[IPK] Welchen Charakter hat die neue Finanzkrise?

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Do Apr 27 10:09:01 CEST 2023


Bankenkrise:

Welchen Charakter hat die neue Finanzkrise?
Online unter: https://www.inprekorr.de/618-banken-gs.htm

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Hohe Nervosität und schon etwas Panik war zu spüren, als im März 2023
größere Banken gerettet werden mussten. Gerüchte gingen um und man fragte
sich, welche Bank als Nächstes zusammenbrechen könnte. 

 

 

Von Guenther Sandleben

 

 

Bankaktien brachen ein, erholten sich, um bei entsprechenden Gerüchten
erneut einzubrechen. Zweifel an der Überlebensfähigkeit von Banken mussten
rasch ausgeräumt und Vergleiche mit der Bankenpanik von 2008 kleingeredet
werden. Regierungsvertreter, Notenbanker und Autoritäten der Finanzwelt
setzten schließlich als herrschende Meinung die These durch, wonach unser
heutiges Finanzsystem viel sicherer sei als damals und dass es sich bei den
Konkursen um Sonderfälle mit hausgemachten Problemen handele. Lasst sie
reden und untersuchen wir besser die Ereignisse selbst!

 

 

WAS WAR PASSIERT? 

 

Die Silicon Valley Bank (SVB) wurde am 10. März 2023 geschlossen, nachdem
Einleger an einem einzigen Tag bis zu 42 Mrd. US-Dollar abgezogen hatten.
Dies war die größte US-Bankenpleite seit der Finanzkrise 2008. 

 

Einige Tage später drohte die Schweizer Großbank Crédit Suisse (CS) in
Konkurs zu gehen. Regierungen und Notenbanken gaben den strauchelnden Banken
im großen Stil Garantien und Notkredite. Im Falle der CS zimmerten
Schweizerische Notenbank (SNB), Finanzmarktaufsicht und Regierung eine
Auffanglösung: An den Aktionären und dem Kartellrecht vorbei drängte man den
etwas größeren Konkurrenten UBS zur Übernahme. „Damit wird das Aktienrecht
ausgehöhlt. Die Aktionäre der Crédit Suisse werden ohne Rechtsgrundlage
faktisch enteignet“, kommentierte Peter Viktor Kunz, Professor für
Wirtschaftsrecht an der Universität Bern das seiner Meinung nach
„skandalöse“ Vorgehen. [1]

 

Die SNB gewährte beiden Banken Liquiditätshilfen von insgesamt 200
Milliarden Franken und für Risiken im CS-Portfolio von Wertpapieren haftet
der Bund mit neun Milliarden Franken. „Ein Konkurs der Crédit Suisse hätte
schwerwiegende Folgen für die nationale und internationale Finanzstabilität
und für die Schweizer Wirtschaft gehabt. Dies zu riskieren, wäre
verantwortungslos gewesen“, rechtfertigte der SNB-Präsident Thomas Jordan
die einschneidenden Maßnahmen. [2]

 

 

HORROR VOR DEM GROSSEN CRASH

 

Etliche Beobachter des Geschehens entdeckten sogleich Parallelen zur großen
Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008. Dieser Vergleich ist umso
verständlicher, als vieles an jene Zeit erinnerte, darunter die
Plötzlichkeit, mit der die neue Finanzkrise auftrat, die Gefahren für das
gesamte Finanzsystem, das Öffnen der Geldschleusen seitens der Notenbanken,
die möglicherweise sehr kostspieligen Garantien der Regierungen und nicht
zuletzt der lockere Umgang mit Rechtsprinzipien, der selbst vor dem
Privateigentum nicht Halt machte. 

