[IPK] Die Krise des Kapitalismus. Eine Momentaufnahme der Weltlage

Inprekorr-Webmaster webmaster at inprekorr.de
So Mai 20 21:13:30 CEST 2012


Die Krise des Kapitalismus. Eine Momentaufnahme der Weltlage
-------------------------------------------------------------------

"Eine langanhaltende und allgemeine Krise führt oft zu einer Klärung auf der
Weltkarte." (Fernand Braudel)


Von François Sabado


1) Die Krise dauert bereits über vier Jahre und ist noch nicht zu Ende. Sie
hat die ganze Welt erfasst. Sie ist wirtschaftlich, finanziell, sozial,
ökologisch. Ihre Besonderheit liegt aber darin, dass die Welt gleichzeitig
am Kippen ist.

2) Zuerst muss dieses Kippen eingeschätzt werden. Es geht dabei nicht um
eine vorübergehende Veränderung oder Verlagerung, nach der man nach der
Krise wieder zur Normalität zurückkehrt ... Um das Ausmaß der Veränderung zu
erkennen, kann man sie mit der Zeit zwischen 1760 und 1780 vergleichen, als
sich das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft von den Niederlanden nach
England verlagerte oder mit der Zwischenkriegszeit, als es sich von England
in die USA verlagerte. Doch geht es heute nicht mehr bloß um eine
kontinentale Veränderung , sondern in wirtschaftlicher, sozialer,
politischer und kultureller Hinsicht um eine weltumspannende Veränderung, in
der der Westen -- Europa und die USA --, der die Welt seit der Entdeckung
Amerikas beherrscht hat, seine Hegemonie an neu aufstrebende Mächte oder
alte Mächte verliert, die nach vier oder fünf Jahrhunderten zu alter Macht
zurückfinden. 

3) In diesen neuen weltweiten Beziehungen befindet sich Europa im Niedergang
und die USA verlieren zwar ihre wirtschaftliche, aber noch nicht ihre
politisch-militärische Vormachtstellung. Viel hängt davon ab, wie sich die
Krise in den USA entwickelt. Doch der Anteil der G7-Länder am weltweiten
Bruttoinlandprodukt (BIP), der zu Beginn der 1980er Jahre noch bei 56 % lag,
lag 2010 nur noch bei ca. 40 %. Laut Wirtschaftsprognosen werden sich die
Kurven der ehemaligen G7-Länder und der BRICS-Länder [1] zwischen 2030 und
2040 kreuzen, selbst was das Durchschnittseinkommen pro EinwohnerIn
betrifft. Das Wirtschaftswachstum der letzten zehn bis fünfzehn Jahre -- 8
bis 12 % in China und Indien, doch bloß 1--2 % in Europa oder 2--3 % in den
USA -- oder die weltweiten Reserven kündigen ebenfalls tiefgreifende
Veränderungen an.

4) Diese Entwicklung scheint sich mit der zunehmenden Krise in den USA und
Europa noch zu bestätigen. In den USA kann die weitere Verschuldung das
Sinken der Löhne nicht mehr wettmachen. Abnahme des Konsums und
Überproduktion verstärken sich gegenseitig. Die Tendenz zur Überproduktion
in einer Reihe von Sektoren zeichnet sich immer deutlicher ab und dies nicht
nur bei den Immobilien, sondern auch im gesamten Industriesektor. Die
Arbeitslosigkeit unterliegt nicht mehr nur konjunkturellen Schwankungen,
sondern bleibt stabil. Barack Obamas Investitionspläne vermochten die
Maschine nicht in Gang zu setzen. Trotz entsprechender Verlautbarungen kam
es zu keiner keynesianischen Wende, weil es keine genügend starke
Arbeiterbewegung gibt, die den Kapitalisten soziale Kompromisse hätte
abringen können. Und vor allem darf nicht vergessen werden, dass es der
Zweite Weltkrieg war, der den USA und Europa nach der Krise von 1929--1935
den Wiederaufschwung brachte und nicht die keynesianischen Rezepte. Trotz
aller Reden über die moralische Verantwortung des Kapitalismus ist die
Finanzwirtschaft weiterhin die kapitalistische Antwort auf den Fall der
Profitrate in der Industrie. Als Folge davon geht die Entwicklung weg von
der Industrie weiter. Die US-Wirtschaft hält heute durch dank der Stärke des
Dollars, dank des Umstands, dass die Bundesbank immer noch flüssige Mittel
zur Verfügung stellt und weil die amerikanische Währung beim Kauf von
Staatsanleihen und Obligationen durch chinesische, japanische und
Golfstaaten-Fonds weiterhin die Referenzwährung darstellt. Die USA verfügen
immer noch über die politisch-militärische Vorherrschaft, die aber im
Vergleich zu den ersten Jahren dieses Jahrhunderts an Kraft verloren hat:
Niederlagen im Irak und in Afghanistan, geringere Interventionskraft in den
arabischen Revolutionen. Ihr Ziel ist es nun, sich auf eine verstärkte
Präsenz als Friedensmacht vorzubereiten!

