
austeridad para Europa", /Clarín/, 4. Dezember 2011 ; Pagni Carlos, "La
crisis del estatismo", /La Nación/, 19. Juli 2010 ; Schauble Wolfang et
MacFadden Daniel, /Página 12/, 28. August 2011.
[28] Krugman Paul in /Clarín/ vom 11. Juli 2010, 13. Juli 2010, 22. Mai
2010, 10. August 2010, 6. November 2010, 28. August 2010, 14. August 2010.
Stiglitz Joseph, "Qué puede salvar el Euro", El País, 8. Dezember 2011 ; "El
mercado hipotecario", /Clarín/, 6. November 2010; "La austeridad es camino
suicida", /Página 12/, 7. Dezember 2011, "Un contagio de malas ideas", Sin
Permiso, 14. August 2011. S. a.: Skidlesky Robert, "El mundo para volver a
leer a Keynes", /Página 12/, 2. August 2011 ; Mitchell William,
"Entrevista", /Página 12/, 10.Oktober 2011.
[29] Wolff Rick "Krugman frustrado", /Monthly Review/ 10.März 2010 ; Onaran
Ozlem, "An internationalist transitional program towards an anti-capitalist
Europe, April 2011,
http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article2096 ;Lapavitsas
Costas "A Left Strategy for Europe", April 2011,
http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article2091 ; Albarracín
Daniel, "Une stratégie pour avancer vers un autre modèle supranational
solidaire", /Inprecor/ n° 577/578, Oktober - November 2011.
[30] Der Gipfel war die anschließende Inthronisation einer Regierung, die
unmittelbar aus Bankern besteht (Papademos). Die gleiche Wachablösung wurde
in Italien vorgenommen (Monti anstelle von Berlusconi) mit Technokraten, die
eine rechte Ideologie propagieren, um vorbei am Parlament operieren zu
können, indem sie der Politik misstrauen und die Parteien verachten. Stathis
Kuvelakis, "Golpe de Estado europeo frente al levantamiento popular",
18. November 2011,
http://www.vientosur.info/articulosweb/noticia/index.php?x=4570 ; John
Brown, "El capital financiero castiga a sus devotos partidarios",
www.rebelion[http://www.inprekorr.de/www.rebelion.org] 23. November 2011.
[31]  Stiglitz Joseph, "Europa no aprendió la lección de Argentina" /Página
12/, 10. Dezember 2011.
[32] Mein Standpunkt: Claudio Katz, "Les leçons d'Argentine pour la Grèce",
9. September 2011, http://www.cadtm.org/Les-lecons-de-l-Argentine-pour-la
[33] Der Standpunkt von Rogoff Kenneth, "El capitalismo está lejos de
encontrar su sucesor", /La Nación/, 11. Dezember 2011.
[34] Li Minqi, "El ascenso de la clase obrera y el futuro de la revolución
en China", www.rebelión[http://www.inprekorr.de/www.rebelion.org], 14. Juli
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www.outroladodanoticia.com.br, 22. Juli 2011.
[35] Vicens Navarro, "Habermas y la sabiduría",
www.sinpermiso[http://www.inprekorr.de/www.sinpermiso.info], 13. Juni 2010.



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