 

Schon damals gerieten anfangs nur einzelne Banken und Unternehmen in
Schwierigkeiten, bis schließlich sichtbar wurde, dass die Krise System hatte
und große Rettungsschirme gespannt werden mussten, um die unheilvollen,
blind wirkenden zerstörerischen Kräfte der kapitalistischen Produktionsweise
zu bändigen, soweit das politisch machbar war. „Es gab Stimmen“, schrieb der
damalige Finanzminister Peer Steinbrück, „die vom Ende des Kapitalismus
sprachen“, und in seinem Buch Beyond the Crash (2011, S. 18) stellte der
britische Premierminister Gordon Brown nüchtern fest: „Im September (2008)
wurde mir klar, dass wir nur noch Tage von einem vollständigen Zusammenbruch
entfernt waren.“ 

 

 

BERUHIGUNGSPILLEN WERDEN VERTEILT

 

Angesichts dieser Erfahrung und dem Horror vor einem Zusammenbruch des
Systems sind die große Nervosität, die Hektik und die Massivität
verständlich, mit der Notenbanken, Finanzaufsicht und Regierungen im März
intervenierten. Schon um sich selbst Mut zu machen, vor allem aber, um die
Anleger zu beruhigen, keine weiteren Gelder von den ins Gerede gekommenen
Banken abzuziehen, mussten sämtliche Autoritäten des Staates und der
Finanzwelt die aktuelle Krise verharmlosen und den Vergleich mit 2008
zurückweisen. 

 

US-Finanzministerin Janet Yellen meinte in ihrer Rede vor dem Bankenverband,
dass beide Krisen nicht vergleichbar wären. Das heutige Finanzsystem sei
wegen der gestärkten Eigenkapitalbasis der Banken und verschiedener
Finanzreformen stabil. 

 

Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) Christine Lagarde
bekämpfte ihren Schrecken mit den beruhigenden Worten, der Bankensektor sei
„widerstandsfähig“ und verfüge über eine starke Kapital- und
Liquiditätsausstattung. Für alle Fälle stehe der „gesamte Werkzeugkasten“
der Geldpolitik für den Fall zur Verfügung, dass das Finanzsystem des
Euroraums Liquiditätshilfen brauche. Das europäische Bankensystem stehe
robust da, meinte das deutsche Wirtschaftsministerium und
Bundesbankpräsident Joachim Nagel versicherte mit ähnlichen Worten: „Wir
stehen nicht vor einer Wiederholung der Finanzkrise von 2008“. (FAZ
23.3.23). 

 

Doch die Unsicherheit wollte einfach nicht weichen. Die Krise schwelte
weiter, ohne dass man die Brandstellen lokalisieren konnte. Beispielsweise
blieben die Risikoprämien für Kredit-Ausfallversicherungen, sogenannte
Credit Default Swaps (CDS), für Banken sehr hoch, die Hektik im Handel mit
Bankaktien setzte sich fort und die einst fest entschlossenen Notenbanken,
die Inflation durch weitere Leitzinsanhebungen konsequent zu bekämpfen,
verloren mehr und mehr ihren Mut und wagten kaum noch zu erwähnen, dass sie
neben höheren Zinsen auch noch den in ihren Bilanzen enthaltenen hohen
Anleihebestand durch Verkäufe reduzieren wollten. 

 

 

EUROPÄISCHE ZENTRALBANK IN DER ZWICKMÜHLE

 

„Es gibt keinen Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und Finanzstabilität“,
hatte EZB-Präsidentin Lagarde immer wieder versichert. Andere Zentralbanken
beruhigten mit ähnlichen Worten. Jedoch die März-Ereignisse enthielten eine
andere Botschaft. Die EZB und andere Zentralbanken hatten im vorigen Jahr
begonnen, die Geldvermehrung durch Anleihekäufe zu stoppen und die Zinsen zu
erhöhen, gerade um die Inflation zu bekämpfen. Nun taten sie Gegenteiliges.
Sie stellten umfangreiche Kredithilfen mit entsprechender Ausweitung ihrer
Geldmengen zur Verfügung und ließen zinspolitische Zurückhaltung erkennen.
So förderten sie die Inflation, die sie doch konsequent bekämpfen wollten.
Strauchelnde Banken zwangen sie dazu. Sie hatten, wie der SNB-Präsident
Thomas Jordan im Falle der Crédit Suisse gesagt hatte, schwerwiegende Folgen
für die nationale und internationale Finanzstabilität abzuwehren. Sie
mussten die Inflationsbremsen frühzeitig, d.h. ohne dass sie schon die
erhoffte Wirkung erzeugt hatten, lockern, weil sie Banken ins Schleudern
gebracht hatten. 

