[IPK] Die Machtprobe in Griechenland und die Dringlichkeit einer linken Strategiedebatte
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Mo Jul 20 09:23:40 CEST 2015
Die Machtprobe in Griechenland und
die Dringlichkeit einer linken Strategiedebatte
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Die temporäre "Lösung" der Krise in Griechenland (die in Wahrheit eine
Krise der EU ist) wurde erreicht über eine beispiellose Verschärfung der
Ausbeutung der Lohnabhängigen, eine weitere Ausplünderung ihres Landes
und die Entmachtung ihrer Institutionen. Dies ist eine bedeutende Zäsur.
Dass diese "Lösung" durch die Führung von Syriza um Tsipras hingenommen
wurde, obwohl nur eine Woche zuvor das von eben dieser Regierung
veranlasste Referendum ein massives Votum gegen die Sparpolitik erbracht
hat, macht die gesamte Linke betroffen, die für eine Alternative zur
neoliberalen Sparpolitik kämpft.
Durch die sich überschlagenden Ereignisse wird diese Linke
einschließlich der griechischen, wo der linke Flügel von Syriza nicht
eingeknickt ist, vor eine entscheidende Strategiedebatte gestellt,
nämlich die, wie soziale und politische Kämpfe -- sowohl auf nationaler
als auch auf EU-Ebene -- miteinander verknüpft werden können, welche
Position gegenüber dem Euro und der EU bezogen werden soll und welche
politische und institutionelle Orientierung eingeschlagen werden soll.
Zu dieser für die Zukunft der Linken lebenswichtigen Debatte stellt die
LCR-SAP [Belgien] die folgenden Thesen zur Debatte.
Von Ligue Communiste Révolutionnaire / Socialistische Arbeiderspartij
(Belgien)
(1.) Das griechische Szenario, das mit dem Wahlsieg einer Partei
beginnt, die als Alternative zur sozialdemokratischen Sparpolitik
angetreten ist, und das nur sechs Monate später in einen noch härteren
Sparkurs einmündet, offenbart für die Linke und die Arbeiterbewegung,
welch enormes Hindernis nicht nur der Euro, sondern auch die EU
darstellt. Diese steht mitnichten für Frieden, Fortschritt und
Demokratie, sondern für ein despotisches Gebilde aus Institutionen und
Regeln, die vollständig dem Nutzen und Frommen der Industrie- und
Finanzkonzerne unterworfen sind. Deren Ziel ist es, mit den sozialen und
demokratischen Errungenschaften ein für alle Mal aufzuräumen, um besser
für die Konkurrenz auf dem kapitalistischen Weltmarkt gewappnet zu sein.
(2.) Wenn dieses dritte Memorandum durchkommt, dann ist diese
Niederlage für die Ausgebeuteten und Unterdrückten in Griechenland in
erster Linie auf die Feigheit der traditionellen Führungen der
Arbeiterbewegung und der politischen und gewerkschaftlichen Linken in
Europa und auf deren Tatenlosigkeit oder gar Komplizenschaft mit der
Troika zurückzuführen. Dies ist das Ergebnis jahrzehntelanger
Kollaboration der Sozial- und Christdemokraten und des Europäischen
Gewerkschaftsbundes (EGB) beim "Aufbau Europas". Zugleich aber
resultiert diese Niederlage auch aus der politischen Strategie der
Syriza-Führung, die auf der fatalen Illusion beruhte, einen Kompromiss
im Rahmen der EU und des Euro herbeiführen zu können. Und diese Illusion
hat Tsipras letztlich veranlasst, den Willen des griechischen Volkes,
wie er im Referendum klar zum Ausdruck gebracht worden war, auf dem
Altar des "Respekts" vor diesen Institutionen und des
"Verantwortungsbewusstseins" für deren "Stabilität" zu opfern.
(3.) Dass die neuerlichen Sparauflagen für das griechische Volk so hart
ausfallen, spiegelt die Angst der herrschenden Klassen in Europa wider,
die durch den Sieg von Syriza und den Zerfall der griechischen
Sozialdemokratie und damit den Wegfall der sozialintegrativen Variante
bürgerlicher Herrschaft ausgelöst worden war. Angst auch vor einer
möglichen Ansteckung in Europa, namentlich über Podemos in Spanien.
Angst aber v. a. angesichts der großartigen Mobilisierung der Straße,
die im Sieg des NEIN zum Ausdruck kam und in eine unkontrollierbare
Dynamik überzuschwappen drohte.
(4.) Damit ist erwiesen, dass eine soziale, demokratische und
ökologische Politik nicht machbar ist, ohne die EU auszuschalten. Die
Alternative liegt nicht darin, wieder zum Nationalstaat zurückzukehren,
was nur Krieg zwischen den europäischen Mächten bedeuten kann, sondern
einen langfristigen Kampf zu führen, der die EU lahmlegt und dann
zerschlägt, um sie durch etwas völlig Neues zu ersetzen: die Vereinigten
Sozialistischen Staaten von Europa.
