[IPK] Trumps "Stich in den Rücken" der kurdischen Nationalbewegung

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Mi Okt 16 07:18:27 CEST 2019


USA/Kurdistan:

Trumps "Stich in den Rücken" der kurdischen Nationalbewegung

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Trumps Abzug aus Nordsyrien war keine pazifistische Maßnahme -- ganz im
Gegenteil.

 

 

Von Gilbert Achcar

 

 

In einer weiteren eklatanten Vorführung seines unberechenbaren Charakters,
seiner politischen Verantwortungslosigkeit und menschlichen
Rücksichtslosigkeit gab US-Präsident Donald J. Trump in der Nacht zum 6.
Oktober nach einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan
plötzlich bekannt, dass er den Rückzug der in Nordostsyrien stationierten
US-Truppen (fast tausend) angeordnet habe. Diese Truppen waren dort gewesen,
um die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), eine multiethnische Koalition,
die von den kurdischen Kräften der Volksschutzeinheiten (auch bekannt als
YPG) geführt wird, bei ihrem Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat
(IS, auch bekannt als ISIS) zu unterstützen.

 

Die syrischen Kurd*innen und ihre Verbündeten haben diesem Kampf großen
Tribut gezollt, der mehr als zehntausend Opfer gefordert hat. Sie waren
maßgeblich an der Eindämmung und Rückdrängung des IS auf syrischem
Territorium beteiligt. Sie sind zweifellos auch die fortschrittlichste, wenn
nicht die einzige fortschrittliche aller auf syrischem Territorium tätigen
Streitkräfte, insbesondere in Bezug auf den Status und die Rolle der Frauen.
Dennoch wurden sie von der türkischen Regierung aufgrund ihrer engen
Beziehung zur kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Hauptmacht auf türkisch
dominiertem kurdischem Gebiet, durchweg als "Terroristen" eingestuft.

 

Die türkische Regierung, von der bekannt ist, dass sie den Aufbau des IS in
Syrien ignoriert hat (es wird sogar vermutet, dass sie diesen Aufbau
erleichtert hat), betrachtet die kurdische Nationalbewegung als die größte
Bedrohung. Sie ist 2016 in einen Teil Nordsyriens (Afrin) eingedrungen, um
die YPG-Kontrolle über dieses Gebiet zu beenden, und besetzt es immer noch.
Seitdem droht sie auch, in Nordostsyrien (Westkurdistan, alias Rojava)
einzudringen, was nur durch die Anwesenheit von US-Truppen an Seiten der SDF
verhindert wurde.

 

 

NICHT DAS ERSTE MAL

 

Das Telefongespräch zwischen dem amerikanischen und dem türkischen
Präsidenten am 6. Oktober ist nicht das erste, bei dem Erdogan Trump
aufforderte, die US-Truppen abzuziehen und damit den Einmarsch türkischer
Truppen in das übrige syrisch-kurdische Territorium zu ermöglichen, und auch
Trumps Ankündigung, dem nachzukommen, ist nicht die erste. Das letzte Mal
war vor einem Jahr und führte zum dramatischen Rücktritt des damaligen
Verteidigungsministers Jim Mattis: Das spiegelte die Abneigung des
US-Militärs, etwas auszuführen, was ganz offensichtlich einem "Stich in den
Rücken" der Verbündeten gleichkommt (so die Worte des SDF-Sprechers), und
die berechtigte Befürchtung des Pentagons wider, dass ein türkischer Einfall
den IS wiederbeleben und ein Chaos schaffen könnte, das der Iran ausnutzen
könnte, um seine Kontrolle über das riesige Territorium zu vervollständigen,
das sich von seinem Territorium über den Irak bis zu den Küsten Syri-ens und
des Libanon erstreckt.

 

Trump, der selbst von seinen Republikaner*innen angegriffen wurde, machte
Ende letzten Jahres einen Rückzieher. Diesmal jedoch hielt er sein
Versprechen gegenüber Erdogan und antwortete seinen Kritiker*innen, die ihn
beschuldigten, wertvolle Verbündete im Kampf gegen den IS zu verraten, indem
er versicherte, er werde in seiner sich selbst zugeschriebenen "großen und
unerreichten Weisheit" die türkische Wirtschaft, "auslöschen", wenn die
türkischen Streitkräfte bei ihrer Invasion in Nordostsyrien einige vage,
undefinierte Grenzen überschreiten würden.

 

Man sollte sich über Donald Trumps Motivation nicht täuschen. Der
US-Präsident ist kein Pazifist und nicht gegen militärische Abenteuer seines
Landes im Ausland. Er ist ein überzeugter Anhänger des Mordkrieges im Jemen,
der von der Koalition unter Leitung seines Mörderfreunds, des saudischen
Kronprinzen, geführt wird. Und er erklärte seine große Bewunderung für die
US-Militärbasis im Irak, die er im vergangenen Dezember besuchte, und
erklärte, wie wichtig sie für die USA sei.