 

Man erkennt die Zwickmühle: Zentralbanken, die höhere Zinsen als Mittel
gegen die Inflation einsetzen, erschüttern Banken und Finanzmärkte. Sie
richten hier Schaden an, sobald sie ihr Inflationsziel ernsthaft verfolgen.

 

 

CHARAKTER DER NEUEN FINANZKRISE

 

Die Verwerfungen, zu denen die Zinserhöhungspolitik maßgeblich beigetragen
hatte, zeigten sich sehr konkret im Zusammenbruch der Silicon Valley Bank.
Die SVB war die bevorzugte Bank für Risikokapital- und Start-up-Unternehmen
in Kalifornien. Etwa 50 Prozent der Silicon-Valley-Start-ups gehörten zu
ihren Kunden. In den Jahren vor 2022 sammelten Risikokapitalfirmen
Milliarden US-Dollar ein. Viele dieser Fonds legten das Geld bei der SVB an,
um es später in Start-up-Unternehmen zu investieren. Die Guthaben
verdreifachten sich von Anfang 2020 bis Ende 2022 auf 175 Mrd. US-Dollar.
[3] Vorsichtig, wie sich die SVB verhielt, legte sie die hohen Einlagen
überwiegend in Staatsanleihen und in Mortgage-backed Securities
(hypothekarisch besicherte Anleihen) an. Toxische, hochspekulative
Subprime-Papiere spielten hier überhaupt keine Rolle, sondern nur die als
ganz sicher eingestuften, mit hohen Ratings versehenen Staatsanleihen. 

 

Zwei Entwicklungen ruinierten die SVB: Erstens geriet die Tech-Industrie ins
Stocken mit der Folge, dass wegen der verschlechterten Geschäftsaussichten
der Strom neuer Einlagen zu versiegen begann. Was noch entscheidender war:
Die Unternehmen zogen ihr Geld ab, da sie dringend Cash benötigten. Denn die
wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Tech-Industrie hatten das Vertrauen
in ihre eigene Kreditwürdigkeit erschüttert. Sofortige Zahlung war angesagt.
Zudem führten Stockungen im eigenen Geschäft zu einem höheren Geldbedarf.
Die SVB konnte die abfließende Liquidität nur bereitstellen, wenn sie
Wertpapiere verkaufte. 

 

Hier nun kommt die zweite Entwicklung ins Spiel, die in einem Zusammenhang
mit der großen Krise von 2008 und deren Nachwirkungen steht. Auch die
Corona-Politik und vor allem die Inflation spielen eine Rolle. Ohne sich in
Einzelheiten zu verlieren, soll hier nur festgehalten werden, dass neben der
US-amerikanischen Notenbank Fed, der japanischen und britischen auch die
Europäische Zentralbank bis Mitte 2022 die Zinsen extrem niedrig hielten.
Vorangegangene Leitzinssenkungen und verschiedene Anleihekaufprogramme
bewirkten derart hohe Kurssteigerungen am Markt für Anleihen, dass die
Renditen sicherer Anleihen vielfach ins Minus rutschten – eine historisch
einmalige Entwicklung. Erklärtes Ziel der großen Notenbanken war, ihre
jeweilige Wirtschaft mithilfe extrem niedriger Zinsen zu fördern, um eine
Deflation zu verhindern. Die Anleihekaufprogramme ermöglichten zudem den
Regierungen, ihre krisenbedingt wachsenden Staatsausgaben mehr und mehr
durch die Ausgabe neuer Wertpapiere zu finanzieren, die dann die Notenbanken
mit frisch gedruckten oder elektronisch bereitgestellten Banknoten kauften,
so dass die Zentralbankgeldmenge sprunghaft anstieg. Die EZB kaufte
Wertpapiere von insgesamt fast fünf Billionen Euro. 