5) In Europa hingegen kann die Krise Formen des Zerfalls annehmen. Der Grund
dafür ist die schwache Stellung in der weltweiten Konkurrenz. Deutschland
bleibt eines der wichtigsten Exportländer -- 2010: 47 %, Japan 15 %, China
30 % des BIP [2] -- aber auch dieses Land ist vom Rückgang des Weltmarkts
betroffen. Auch um ihre Stellung gegenüber der weltweiten Konkurrenz zu
stärken, wollen die herrschenden Klassen Europas alles liquidieren, was vom
"europäischen Sozialmodell" noch übrigbleibt. Es gibt noch zu viel Soziales,
es muss ausgemerzt werden. Dies ist der Grund für die Offensive der
Spekulation auf den Märkten Europas. Die "Märkte" -- dabei geht es um
materielle Realitäten wie die der Banker, der Vorstände von Pensionskassen,
der Direktionen internationaler Konzerne -- fordern mit Lohnsenkungen, mit
der Liquidation der Sozialversicherungen und mit längeren Arbeitszeiten eine
Erhöhung der Mehrwertrate. Deshalb die brutalen Sparpolitiken -- es wird die
Anpassung der Arbeitskraft an den Weltmarkt angestrebt, der sich aus den
sozialen Beziehungen in den aufstrebenden Wirtschaftsmächten ergeben hat.
Dafür muss in den kommenden Jahren die Kaufkraft um 10 bis 15 Punkte sinken.

Hinzu kommt die Art des politischen Konstrukts Europa, das der Krise ihren
explosiven Charakter verleiht, der zum Zerfall führen kann. Ein Konstrukt
mit unterschiedlichen Volkswirtschaften oder unterschiedlichen Werdegängen,
was zu unterschiedlichen Gruppierungen in der EU geführt hat: 1.
Deutschland, die Niederlande, Österreich, Nordeuropa, 2. die Peripherie in
Südeuropa -- mit Irland die PIGS -- und 3. Frankreich in der Mitte. Die
französisch-deutschen Beziehungen sind der Ausdruck der wirtschaftlichen,
politischen und institutionellen Lage in Europa. Doch dieses Europa ist ohne
Staat, ohne Führung, ohne Entwicklungsplan und ohne Plan, wie die Krise
überwunden werden kann. Die heutige Lage zeigt einmal mehr, dass die
europäischen Bourgeoisien historisch nicht in der Lage sind, Europa zu
vereinen. Ein Auseinanderbrechen der EU ist möglich und schon denkt man an
die alte Idee Balladurs, an ein Europa aus konzentrischen Kreisen:
Deutschland und die reichsten Länder einerseits und der Süden und einige
Länder Osteuropas oder Südosteuropas anderseits. Frankreich und Italien sind
das Problem, denn wenn Italien absackt, sackt ganz Europa ab. Sie wollen
diese Länder an Deutschland anbinden, aber das setzt extrem brutale
Sparpläne voraus ... Dies wird die Krise weiter verstärken und das Wachstum
auf ein Prozent begrenzen. Diese Situation wird eine Zeitlang andauern, doch
mit der ständigen Gefahr sozialer Explosionen und vorrevolutionärer
Situationen wie in Griechenland. Dies umso mehr, als der undemokratische
Charakter der EU auf politischer Ebene von der Entstehung autoritärer
Tendenzen begleitet wird, die mit den Interventionen der Finanzmärkte
organisch verbunden sind. Die Italien und Griechenland von der EU
aufgezwungenen Regierungschefs legen davon Zeugnis ab. Das Erstarken der
Rechten und der extremen Rechten zeigt, dass die Entwicklung Richtung
autoritäre Lösungen geht. Bündnisse der Parteien der parlamentarischen
Rechten oder von Teilen davon mit der extremen Rechten können nicht mehr
ausgeschlossen werden. Mehr denn je ist Markt nicht gleich Demokratie, ganz
im Gegenteil. 