 

 

KRIEG MUSS SICH LOHNEN

 

Aus der Sicht eines Mannes, der während seiner vorherigen
Präsidentschaftskampagne erklärt hatte, die USA sollten die Kontrolle über
die irakischen Ölfelder übernehmen und sie zu ihrem Vorteil ausbeuten, ist
die Begründung klar genug: Trump glaubt, dass das US-Militär nur in Gebieten
eingesetzt werden sollte, in denen es ein offensichtliches wirtschaftliches
Interesse für sein Land (und für seine eigenen Interessen, könnte man
hinzufügen, wenn man sich erinnert, dass seine Präsidentschaft in der
Vermischung von privatem Geschäft mit öffentlichen Angelegenheiten am
weitesten in der Geschichte der USA gegangen ist). Der Irak, das saudische
Königreich und andere Ölmonarchien am Golf sind nach Ansicht von Trump im
Gegensatz zu armen Ländern wie Afghanistan und Syrien perfekte Orte für den
militärischen Einsatz der USA.

 

Aus einer wirklich antiimperialistischen Perspektive, die vom
Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgeht, sollten alle imperialistischen
und räuberischen Truppen aus Syrien abgezogen werden, unabhängig davon, ob
es israelische Truppen sind, die seit 1967 den syrischen Golan besetzen,
oder die in jüngerer Zeit eingerückten Kräfte des Iran und seiner regionalen
Vertreter, Russlands, der USA und der Türkei, um nur die Hauptakteure zu
nennen. Ein einseitiger Rückzug der USA, gepaart mit einer Aufforderung an
die Türkei einzugreifen und ihr freie Hand zu lassen, die kurdische
Nationalbewegung zu zerschlagen, hat nichts Fortschrittliches oder
Pazifistisches an sich: Das ist das genaue Gegenteil.

 

Die beiden progressiven Spitzenreiter*innen bei den
US-Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr haben richtig verstanden, worum
es geht, und am 7. Oktober in ähnlicher Weise auf Donald Trumps Ankündigung
reagiert.

 

Senator Bernie Sanders twitterte: "Ich habe lange geglaubt, dass die USA
unsere Militäreinsätze im Nahen Osten verantwortungsvoll beenden müssen.
Aber Trumps abrupte Ankündigung, sich aus Nordsyrien zurückzuziehen und dem
Einfall der Türkei zuzustimmen, ist äußerst verantwortungslos. Dies wird
wahrscheinlich zu mehr Leiden und Instabilität führen."

 

Senatorin Elizabeth Warren twitterte: "Ich unterstütze es, unsere Truppen
aus Syrien nach Hause zu bringen. Aber der rücksichtslose und ungeplante
Rückzug von Präsident Trump untergräbt sowohl unsere Sicherheit als auch die
unserer Partner. Wir brauchen eine Strategie, um diesen Konflikt zu beenden,
und keinen Präsidenten, der durch einen einzigen Anruf beeinflusst werden
kann."

 

Die mörderische türkische Invasion in Nordostsyrien muss gestoppt werden.
Die NATO-Verbündeten der türkischen Regierung teilen die Verantwortung für
diesen Angriff. Sie müssen ihre militärische Unterstützung für Ankara
einstellen, gegen die türkische Regierung Wirtschaftssanktionen verhängen,
bis sie ihre Truppen aus Syrien abgezogen hat, und der kurdischen Bewegung
die Waffen zur Verfügung stellen, die sie zur Bekämpfung der türkischen
Invasion auf ihrem Territorium benötigt.

 

 

10. Oktober 2019 

 

 

Dieser Artikel ist zuerst auf der
Website[https://www.kingstonlabour.com/2019/10/10/trumps-stab-in-the-back-to
-the-kurdish-national-movement/] der Labour Party von Kingston and Surbiton
veröffentlicht worden.

 

 

Übers.: Björn Mertens

 

 

Gilbert Achcar ist im Libanon aufgewachsen und unterrichtet
Entwicklungsforschung und internationale Beziehungen an der School of
Oriental and African Studies (SOAS) in London. Zu seinen Büchern gehören
/The Clash of Barbarisms/ (dt.: Neuer ISP Verlag, 2002), das 2006 in einer
zweiten erweiterten Ausgabe erschien, ein Buch mit Gesprächen mit Noam
Chomsky über den Nahen Osten, /Perilous Power: The Middle East and U.S.
Foreign Policy/ (2. Auflage 2008) und /The Arabs and the Holocaust: The
Arab-Israeli War of Narratives/ (2010, dt.: Edition Nautilus, 2012). Er ist
Mitglied der Labour Party in Kingston.

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 6/2019 

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