 

Dieser große zinspolitische Zusammenhang bestimmte die Entscheidungen
sämtlicher Finanzinstitute, auch die der SVB. Um die zugeflossenen Gelder
sicher anzulegen, kaufte die SVB vor allem Staatsanleihen, obwohl deren
Kurse viel zu hoch und die erzielbaren Renditen viel zu niedrig oder gar
negativ waren. Hätte sie riskantere Geldanlagen mit höheren Renditen
gewählt, wäre der Verdacht aufgekommen, sie würde leichtsinnig mit ihren
Kundengeldern umgehen. Vorsicht war also angesagt. 

 

Im Zuge steigender Inflationsraten stellten im vorigen Jahr verschiedene
Notenbanken, darunter die Fed und die EZB, ihre Anleihekäufe ein und
begannen, ihre Leitzinsen zügig anzuheben. Die Kurse sämtlicher Anleihen
brachen daraufhin ein. Die SVB mit ihrem hohen Bestand an „soliden“
Staatsanleihen verzeichnete hohe Buchverluste. Diese wären wegen der
üblichen buchtechnischen Verfahren kaum aufgefallen, wäre die SVB durch die
Mittelabflüsse nicht gezwungen gewesen, die Verluste durch die Verkäufe von
Anleihen zu realisieren. Sie musste verkaufen, um selbst zahlen zu können. 

 

Am 8. März die Offenbarung: Nach Handelsschluss verkündete die SVB, sie
werde einen Verlust von 1,8 Milliarden US-Dollar verbuchen. Es roch nach
Bankrott. Verschärfend kam hinzu, dass nur sechs Prozent der Bankkunden ihre
Einlagen durch die staatliche Einlagenversicherung bis zu einer Höhe von 250
000 US-Dollar garantiert sahen. Der Rest besaß höhere Einlagen. Die große
Masse musste also mit hohen Verlusten und dazu mit größeren Verzögerungen
rechnen, an ihre Einlagen zu kommen, um damit ihre eigenen Lieferanten und
Beschäftigten zu bezahlen. Dies erklärt den besonders massiven Bank Run, der
am 10.3. seinen Höhepunkt erreichte. Die ganze Dramatik, die darin steckte,
zeigt uns, warum der US-Staat eine Komplettgarantie für sämtliche Einlagen
geben musste. 

 

Der Druck auf die entsprechenden Staatsabteilungen, auf Regierung, Notenbank
und Finanzaufsicht, solche Garantien zu gewähren, wurde noch dadurch
verstärkt, dass die Finanzinvestoren, deren Gelder als Einlage u. a. zur SVB
geflossen waren, sowie die Silicon-Valley-Größen eine Kampagne mit der
zentralen Aussage initiierten: Die Facebooks von morgen würden im Keim
erstickt, wenn ihre nicht versicherten Guthaben nicht staatlich garantiert
würden. (FAZ 21.02.23) 

 

Die Kausalitäten sind bemerkenswert: Zuerst brachten die allgemeinen
Verwerfungen der Zinspolitik, die wiederum ihre Voraussetzungen in der
Wirtschaft hatten, und die besonderen wirtschaftlichen Verwerfungen des
Tech-Sektors die SVB in Turbulenzen und nun sollte sie gerettet werden, um
den Tech-Sektor zu stärken und um eine größere Finanzkrise mit negativen
Folgen für die gesamte Wirtschaft abzuwenden. Es zeigte sich, wie
Wirtschaftskrise, Finanzkrise und staatliches Management ineinander
verschlungen sind und welche Anstrengungen Regierung und Notenbank
unternehmen, um die kapitalistische Akkumulation einigermaßen
aufrechtzuerhalten. 

 

Staatlicher Eingriff in die Bankenlandschaft löst die Wirtschaftsprobleme
nicht. Man fügt neue Probleme hinzu.

 

Die kleine Geschichte der Notenbankpolitik seit der großen
Weltwirtschaftskrise von 2008 liefert Hinweise für Macht und Ohnmacht einer
Notenbank: Sie kann durch das entschlossene Öffnen ihrer Geldschleusen die
Panik dämpfen, die Wirkungen der Krise mildern, zusammen mit der
Finanzpolitik eine Depressionsspirale verhindern, aber immer um den Preis,
dass sie ihre späteren Handlungsmöglichkeiten untergräbt und Entwicklungen
einleiten muss, die später die Wirtschaft schwächen. Das Problem ist nur in
die Zukunft verschoben, wie die Zinspolitik gezeigt hat.