(5.) Um zu einem solchen anderen Europa und somit zu einer
Konstituierenden Versammlung der europäischen Völker zu gelangen, bedarf
es einer umgehenden Koordinierung der Kämpfe gegen die Sparpolitik. Dass
dies so schwierig ist, liegt nicht nur an der Politik der traditionellen
(Arbeiter)organisationen, sondern auch an der enorm unterschiedlichen
Situation und Entwicklung in den einzelnen Ländern und der Spaltung
zwischen ihnen. Dies wird von der EU noch geschürt und vertieft, indem
die internationale Arbeitsteilung und die ungleiche Entwicklung in
Europa weiter vorangetrieben werden. Eine linke Regierung in einem Land
muss daher auf die internationalistische Solidarität und die
Mobilisierung von unten setzen, indem sie die Sparpolitik und die
Zwangsvorgaben von oben ablehnt. Und sie muss damit die Voraussetzungen
schaffen, dass sich diese Kämpfe auf andere Länder ausdehnen und sie
gemeinsam wirkmächtig werden können und somit die EU und die Euro-Zone
zunehmend unregierbar machen.
(6.) Der Austritt aus dem Euro ist für sich nicht ausreichend, um mit
der Sparpolitik zu brechen, wie das Beispiel Großbritannien zeigt.
Allerdings ist ein solcher Austritt für das griechische Beispiel und für
die anderen "peripheren" Länder -- die also nicht zum Machtzentrum der
EU gehören -- unabdingbar.
(7.) Dies bedeutet nicht, dass der Austritt aus dem Euro die zentrale
Achse eines Alternativprogramms darstellen soll. Selbst in Griechenland,
wo sich diese Frage unmittelbar aufdrängt, muss im Mittelpunkt eines
solchen Programms stehen, dass jedwede Sparpolitik abgelehnt und eine
soziale, ökologische, antikapitalistische und demokratische Politik
umgesetzt wird, die die Lebensumstände der Lohnabhängigen, Jugend,
Frauen, Bauern und Opfer des Rassismus unmittelbar verbessert.
(8.) Den Austritt aus dem Euro in den Mittelpunkt einer alternativen
Politik zu stellen, hieße, sich unnötig an der weitverbreiteten
Vorstellung abzuarbeiten, wonach die Währung nur ein "neutrales"
technisches Tauschinstrument sei und nicht auch Ausdruck
gesellschaftlicher Verhältnisse. Zudem spielt man damit auch den
Nationalisten und Rechtsextremen in die Hände, die die Illusion
verbreiten, dass im nationalen Rahmen eine harmonische Entwicklung von
Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt möglich sei. Obendrein schwächt dies
die internationalistische Solidarität, die nicht nur für die Kämpfe in
Griechenland entscheidend ist, sondern auch, weil die wirtschaftliche
Integration auf dem Kontinent eine europaweite antikapitalistische
Orientierung erfordert, um die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen und
den ökologischen Erfordernissen zu genügen.
(9.) Unter den gegebenen Umständen, also außerhalb einer
(vor)revolutionären Phase, kann dieses Ziel nur erreicht werden, wenn
die Sparpolitik ohne Wenn und Aber abgelehnt wird und eine kompromisslos
demokratische Politik unter Respektierung der Souveränität des Volkes
betrieben wird. Dazu gehören konkrete Maßnahmen zur Selbstverteidigung
gegen Sabotage der Kapitalisten von innen und außen: Vergesellschaftung
der Banken, Kapitalverkehrskontrolle, Erfassung und Besteuerung der
Vermögen, Einstellung des Schuldendienstes und Annullierung der Schulden
sowie Arbeiterkontrolle in den Unternehmen.
(10.) Der Schlüssel zur Lösung liegt nicht in der Erstellung eines
"Plan B", also einem mehr oder weniger technischen Maßnahmenkatalog, was
naturgemäß einen "Plan A" voraussetzt, nämlich die Beibehaltung des
Euro. Vielmehr geht es um eine soziale Strategie, die auf der Erringung
der ideologischen Hegemonie fußt, indem die Ausgebeuteten und
Unterdrückten auf einer gemeinsamen Grundlage mobilisiert werden, wo
sich die Massen gegen die Logik des Kapitalismus und die sie
verkörpernden europäischen Institutionen erheben.
(11.) Eine solche Strategie muss klar und deutlich machen, dass sie zum
Bruch bereit ist, ohne sich um die institutionelle Krise zu scheren, die
dies in der EU auslösen würde, oder den Glaubwürdigkeitsverlust, den
dadurch der "Aufbau Europas" und die "Stabilität des Euro" erleiden
würden. Nur so kann man aus der Defensive in die Offensive gelangen,
weil dadurch die Ausgebeuteten und Unterdrückten massenhaft mobilisiert
werden können. Die Woche der Mobilisierungen zum NEIN beim Referendum in
Griechenland hat gezeigt, welch gewaltige soziale Energie auf diese Art
freigesetzt werden kann und welche Anziehungskraft davon für die
Lohnabhängigen, Frauen und Jugendlichen in Europa und aller Welt
ausgeht.
