[IPK] Sechster IPCC-Bericht: Am Rande des Abgrunds -- und das Szenario, das der Weltklimarat nicht modelliert hat

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Do Aug 12 19:46:29 CEST 2021


Klima:

Am Rande des Abgrunds -- und das Szenario, das der Weltklimarat nicht
modelliert hat

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Online: https://www.inprekorr.de/596-ipcc.htm

 

 

Von Daniel Tanuro

 

 

Der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC), hat
seinen Bericht über die physikalischen Grundlagen als Beitrag zum sechsten
Sachstandsbericht über den Klimawandel vorgelegt, der Anfang 2022 erscheinen
soll. Der Bericht [1] und seine Zusammenfassung [2] sind in dem präzisen
Stil und dem Wortschatz wissenschaftlicher Veröffentlichungen gehalten, die
"objektive" Aussagen machen. Aber noch nie hat ein Bericht von Expert*innen
für die globale Erwärmung einen solchen Eindruck von den Ängsten vermittelt,
die durch die Abwägung der Fakten im Lichte der unumstößlichen Gesetze der
Physik entstehen.

 

 

BEÄNGSTIGENDE AUSSICHTEN ...

 

Die Angst rührt zuerst einmal aus dem Kontext: Die schrecklichen
Überschwemmungen und Brände, die Verwüstung, Tod und Schrecken an sämtlichen
Ecken und Enden des Planeten verbreiten, sind genau das, wovor der IPCC seit
über dreißig Jahren warnt und wogegen die Regierungen nichts oder so gut wie
nichts unternommen haben. Es liegt auch an der enormen Feststellung in dem
Bericht: Die Menschheit wäre selbst dann noch mit schrecklichen Aussichten
konfrontiert, wenn die COP26 im November in Glasgow das radikalste der von
den Klimawissenschaftler*innen untersuchten Szenarien zur Stabilisierung des
Klimas beschließen sollte, d. h. das Szenario, das die schnellste
Reduzierung der CO2-Emissionen gewährleistet und die globalen
Nettoemissionen bis spätestens 2060 aufhebt (und gleichzeitig die Emissionen
anderer Treibhausgase reduziert). Zusammengefasst:

 

* Das in Paris festgelegte Ziel wird überschritten werden. Die globale
durchschnittliche Oberflächentemperatur steigt zwischen 2041 und 2060
wahrscheinlich um 1,6°C (+/-0,4) (im Vergleich zum vorindustriellen
Zeitalter) und sinkt dann zwischen 2081 und 2100 auf 1,4°C (+/-0,4).

 

* Achtung -- es handelt sich nur um Durchschnittswerte: Es ist praktisch
sicher, dass die Temperatur an Land schneller ansteigen wird als auf der
Meeresoberfläche (wahrscheinlich 1,4 bis 1,7-mal schneller). Es ist
ebenfalls so gut wie sicher, dass sich die Arktis weiterhin schneller
erwärmen wird als der globale Durchschnitt (höchstwahrscheinlich mehr als
doppelt so schnell).

 

* In einigen Regionen der mittleren Breiten und in semiariden [3] Gebieten
sowie in der Monsunregion in Südamerika wird der Temperaturanstieg an den
heißesten Tagen am ausgeprägtesten sein (anderthalb bis doppelt so hoch wie
der globale Durchschnitt), während die Arktis an den kältesten Tagen den
höchsten Temperaturanstieg verzeichnen wird (das dreimal so hoch wie der
globale Durchschnitt).

 

* An Land werden Hitzewellen, die bisher alle zehn Jahre einmal auftraten,
künftig viermal in zehn Jahren auftreten, und solche, die bisher nur einmal
in fünfzig Jahren auftraten, werden im gleichen Zeitraum fast neunmal
auftreten.