Hier komme ich nun bereits zur Frage, welche Politik gegenüber der EU
einzuschlagen ist.

Gegenüber der EU muss eine Politik des Bruchs, der Gehorsamsverweigerung
gegenüber den Verträgen verfolgt werden statt einer Politik, die eine
Reformierung der EU anstrebt. Wir müssen die Frage beantworten, was dieser
Europa-Krise entgegengesetzt werden soll: die Abkehr von der Globalisierung,
nationaler oder europäischer Protektionismus, der Austritt aus dem Euro oder
der Bruch oder eine neue internationalistische, soziale und demokratische
Politik im Dienst der Lohnabhängigen. Das würde bedeuten, erneut die
Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als Ziel zu formulieren. 

Damit wäre das Problem aber noch nicht gelöst. Zum Beispiel Griechenland:
Die Explosion Griechenlands und die brutalen Angriffe der EU führen dazu,
dass dieses periphere Land wie eine neue Kolonie behandelt wird. Die
fehlende europäische Solidarität mit den Griechinnen und Griechen sowie die
historisch nationalistischen Traditionen der griechischen Linken haben zur
Folge, dass die griechische Linke -- Syrisa und Antarsya-- als Teil eines
antikapitalistischen Programms den Austritt aus der Euro-Zone fordert.

6) Kann China in dieser eng verflochtenen Weltwirtschaft diese retten? Kann
China sich losgelöst von der Weltwirtschaft entwickeln? Laut Prognosen
erreicht das Bruttoinlandprodukt zwischen 2020 und 2030 jenes der USA. Das
ist beträchtlich. Als zweitstärkste Wirtschaft der Welt vor Japan ist sie
2010 zur ersten Industriemacht der Welt vor den USA aufgestiegen (China:
19,8 % der Industrieproduktion weltweit; USA: 19,4 %). [3]

Beim Bruttoinlandprodukt pro EinwohnerIn muss in China zwischen einzelnen
Zonen unterschieden werden. 

I. Die Küstenregionen: BIP: 5000 -- 10 000 $ pro EinwohnerIn (Zum Vergleich:
in Brasilien liegt das BIP bei 10 000 $ pro Einw.)

II. Peking und Schanghai: 10 000 $

III. Das Zentrum: unter 5000 $

Das gesamte BIP Chinas beläuft sich auf 6000 Mrd. Dollar. China ist
militärisch, beim Kapitalexport, beim ungleichen Tausch mit den Ländern
Afrikas und Lateinamerikas und insbesondere beim Erwerb von einigen
Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbaren Landes dabei, eine
imperialistische Macht zu werden. Doch ist sie zu schwach, um mit einer
Massenproduktion und einem Massenkonsum in einem bestimmten Industriebereich
die amerikanische oder die Weltwirtschaft anzukurbeln. In der chinesischen
Wirtschaft besteht ein Ungleichgewicht zwischen einer sehr niedrigen
Konsumrate (35 % des BIP), während diese in den USA bei 70 %, in Indien bei
60 % und der weltweite Durchschnitt bei 60 % liegt, und einer
Investitionsrate von 45 %, während diese in den USA lediglich 15 % und der
weltweite Durchschnitt 22 % beträgt. 