(12.) Unser Gegner ist nicht Deutschland, sondern der Kapitalismus und
seine Institutionen, zuvörderst diejenigen in der EU. Die
Einheitswährung Euro wird nicht Europa von Deutschland aus aufgezwungen,
sondern dient dem europäischen Kapital, seine Transaktionskosten zu
reduzieren, die Finanzwirtschaft zu stärken und den multinationalen
Konzernen einen großen Absatzmarkt zu sichern. Der Neoliberalismus ist
kein deutsches Dogma, das aus der lutherischen Ideologie oder der
Nazi-Vergangenheit Deutschlands stammt, sondern die einzig wirklich
existente Form des internationalen Kapitalismus, der in seiner
auswegslosen sozialen und ökologischen Sackgasse gefangen ist. Die
deutsche Vormachtstellung in der EU ist nicht die Herrschaft einer
Nation, sondern des Kapitals, unter dem die deutschen Lohnabhängigen
genauso zu leiden haben. Hüten wir uns also vor demagogischen Floskeln,
die nur vom wirklichen Feind ablenken. Die Alternative lautet nicht eine
"Front der Demokraten" gegen Deutschland, sondern eine Front der
Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen das Kapital und seine
Institutionen. Die belgischen Unternehmer, Banken und Regierung haben,
wie ihre Vorgänger unter sozialdemokratischer Beteiligung, den
Klassenkrieg gegen die einfache Bevölkerung in Griechenland aktiv
unterstützt, weil sie davon profitiert haben.
(13.) Die Strategie, die wir vorschlagen, setzt auf einen Wiederaufbau
der Arbeiterbewegung und der Linken sowohl auf politischer als auch
gewerkschaftlicher Ebene. Beide Dimensionen lassen sich nicht
voneinander trennen. Einerseits ist der Aufbau neuer Parteien links der
Sozialdemokratie und der Grünen angesichts der Massenarbeitslosigkeit,
der Konvergenzkriterien seitens der europäischen Institutionen und der
völligen und unumkehrbaren neoliberalen Degeneration der
Sozialdemokratie dringlicher denn je. Andererseits brauchen wir
angesichts der Härte der uns bevorstehenden Kämpfe eine tiefgreifende
soziale Mobilisierung, also soziale Bewegungen, die demokratisch
organisiert sein müssen und in die die Lohnabhängigen und Jugendlichen
an ihren Arbeits- und Wohnstätten aktiv engagiert sind. In diesem
Zusammenhang ist es von strategischer Bedeutung, dass die Mitglieder
ihre Gewerkschaften wieder unter Kontrolle bekommen, und dass falsche
Vorstellungen bekämpft werden, die "gewerkschaftliche Unabhängigkeit"
mit politischer Neutralität in einen Topf werfen.
(14.) Der Kampf geht weiter, zum Teil in einem anderen Kontext.
Momentan ist der Ausgang noch ungewiss, aber wenn die Troika sich
durchsetzt, dann wird die EU an sich diskreditiert sein und das Zugpferd
Deutschland noch mehr. Zugleich werden damit die griechische Krise und
besonders die Schuldenkrise weder mittel- noch langfristig gelöst sein,
während der Euro unter Beschuss geraten wird. In Griechenland ist eine
politische Neuzusammensetzung der radikalen Linken angesagt, um der im
Parlament angestrebten "nationalen Einheit" der Jasager eine Alternative
entgegenzusetzen. Mehr denn je geht es um aktive Solidarität mit den
Lohnabhängigen und Jugendlichen in Griechenland. Überall muss der Kampf
gegen das Spardiktat und für eine politische Konsequenz dieses Kampfes
wieder aufgenommen und radikalisiert werden, wobei wir die Lehren aus
dem Beispiel Griechenlands ziehen müssen.
(15.) Für uns in Belgien sind die Parallelen offensichtlich. Tsipras
wollte ein Referendum, "um besser verhandeln zu können", und unsere
Gewerkschaftsapparate wollen einen Aktionsplan, "um eine Verständigung
mit den Unternehmern zu erreichen". Möge der Fall Griechenlands uns
zeigen, wohin eine solche "verantwortungsvolle" Strategie führt, wenn
wir unseren Organisationen nicht dazu bewegen, einen anderen Kurs
einzuschlagen.
15. Juli 2015
Aus dem Französischen übersetzt von MiWe
Die LCR-SAP (Revolutionär Kommunistischer Bund/Sozialistische
Arbeiterpartei) ist die belgische Sektion der IV. Internationale.
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