 

* Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine zusätzliche Erwärmung (im Vergleich
zu den derzeitigen 1,1°C) extreme Niederschlagsereignisse verstärken und
ihre Häufigkeit zunehmen wird (weltweit 7 % mehr Niederschlag bei 1°C
Erwärmung). Die Häufigkeit und Stärke intensiver tropischer Wirbelstürme
(Kategorien 4 bis 5) wird ebenfalls ansteigen. In den meisten Teilen Afrikas
und Asiens, Nordamerikas und Europas wird mit einer Intensivierung und
Häufung von Starkniederschlägen und damit verbundenen Überschwemmungen
gerechnet. Auch landwirtschaftliche und ökologische Dürren werden in einigen
Gebieten auf allen Kontinenten außer Asien im Vergleich zum Zeitraum 1850
bis 1900 schwerer und häufiger auftreten.

 

* Es versteht sich von selbst, dass diese zusätzliche globale Erwärmung (von
0,5°C +/-0,4 im Vergleich zu heute) das Schmelzen des Permafrosts und damit
die Freisetzung von Methan weiter verstärken wird. Diese zusätzliche
Rückkopplung durch die globale Erwärmung ist in den Modellen nicht
vollständig berücksichtigt (die trotz ihrer zunehmenden Komplexität die
Realität weiterhin unterschätzen).

 

* Die Erwärmung der Ozeane im verbleibenden Teil des 21. Jahrhunderts wird
wahrscheinlich zwei- bis viermal stärker sein als zwischen 1971 und 2018.
Die Temperaturschichtung, die Versauerung und der Sauerstoffmangel der
Ozeane werden weiter zunehmen. Alle drei Phänomene haben negative Folgen für
das Meeresleben. Es wird Jahrtausende dauern, sie wieder rückgängig zu
machen.

 

* Es ist nahezu sicher, dass die Gletscher in den Gebirgen und in Grönland
noch jahrzehntelang weiter abschmelzen werden, und es ist wahrscheinlich,
dass auch die Antarktis weiter abschmelzen wird.

 

* Es ist auch so gut wie sicher, dass der Meeresspiegel im 21. Jahrhundert
im Vergleich zu dem Zeitraum 1995 bis 2014 um 0,28 bis 0,55 Meter ansteigen
wird. In den nächsten 2000 Jahren wird er wahrscheinlich um 2 bis 3 Meter
weiter ansteigen, und danach wird die Entwicklung weitergehen. Infolgedessen
werden an der Hälfte der Orte, an denen es Ebbe und Flut gibt,
außergewöhnliche Gezeitenereignisse, die in der jüngsten Vergangenheit
einmal pro Jahrhundert beobachtet wurden, mindestens einmal pro Jahr
auftreten, dadurch nimmt die Häufigkeit von Überschwemmungen in niedrig
gelegenen Gebieten zu.

 

* Selbst wenn die Erwärmung innerhalb des zu erwartenden Bereichs des
radikalen Szenarios bleibt (+1,6° +/-0,4°C), könnten bestimmte Ereignisse
global und lokal mit geringer Wahrscheinlichkeit, aber sehr starken
Auswirkungen auftreten. Selbst bei diesem 1,5°C-Szenario sind abrupte
Reaktionen und Kipppunkte -- wie eine verstärkte Schmelze in der Antarktis
und das Absterben von Wäldern -- nicht auszuschließen.

 

* Ein solches wenig wahrscheinliches, aber mögliches Ereignis ist der
Zusammenbruch der Nordatlantikdrift, die auch als AMOC bezeichnet wird
(Atlantic Meridional Overturning Circulation, Nordatlantische
Umwälzbewegung). Eine Abschwächung im 21. Jahrhundert ist sehr
wahrscheinlich, aber das Ausmaß des Phänomens ist ein Rätsel. Ein
Zusammenbruch würde höchstwahrscheinlich zu abrupten Verschiebungen in den
regionalen Wettermustern und im Wasserkreislauf führen, z. B. zu einer
Verlagerung des tropischen Regengürtels nach Süden, einer Abschwächung der
Monsune in Afrika und Asien, einer Verstärkung der Monsune auf der
Südhalbkugel und einer Austrocknung Europas.