De facto ist China weiterhin stark vom Weltmarkt und vom Export abhängig.
Das Land legt die Priorität auf den Aufbau seines Binnenmarktes, wozu
Lohnerhöhungen nötig sind, sowie auf minimale soziale Sicherheit. Deshalb
kommt es vermehrt zu Kämpfen für Lohnerhöhungen und für besseres Wohnen.

Was die Abkoppelung betrifft, gilt es auch hier, vorsichtig zu sein wegen
der gegenseitigen Abhängigkeit der einzelnen Volkswirtschaften im Rahmen der
Globalisierung. Aber auch hier kann die Krise im Westen dazu führen, dass
sich die Wachstumsrate um 1--3 % verlangsamt oder sinkt, was jedoch die
Hauptrichtung der Entwicklung nicht in Frage stellt. 

Zwei Schlussfolgerungen:

* Die chinesische Wirtschaft kann noch kein Ersatz für Europa und die USA
sein. Sie ist noch zu sehr im Ungleichgewicht.

* Doch das Wachstum liegt immer noch bei 10 Punkten, sodass der
Entwicklungsabstand zu den anderen Kontinenten weiterhin zunehmen wird.


7) In dieser Krise wird die Weltkarte neu gezeichnet, die Konkurrenz tobt
weiter. Die Krise in Europa lässt sich ohne dieses Kippen der Welt nicht
erklären. Sie wollen den europäischen Arbeitsmarkt dem Weltmarkt anpassen.
Weltweit entstehen neue Beziehungen. Von den Beziehungen zwischen China und
den USA haben wir bereits gesprochen. Lateinamerika ist heute geprägt von
der Macht Brasiliens und an zweiter Stelle von derjenigen Argentiniens. In
der Wiederverwendung des Begriffs Unterimperialismus kommt dieser rapide
Aufstieg Brasiliens zum Ausdruck. Dieses Land ist heute mit seinen großen
internationalen Konzernen wie Petrobras und Gerdau, mit seinen riesigen
Wasserwerken und seiner Finanzmacht die Hauptstütze der lateinamerikanischen
Wirtschaft. In den engen aber konfliktreichen Beziehungen zu den USA konnte
Brasilien einige Male punkten. Von den drei Arten von Regimen -- die
reaktionäre Rechte mit Kolumbien und Mexiko, der antiimperialistische
nationalistische Weg mit Venezuela, Ecuador und Bolivien und das andere
Amerika von Lula (heute Dilma Rousseff) und Kirchner -- dominiert letzteres
haushoch. Vor sieben, acht Jahren war das nicht vorauszusehen.

8) Wie steht es in dieser Situation mit der Arbeiterbewegung, der Linken?
Bis heute und in über vier Krisenjahren gab es keine Antworten, die den
kapitalistischen Angriffen ebenbürtig gewesen wären. 

Doch die Krise provoziert. Es kam zu Reaktionen, Widerstandsaktionen,
Kämpfen, Streiks, selbst zu vorrevolutionären Situationen wie in
Griechenland. Neue Bewegungen sind entstanden wie "die Empörten", doch
zwischen der explosiven Lage und der politischen und organischen Aktion
dieser Bewegungen klafft eine große Lücke: Gewerkschaften, reformistische
Parteien, radikale Linke, revolutionäre Linke oder Linksströmungen in
bestehenden Organisationen sind nicht gewachsen oder stärker geworden, es
sind auch keine neuen Organisationen entstanden. Es gibt neue
Organisationsformen, aber sie sind noch zu unstabil. Seit es kapitalistische
Krisen gibt, hat es noch nie eine so tiefe Krise des kapitalistischen
Systems gegeben und gleichzeitig eine ArbeiterInnenbewegung, die gegenüber
dieser Krise so schwach war, mit Ausnahme jener Jahre, als die
ArbeiterInnenbewegung entweder durch den Faschismus oder Militärdiktaturen
physisch liquidiert wurde. 