 

Neoliberale verdrehen später die Kausalitäten und klagen Notenbank und
Regierung an, die gesamte Krise durch ihr Fehlverhalten, durch eine falsche
Zins- und Ausgabenpolitik verursacht zu haben. [4] Denn ihrer Meinung nach
sei die kapitalistische Produktionsweise eine krisenfreie Angelegenheit. Nur
äußere Umstände könnten deshalb die ökonomischen Katastrophen herbeiführen.
Die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Akkumulation wird schon dadurch
weggeleugnet, dass die Ware mit ihrem Gegensatz von Gebrauchswert und
Tauschwert in ein Produkt, das dort entstehende Geld in einen bloßen
Vermittler des Produktenaustauschs und schließlich die spezifisch
kapitalistischen Bedingungen der Produktion in allgemeine, natürliche
Bedingungen jeglicher Produktion verwandelt werden. [5] Diese Sichtweise
blendet alle Krisenelemente aus, die auch nur einen Schatten auf die
kapitalistische Produktionsweise selbst werfen könnten. 

 

Was wäre passiert, wenn sich die Politik im März 2023 herausgehalten hätte
und die Krisenprozesse so abgelaufen wären, wie sie sich notwendig aus den
Widersprüchen und Gegensätzen der kapitalistischen Produktionsweise ergeben.
Hätte der Staat das freie Spiel der Marktkräfte walten lassen, wäre ein
Flächenbrand wahrscheinlich: Die Panik hätte zugenommen. Bankkunden hätten
massenhaft versucht, ihre Einlagen von Banken abzuziehen. Da Banken ihre
Einlagen in länger laufenden Anleihen und Krediten anlegen, die sogenannte
Fristentransformation, wäre es notwendig zu massiven Anleiheverkäufen
gekommen. Der Verkaufsdruck hätte die Wertpapierkurse purzeln lassen, also
massenhafte Entwertung der Papiere, hohe Verluste für alle Banken, die
ebenfalls verkaufen und die schon abgestürzten Wertpapierkurse weiter
unterbieten müssten. 

 

Die Kredit- und Bankenkrise hätte sich verallgemeinert, Bankkunden wären
geprellt, Unternehmen reihenweise in Konkurs gegangen mit weiteren
katastrophalen Folgen für das Finanzsystem. Der Kredit wäre
zusammengebrochen. Nur bare Zahlung würde zählen. Sämtliche
Geld-Reservefonds reichten nicht aus, die zuvor kreditgestützte
Warenzirkulation mit Geld zu versorgen. Also Geldkrise als Moment der
Wirtschaftskrise mit dem praktischen Zwang, alle verfügbaren Waren panisch
auf den Markt zu werfen, um selbst zahlen zu können. „Dies plötzliche
Umschlagen des Kreditsystems in das Monetarsystem“, schreibt Marx bezüglich
der noch nicht staatlich gemanagten Krisen des 19. Jahrhunderts, „fügt den
theoretischen Schrecken zum praktischen panic, und die Zirkulationsagenten
schaudern vor dem undurchdringlichen Geheimnis ihrer eigenen Verhältnisse.“
(MEW 13, S. 123)

 

Man sieht, welche Bedeutung die Notenbanken haben in diesem Prozess der
Kapitalentwertung. Als Kreditgeber der letzten Instanz verhindern sie erst
einmal die Entwertungsspirale einfach dadurch, dass sie das gesetzliche
Zahlungsmittel, die Möglichkeit zur baren Zahlung, vor allem den Banken als
Kredit in der notwendigen Höhe zur Verfügung stellen. Technisch gesehen
„drucken“ sie die Banknoten, die nun Banken erhalten und an ihre
Geldeinleger und Kreditkunden weitergeben. 