 

 

... IM BESTEN FALL?

 

Dieser Bericht zwingt uns, der Realität ins Auge zu sehen: Wir stehen
buchstäblich am Rande des Abgrunds. Dies gilt umso mehr, als -- wir
wiederholen es und betonen es --: 1. die Prognosen für den Anstieg des
Meeresspiegels die Phänomene des Zerfalls der Eiskappen nicht
berücksichtigen, die nicht linear verlaufen und daher nicht modelliert
werden können und die das Potenzial haben, die Katastrophe sehr schnell in
einen katastrophalen Dominoeffekt zu verwandeln; 2. all dies nach Ansicht
des IPCC eintreten wird, wenn die Regierungen der Welt beschließen, das
radikalste Szenario der von den Wissenschaftler*innen untersuchten Szenarien
zur Emissionsreduzierung umzusetzen, nämlich dasjenige, das darauf abzielt,
die 1,5°C nicht (zu weit) zu überschreiten.

 

Die Auswirkungen der anderen Szenarien im Einzelnen darzustellen, würde
diesen Text unnötig in die Länge ziehen. Nur ein Hinweis zum Meeresspiegel:
Beim Szenario des "business as usual" ist ein Anstieg von 2 Metern im Jahr
2100 und 5 Metern im Jahr 2150 "nicht ausgeschlossen". Und langfristig, über
zweitausend Jahre, würden die Meere bei einer Erwärmung von 5°C unweigerlich
und (auf der menschlichen Zeitskala) unumkehrbar um ... 19 bis 22 Meter
steigen!

 

Es sei wiederholt: Die Umsetzung des radikalsten Szenarios, das ihnen
vorgeschlagen wird, ist nicht das, was die Regierungen betreiben. Ihre
Klimapläne (die "Nationally Determined Contributions", NDCs, die national
festgelegten Beiträge") führen uns derzeit in Richtung einer Erwärmung von
3,5°C. Weniger als hundert Tage vor der COP26 haben nur wenige Länder ihre
Zielvorgaben erhöht, aber nicht annähernd auf das erforderliche Niveau der
Emissionsreduzierung. Die EU zum Beispiel, der "Klima-Champion", hat sich
das Ziel gesetzt, die Emissionen bis 2030 um 55 % zu reduzieren, obwohl 65 %
erforderlich sind.

 

 

EINE EINFACHE FRAGE DER MATHEMATIK UND DIE POLITISCHE SCHLUSSFOLGERUNG

 

Greta Thunberg hat einmal gesagt: "Die Klima- und Umweltkrise kann mit dem
derzeitigen politischen und wirtschaftlichen System einfach nicht gelöst
werden. Das ist keine Meinung, sondern einfach eine Frage der Mathematik."
Damit hat sie absolut Recht. Man muss nur die Zahlen aneinanderreihen, um
das zu erkennen:

 

1) Die Welt stößt jährlich etwa 40 Gigatonnen (Gt) CO2 aus;

 

2) das "Carbon Budget" (oder Kohlenstoffbudget oder Emissionsbudget -- die
Gesamtmenge an CO2, die weltweit noch emittiert werden kann, ohne dass 1,5°C
überschritten werden) beträgt nur 500 Gt (bei einer
Erfolgswahrscheinlichkeit von 50 % -- bei 83 % sind es 300 Gt);

 

3) laut dem 1,5°C-Sonderbericht des IPCC erfordert das Erreichen von Netto-
Null-Emissionen von CO2 im Jahr 2050 eine Verringerung der weltweiten
Emissionen um 59 % vor 2030 (angesichts ihrer historischen Verantwortung in
den entwickelten kapitalistischen Ländern 65 %);

 

4) 80 % dieser Emissionen sind auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe
zurückzuführen, die trotz des politischen und medialen Hypes um den
Durchbruch der erneuerbaren Energien im Jahr 2019 immer noch für... 84 % (!)
des Energiebedarfs der Menschheit decken;