Mehrere Faktoren erschweren die Lage der ArbeiterInnenbewegung:

* Die weltweiten liberalen Gegenreformen seit Ende der 70er Jahre des
letzten Jahrhunderts hatten eine Umstrukturierung der Arbeitskraft zur
Folge: deren Individualisierung, Prekarisierung, einen Rückgang der
Kollektivrechte, die Schwächung der Gewerkschaften. Der Rückgang der
Industrialisierung hat Dutzende von ArbeiterInnen-Konzentrationen zerstört.
Neu entstand der sogenannte "informelle" Sektor. ArbeiterInnen und
Angestellte machen über 60 % der aktiven Bevölkerung aus, doch die soziale
Struktur ist nicht überall gleich. In China oder in anderen Ländern Asiens
führt die Industrialisierung zu einer nie dagewesenen Vergrößerung des
Proletariats, aber die unabhängige Organisierung der Lohnabhängigen steckt
noch in ihren Anfängen. Gewerkschaften, Verbände oder Parteien in Europa, in
den USA und in Asien sind auch heute nicht aufeinander abgestimmt. Im Westen
gibt es hier Rückschritte und im Osten nur schwache Anfänge. 

* Die Auswirkungen des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere des
Stalinismus, als Millionen Stalinismus mit Kommunismus gleichsetzten. Das
20. Jahrhundert endete mit der neoliberalen kapitalistischen Globalisierung.
Eine schwere Hypothek, wenn sich ein revolutionär-sozialistisches
Bewusstsein herausbilden soll.

* Die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien hin zu
sozialliberalen [4] Parteien. Sie haben immer noch historische Verbindungen
zur Sozialdemokratie. Da sie bei Regierungsbildungen regelmäßig mit
bürgerlichen Parteien abwechseln, müssen sie sich von diesen unterscheiden,
je nach nationalen Besonderheiten, doch sind sie vollständig in die
Verwaltung der Krise eingebunden. Zwischen einem Hollande, einem Papandreou,
einem Zapatero, einem Socrates und den Führungsmitgliedern der europäischen
Rechten gibt es keinen Unterschied. Vorwahlen und Ähnlichkeiten mit der
US-amerikanischen Demokratischen Partei gehen in die gleiche Richtung.
Parteien, die immer weniger ArbeiterInnen-Parteien sind und immer mehr zu
bürgerlichen Parteien werden.

* Den nachstalinistischen Parteien bleibt nichts anderes, als mit den
sozialdemokratischen Parteien zu gehen oder mit einer sogenannt
"antiliberalen" Politik zu widerstehen, gleichwohl aber die Wirtschaft und
die kapitalistischen Institutionen mitzuverwalten. Da die SPen aber stark
nach rechts gehen, lassen sie Raum für Formationen, die eine Rolle spielen
können, solange sie sich nicht direkt an der Regierung beteiligen müssen.
Siehe dazu die Wahlergebnisse der Izquierda unida (Vereinigten Linken) in
Spanien, morgen die Wahlergebnisse der KKE und von Syriza in Griechenland
oder der KP in Portugal oder der Front de gauche (Linksfront) in Frankreich.

* Diese Schwächung der ArbeiterInnenbewegung durch drei Jahrzehnte
neoliberaler Angriffe und durch die Politik der Führungen der Linken geben
der Bourgeoisie auf der ganzen Welt den Spielraum, um "die Krise damit zu
verwalten", dass die Stellung der Finanzmärkte gestärkt und die Angriffe
gegen die Bevölkerungsmehrheit selbst in den BRICS verstärkt werden, indem
die materielle Lage von Millionen verschlechtertwird. Der Aufstieg
Brasiliens zum Beispiel lässt sich nicht verstehen ohne die qualitative
Wandlung der PT unter Lula zu einer sozialliberalen Partei. Und umgekehrt
lässt sich ohne den Aufstieg Brasiliens nicht erklären, weshalb die PT in
Brasilien an der Macht ist. Für das Kapital gibt es immer einen Ausweg aus
der Krise, solange es von Seiten der Lohnabhängigen keine Lösung gibt. Das
Problem ist, dass die sozialen, ökologischen und menschlichen Kosten immer
schrecklicher werden.