 

5) bei den fossilen Infrastrukturen (Bergwerke, Pipelines, Raffinerien,
Gasterminals, Kraftwerke usw.), deren Bau sich nicht oder kaum verlangsamt,
handelt es sich um Großanlagen, in die etwa 40 Jahre lang Kapital investiert
wird; ihr ultrazentralisiertes Netz kann nicht an die erneuerbaren Energien
angepasst werden (diese erfordern ein anderes, dezentrales Energiesystem):
Es muss zerstört werden, bevor die Kapitalisten ihre Investitionen
zurückgewinnen können, und die Kohle-, Erdöl- und Erdgasreserven müssen in
der Erde bleiben.

 

 

Wenn man also weiß, dass drei Milliarden Menschen das Nötigste fehlt und
dass die reichsten 10 % der Bevölkerung mehr als 50 % des weltweiten
CO2-Ausstoßes verursachen, ist die Schlussfolgerung unausweichlich: Die
Änderung des Energiesystems, um unter 1,5 °C zu bleiben und gleichzeitig
mehr Energie für die Befriedigung der legitimen Rechte der Armen
aufzuwenden, ist mit der Fortsetzung der kapitalistischen Akkumulation, die
ökologische Zerstörung und wachsende soziale Ungleichheiten hervorbringt,
absolut unvereinbar.

 

Die Katastrophe kann nur durch eine doppelte Bewegung aufgehalten werden,
die darin besteht, die globale Produktion zu reduzieren und sie radikal neu
auszurichten, um die wirklichen menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen,
nämlich die der Mehrheit, die demokratisch bestimmt werden. Diese doppelte
Bewegung beinhaltet notwendigerweise die Abschaffung der nutzlosen oder
schädlichen Produktion und die Enteignung der kapitalistischen Monopole --
vor allem im Energie-, Finanz- und Agrarsektor. Sie erfordert auch eine
drastische Einschränkung des verschwenderischen Konsums der Reichen. Mit
anderen Worten, die Alternative ist dramatisch einfach: Entweder wird die
Menschheit den Kapitalismus liquidieren, oder der Kapitalismus wird
Millionen unschuldiger Menschen liquidieren, um seinen barbarischen Kurs auf
einem geschundenen und vielleicht unbewohnbaren Planeten fortzusetzen.

 

 

VEREINIGTE RÄUBER FÜR "NEGATIVE-EMISSIONEN-TECHNOLOGIEN"

 

Es versteht sich von selbst, dass die Herren der Welt keine Lust haben, den
Kapitalismus zu liquidieren... Was werden sie also tun? Lassen wir die
Klimaleugner wie Trump beiseite, diese Adepten von Malthus, die auf einen
fossilen Neofaschismus, einen Absturz in die planetarische Barbarei auf dem
Rücken der Armen setzen. Lassen wir auch die Musks und Bezos beiseite, jene
obszönen Milliardäre, die davon träumen, das Raumschiff Erde zu verlassen,
das von ihrer parasitären kapitalistischen Gier unbewohnbar gemacht wurde.
Konzentrieren wir uns auf die anderen, auf die gerisseneren, auf die Macron,
Biden, von der Leyen, Johnson, Xi Jinping ... -- die sich wie Räuber darum
streiten werden, dass das Glasgow-Abkommen ihnen Vorteile gegenüber ihren
Konkurrenten bieten wird, die aber vor den Medien zusammenhalten werden, um
uns einzureden, es sei "alles unter Kontrolle".