9) Hier möchte ich auf die revolutionären Prozesse in der arabischen Welt
zurückkommen. Zuerst einmal handelt es sich um Revolutionen in dem Sinn,
dass "die Massen auf die soziale und politische Bühne treten", es handelt
sich um demokratische und soziale Revolutionen. Der Prozess ist von dem
Moment an zu einer Grundwelle geworden, als die Bewegungen erste Siege
erringen konnten, die noch wenige Wochen vorher für völlig unmöglich
gehalten worden wären: in unserem Fall der Sturz von Ben Ali und Mubarak.
Der Druck der Massen ist da und wird anhalten. Es gab Fortschritte und
Rückschritte, doch in der ganzen Region gibt es eine Wechselwirkung. Eine
solche Dynamik von "Kettenreaktionen" vermag teilweise die Schwächen in den
einzelnen Ländern wettzumachen. Doch auch hier stimmen revolutionärer
Prozess und seine politische "demokratische und soziale" Umsetzung nicht
überein. Die Schwächen der fortschrittlichen Kräfte und erst recht der
klassenkämpferischen Strömungen sind die Folge von Jahrzehnten der Diktatur,
der Niederlagen des arabischen Nationalismus und der nationalistischen oder
sozialisierenden Linken, der neoliberalen Reformen, der Erstarkung der
islamistischen Bewegungen. Letztere treten als Opposition zu den gestürzten
Regime auf. All dies führt momentan zu Wahlsiegen der Islamisten, was die
imperialistischen Länder mit Wohlwollen betrachten oder unterstützen und bei
denen die Golfstaaten wie Katar aktiv eingreifen. In den islamistischen
Bewegungen gibt es ebenfalls Differenzierungsprozesse. Einige haben die
türkische AKP zum Vorbild. Zwischen diesen bis zu den Salafisten besteht
eine ganze Palette reaktionärer Strömungen. Doch der demokratische und
soziale Druck besteht zweifellos. Er wird in der arabischen Welt weiter
wirken. In Ägypten stimuliert er die Entwicklung von Arbeitskämpfen, die
Entstehung neuer unabhängiger Gewerkschaften oder ein Erstarken der Linken.
Dank dieses Drucks können mit dem reaktionären Charakter der religiösen
Parteien konkrete Erfahrungen gemacht werden. Doch all dies bringt zum
heutigen Zeitpunkt viel weniger auf die Waage des Kräfteverhältnisses als
die islamistischen Bewegungen.

10) Doch sind diese "fehlenden Übereinstimmungen" oder "zeitlichen
Verschiebungen" zwischen dem sozialen Widerstand und den schwachen Kräften
der radikalen Linken nicht ein Kennzeichen der neuen Periode, die wir
erleben? Müssen wir die Probleme als ein Kippen der Welt in eine neue
historische Phase verstehen nach mehreren Jahrhunderten der Herrschaft durch
Europa und die USA? Wenn es strukturelle Veränderungen des Kapitals auf
Weltebene gibt, einen neuen Platz für die Nationalstaaten in der
Globalisierung, eine strukturelle Krise der parlamentarischen Demokratie,
eine Tendenz zur Integration der Gewerkschaften (Trotzki sprach bereits 1940
von dieser Tendenz), eine Entwicklung hin zu autoritären Regimen? Kann all
dies ohne Folgen für die Realität der ArbeiterInnenbewegung, für den Platz
der Parteien bleiben? Geht für die europäische ArbeiterInnenbewegung, wie
sie am Ende des 19. Jh. entstanden ist und während des ganzen 20. Jh.
bestanden hat, nicht ein historischer Zyklus zu Ende? Zerstören die
Globalisierung und die Krise des Nationalstaates nicht das Fundament der
Parteien und Gewerkschaften, wie sie sich in diesen zwei Jahrhunderten
herausgebildet haben?

Wir leben immer noch und mehr denn je in einer Zeit des Kapitals, das den
Kampf der Klassen, deren Widerstand, deren Organisationen am Leben erhält.
Am wahrscheinlichsten ist es jedoch, dass neue Organisationen entstehen
werden, die selbstverständlich Verbindungen zur Vergangenheit haben, doch
grundsätzlich neu sind und vor allem aus neuen Generationen bestehen werden.


Die Revolutionäre und insbesondere die TrotzkistInnen haben aber auch eine
historische Verantwortung. Wir haben eine Linie des Widerstandes, der
Einheitsfront gegen die Krise oder die Sparpolitik und Bezüge zum
revolutionären Programm bewahrt. Aber wir sind hin und her gerissen zwischen
einer Rückkehr zur klassischen revolutionären Linken -- zur radikalen Linken
der 1960er Jahre oder zur Beibehaltung von Bewegungen, die in den 1930er
Jahren entstanden sind -- und dem Druck linksreformistischer Organisationen
oder Strömungen. Wir haben bereits diskutiert, ob wir nicht aus historischen
Gründen aufhören sollten, uns als "Linksopposition zum Stalinismus" zu
sehen. Der Stalinismus ist zusammengebrochen, aber Achtung, es gibt noch
nachstalinistische Parteien, auch wenn sie stark geschwächt sind. Doch es
gelingt uns nicht, Ideen hinter uns zu lassen, die von der Situation der
Linksopposition geprägt sind. Es fällt uns schwer, das ganze Ausmaß einer
umfassenden Neuorganisierung der ArbeiterInnen- und sozialen Bewegung zu
erfassen. Es fällt uns schwer, ein neues und unabhängiges Projekt zu
definieren, mit dem wir gleichzeitig auch Politik machen könnten. Es fällt
uns schwer, ein langfristiges unabhängiges Projekt zu formulieren. Das würde
auch bedeuten, dass wir ein Programm für das 21. Jh. schreiben müssten. Die
IV. Internationale hat ein neues ökosozialistisches Programm zu diskutieren
begonnen. Wir stehen noch am Anfang. Eine solche Diskussion müsste zum
Beispiel zur Forderung nach dem Ausstieg aus der Atomtechnologie führen. Was
bedeutet dies für die Neuformulierung eines Übergangsprogramms? Müssen wir
erneut die Frage der Demokratie diskutieren, die Beziehungen zwischen
direkter und repräsentativer Demokratie, zwischen der Demokratie in den
Fabriken und der Demokratie in den Gemeinden und über die strategischen
Achsen einer Machteroberung durch die ArbeiterInnen? Kurz, die groben Züge
eines Befreiungsprojekts, in dessen Zentrum die Selbstaktivität der
ArbeiterInnen steht? Der programmatische Zusammenhalt, den wir im letzten
Jahrhundert besaßen oder von dem wir glaubten, ihn zu besitzen, und der die
Stärke der Trotzkisten war, jede Strömung auf ihre Art, wird den
Herausforderungen des 21. Jh. nicht gerecht. Wir haben programmatisch,
politisch und strategisch an Substanz verloren. Alles Elemente, die für den
Aufbau einer politischen Formation fundamental sind, die heute den
RevolutionärInnen wegen der Beschleunigung der Geschichte Mühe bereiten. 

Mehr Fragen als Antworten.



François Sabado ist Mitglied des Exekutivbüros der 4. Internationale und
Mitglied der NPA (Nouveau parti anticapitaliste) in Frankreich.
Übersetzung: Ursi Urech



-------------------------------------------------------------------
Aus:   Inprekorr Nr. 2/2012    (Internationale Pressekorrespondenz)
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
Bestellungen:          Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34, 25761 Büsum
E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de
Doppelheft:  4 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR
Jahresabo:            20 EUR (Inland), 12 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%
Artikel im CL-Datennetz:                        cl.medien.inprekorr
Artikel im Internet:                        http://www.inprekorr.de
-------------------------------------------------------------------

-----
[1] Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika
[2] http://data.worldbank.org/indicator/NE.EXP.GNFS.ZS
[3]
http://lexpansion.lexpress.fr/economie/la-chine-devient-la-premiere-puissanc
e-manufacturiere-du-monde_250549.html
[4] Im Sinne von neoliberal gewordenen sozialdemokratischen Parteien --
d. Red.



Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l