 

Was schlagen diese Herren und Damen vor, um der oben genannten Alternative
zu entrinnen? In erster Linie wollen sie natürlich, den Verbraucher*innen
ein schlechtes Gewissen einreden, sie werden unter Androhung von Sanktionen
aufgefordert, "ihr Verhalten zu ändern". Dann kommt eine Reihe von Tricks,
von denen einige geradezu plump sind (z. B. die Nichtberücksichtigung der
Emissionen des internationalen Luft- und Seeverkehrs) und andere, die
subtiler, aber nicht effektiver sind (z. B. die Behauptung, das Pflanzen von
Bäumen -- im globalen Süden -- werde es möglich machen, genug Kohlenstoff zu
absorbieren, um die fossilen CO2-Emissionen des Nordens nachhaltig zu
kompensieren). Aber über diese Tricks hinaus glauben all diese politischen
Manager des Kapitals nun felsenfest (oder sie tun so als ob) an einen
Wunderweg: die Erhöhung den Anteil der "kohlenstoffarmen Technologien"
(Codename für Atomkraft, insbesondere "Mikrokraftwerke") und vor allem den
Einsatz der so genannten NETs ("negative-emission technologies",
"Negative-Emissionen-Technologien") oder CDRs (Carbon Dioxide Removal,
Kohlendioxidentnahme) einsetzen, die das Klima abkühlen sollen, indem sie
der Atmosphäre große Mengen CO2 entziehen, um es im Untergrund zu speichern.
Dies ist die so genannte "vorübergehende Überschreitung der
Gefahrenschwelle" ("temporary overshoot of the danger threshold") von 1,5°C.

 

Nach Fukushima braucht man sich nicht mehr mit der Kernkraft zu befassen.
Die "Negative-Emissionen-Technologien" befinden sich zumeist erst im
Prototyp- oder Demonstrationsstadium, und ihre sozialen und ökologischen
Auswirkungen versprechen erschreckend zu sein (mehr dazu später). Dennoch
wird uns vorgegaukelt, dass sie das produktivistische/konsumistische System
retten werden und dass der freie Markt für ihren Einsatz sorgen wird. In
Wahrheit geht es bei diesem Science-Fiction-Szenario nicht in erster Linie
darum, den Planeten zu retten: Es geht in erster Linie darum, die heilige
Kuh des kapitalistischen Wachstums zu retten und die Profite derjenigen zu
schützen, die am meisten für den Schlamassel verantwortlich sind: die
multinationalen Öl-, Kohle-, Gas- und Agrarkonzerne.

 

 

DER IPCC ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND IDEOLOGIE

 

Und was hält der IPCC von diesem Wahnsinn? Anpassungs- und
Minderungsstrategien gehören nicht zum Kompetenzbereich der "Arbeitsgruppe
I" [Die physikalische Basis]. Sie stellt jedoch wissenschaftliche
Überlegungen an, die von den anderen Arbeitsgruppen zu berücksichtigen sind.
In Bezug auf die NETs hütet sie sich, wider den Stachel zu löcken. In der
Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger*innen heißt es:

 

"Die anthropogene CO2-Bindung (CDR) hat das Potenzial, CO2 aus der
Atmosphäre zu entfernen und dauerhaft in Reservoirs zu speichern (hohes
Vertrauen)." Weiter heißt es: "CDR zielt darauf ab, die verbleibenden
Emissionen zu kompensieren, um Netto-Null-CO2-Emissionen oder
Netto-Null-THG-Emissionen zu erreichen oder, wenn es in einem Ausmaß
umgesetzt wird, in dem die anthropogene Entfernung die anthropogenen
Emissionen übersteigt, die Oberflächentemperatur zu senken." (D1.5, S. 39)

 

In dieser Zusammenfassung wird eindeutig die Vorstellung bekräftigt, dass
Negative Emissions-Technologien nicht nur eingesetzt werden könnten, um
"Restemissionen" aus Sektoren aufzufangen, in denen eine Dekarbonisierung
technisch schwierig ist (z. B. im Luftverkehr), sondern dass sie auch in
großem Maßstab eingesetzt werden könnten, um den Umstand zu vertuschen, dass
sich der internationale Kapitalismus aus Gründen, die nicht "technisch"
sind, sondern mit Profit zu tun haben, weigert, auf fossile Brennstoffe zu
verzichten. In dem Text werden im Folgen die Vorteile eines solchen massiven
Einsatzes als Mittel zur Erreichung negativer Nettoemissionen in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts angepriesen:

 

"Die anthropogene CO2-Entfernung (CDR), die zu globalen negativen
Nettoemissionen führt, würde die atmosphärische CO2-Konzentration senken und
die Versauerung der Ozeane umkehren (hohes Vertrauen)." (D1.5, S. 39)

 

Die Zusammenfassung enthält einen Vorbehalt, der jedoch kryptisch bleibt:
"CDR-Technologien können potenziell weitreichende Auswirkungen auf die
biogeochemischen Kreisläufe und das Klima haben, die das Potenzial dieser
Methoden, CO2 zu binden und die Erwärmung zu reduzieren, entweder
abschwächen oder verstärken und auch die Verfügbarkeit und Qualität von
Wasser, die Nahrungsmittelproduktion und die biologische Vielfalt
beeinflussen können (hohes Vertrauen)."

 

Im Klartext: offenkundig sind die NETs doch nicht so effektiv, da einige
"Auswirkungen" "das Potenzial zur CO2-Bindung abschwächen" könnten. Der
letzte Teil des zitierten Satzes bezieht sich auf soziale und ökologische
Auswirkungen: Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (Bioenergy
with Carbon Capture and Storage, BECCS), die derzeit ausgereifteste NET,
könnten die atmosphärische CO2-Konzentration nur dann signifikant
reduzieren, wenn eine Fläche, die mehr als einem Viertel der heutigen
permanent bewirtschafteten Fläche entspricht, für die Produktion von
Biomasse genutzt würde -- auf Kosten der Wasserversorgung, der biologischen
Vielfalt und/oder der Ernährung der Weltbevölkerung. [4]

 

So stützt sich die IPCC-Arbeitsgruppe I einerseits auf die physikalischen
Gesetze des Klimasystems, um uns zu verkünden, dass wir am Rande des
Abgrunds und kurz davor stehen, unumkehrbar in einen unvorstellbaren
Kataklysmus zu kippen; andererseits versachlicht und verharmlost sie den
politisch-technologischen Höhenflug, mit dem der Kapitalismus einmal mehr
versucht, den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen seiner Logik der
unbegrenzten Profitakkumulation und der Endlichkeit des Planeten
aufzuschieben. "Noch nie hat ein Bericht von Expert*innen für die globale
Erwärmung einen solchen Eindruck von den Ängsten vermittelt, die durch die
Abwägung der Fakten im Lichte der unumstößlichen Gesetze der Physik
entstehen", schrieben wir zu Beginn dieses Artikels. Noch nie hat ein
solcher Bericht so deutlich gezeigt, dass eine wissenschaftliche Analyse,
die die Natur als Mechanismus und die Gesetze des Profits als physikalische
Gesetze behandelt, nicht wirklich wissenschaftlich, sondern szientistisch,
d. h. zumindest teilweise ideologisch ist.

 

Der Bericht der Arbeitsgruppe I des IPCC sollte daher in dem Bewusstsein
gelesen werden, dass er sowohl das Beste als auch das Schlechteste ist, was
uns vorliegt. Das Beste, weil er eine rigorose Diagnose liefert, aus der
sich hervorragende Argumente für eine Anklage gegen die Machthabenden und
ihre politischen Repräsentant*innen gewinnen lassen. Das Schlechteste, weil
er sowohl Angst als auch Ohnmacht verbreitet... wovon die Mächtigen
profitieren, obwohl die Diagnose sie anklagt! Ihre szientistische Ideologie
ertränkt den kritischen Geist in einer Flut von "Daten". So lenkt sie die
Aufmerksamkeit von den systemischen Ursachen ab, das hat zweierlei
Konsequenzen: 1. Die Aufmerksamkeit wird auf "Verhaltensänderungen" und
andere individuelle Gesten gelenkt -- viel guter Willen, aber pathetisch
unzureichend; 2. anstatt dazu beizutragen, die Kluft zwischen ökologischem
Bewusstsein und sozialem Bewusstsein zu überbrücken, hält der Szientismus
sie aufrecht.

 

Die Ökologisierung des Sozialen und die Sozialisierung der Ökologie ist die
einzige Strategie, mit der die Katastrophe aufgehalten und die Hoffnung auf
ein besseres Leben wiederbelebt werden kann. Ein Leben, das sich um die
Menschen und um die Ökosysteme kümmert, jetzt und auf lange Sicht. Ein
einfaches, freudiges und sinnvolles Leben. Ein Leben, das die IPCC-Szenarien
niemals modellieren werden, ein Leben, in dem die Produktion von
Gebrauchswerten für die Befriedigung echter Bedürfnisse, die demokratisch im
Respekt vor der Natur bestimmt werden, die Produktion von Gütern für den
Profit einer Minderheit überwindet. Dieses ökosozialistische
Alternativszenario wird vom IPCC nicht modelliert werden. Es ist rational
und machbar, es kann aber nur aus der Solidarität und den
selbstorganisierten Kämpfen der Ausgebeuteten und Unterdrückten erwachsen.

 

 

10. August 2021

 

 

Aus dem Englischen und Französischen übersetzt von Michael Heldt und
Friedrich Dorn

 

 

Daniel Tanuro ist Agraringenieur, Ökosozialist und Mitglied von Gauche
Anticapitaliste / SAP Antikapitalisten, der belgischen Sektion der Vierten
Internationale. Auf Deutsch erschien sein Buch über den "unmöglichen grünen
Kapitalismus" (2010) unter dem Titel /Klimakrise und Kapitalismus/ (Köln:
Neuer ISP Verlag, 2015).

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 5/2021 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1] The Physical Science Basis of Climate
Change[http://www.inprekorr.de/https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/downloads/
report/IPCC_AR6_WGI_Full_Report.pdf], 3949 Seiten; knappe Zusammenfassung:
Arbeitsgruppe_I:_Die_physikalische_Basis[http://www.inprekorr.de/https://de.
wikipedia.org/wiki/Sechster_Sachstandsbericht_des_IPCC#Arbeitsgruppe_I%3A_Di
e_physikalische_Basis] Anm. d. Übers.)

[2] Summary for Policy
Makers[http://www.inprekorr.de/https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/downloads/
report/IPCC_AR6_WGI_SPM.pdf], 42 Seiten (Anm. d. Übers.)

[3]  Semiarid ist eine Bezeichnung für Gebiete, die durch das Auftreten
einer markanten Trockenzeit geprägt sind, jedoch im Jahresverlauf auch etwa
drei bis fünf humide (feuchte) Monate aufweisen. In einer Region mit
semiaridem Klima übersteigt die Verdunstung in sechs bis neun Monaten pro
Jahr den Niederschlag. Während der kürzeren Zeit, in der die Niederschläge
die Verdunstung übersteigen, führen Flüsse wiederholt oder gelegentlich
Wasser. (Nach
Wikipedia[http://www.inprekorr.de/https://de.wikipedia.org/wiki/Semiarides_K
lima]) (Anm. d. Übers.)

[4]  Siehe die Diskussion in meinem Buch /Trop tard pour être
pessimiste!/Écosocialisme ou effondrement, Paris: Textuel;
Saint-Joseph-du-Lac (Québec): M Éditeur, 2020.

https://www.editionstextuel.com/livre/trop_tard_pour_etre_pessimistes[http:/
/www.inprekorr.de/https://www.editionstextuel.com/livre/trop_tard_pour_etre_
pessimistes
<https://www.editionstextuel.com/livre/trop_tard_pour_etre_pessimistes%5bhtt
p:/www.inprekorr.de/https:/www.editionstextuel.com/livre/trop_tard_pour_etre
_pessimistes> ]

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