 

Nur der Haken dabei ist, dass die Krisenelemente gerade nicht ausgeräumt,
sondern nur in die Zukunft verschoben werden und sich dort mehr und mehr
auftürmen. Eine anschwellende „permanente Krise“ ist die Folge [6], weil
Regierung und Notenbank durch ihre fiskal- und geldpolitischen
Interventionen die für den konjunkturellen Aufschwung notwendige
Bereinigungsfunktion der Krise zu einem großen Teil verhindern: Staatliche
Konjunkturprogramme stützen die einbrechende Nachfrage und Subventionen,
Sonderzahlungen etc. verhindern Pleiten und die Kredite an die in die Klemme
geratenen Banken blockieren eine Verallgemeinerung der Kredit- und
Bankenkrise. Statt dass Kapital in seinen verschiedenen Formen, als
produktives Kapital, Warenkapital und fiktives Kapital (Anleihen, Aktien,
Derivate) massenhaft entwertet wird, existiert es dank staatlicher
Interventionen fort. Eine „Zombifizierung“ der Wirtschaft, sich auftürmende
Kreditpyramiden, anschwellende Staatsschulden und sprunghaft steigende
Notenbankbilanzen sind die Folgen. Solange Notenbanken noch in der Lage
sind, durch Anleihekäufe den staatlichen Kreditbedarf zu finanzieren, gehen
Staaten nicht Pleite, so dass ökonomisches Krisenmanagement möglich bleibt. 

 

Nun lieferte die Pleite der SVB den praktischen Beweis, dass die Geldpolitik
bereits in ein Stadium getreten ist, wo sie viel Unheil anrichtet.
Nullzinspolitik einerseits und die inflationsgetriebenen, beinahe panisch
erfolgten Zinsanhebungen andererseits haben keineswegs nur der SVB Probleme
bereitet. Hohe Kursverluste bei Anleihen und die höheren Finanzierungskosten
als Folge des Zinsanstiegs belasten Finanzinstitute aber auch produzierende
Unternehmen. [7] Für Zombies sind niedrige Zinsen überlebensnotwendig, denn
verschiedene Geschäftsfelder und Projekte geraten im Zuge höherer
Finanzierungskosten in Schieflage. Zudem hängt die Expansionsfähigkeit
bedeutender Teile der Wirtschaft direkt an der Höhe des Zinses. So bricht
beispielsweise der Bauwirtschaft die Nachfrage weg, weil sich viele
Bauvorhaben auch zinsbedingt nicht mehr lohnen. Kreditkrisen mit
Zahlungsausfällen sind vorprogrammiert. Da sich Kredite im Bankensektor
konzentrieren, folgen Bankenkrisen den Kreditkrisen. 

 

Die Geldpolitik hat also in den verschiedensten Bereichen der Wirtschaft
Minen zurückgelassen, die vor allem dann explodieren, wenn zusätzlich die
wirtschaftliche Entwicklung ins Stocken gerät. Genau diese Konstellation
führte die SVB in den Konkurs und sie könnte sich auch für andere als
Fallstrick erweisen.

 

 

EUROPÄISCHE ZENTRALBANK MIT HOHEN VERLUSTEN

 

Das Desaster bei der SVB wirft seinen Schatten selbst auf die großen
Notenbanken. Auch sie besitzen in ihren angeschwollenen Bilanzen erhebliche
Bestände an Anleihen, vor allem an „sicheren“ Staatsanleihen, die nun
allesamt hohe Verluste aufweisen. Die SNB verlor 2022 etwa 130 Mrd. Franken,
die US-amerikanische Notenbank Fed geschätzt 100 bis 150 Mrd. US-Dollar, die
Bank von England etwa 150 Mrd. Pfund und auch die EZB sowie die nationalen
Notenbanken des Eurosystem verzeichneten hohe Verluste, sodass sie ihre
Risikovorsorge anzapften. [8] Zu den Kursverlusten auf die
Wertpapierbestände kommen Zinsverluste hinzu, die darauf beruhen, dass ihre
Anleihen nur niedrige Renditen abwerfen, während die Einlagen, die
Geschäftsbanken als überschüssige Liquidität bei ihnen halten, mit
inzwischen 3 % verzinst werden. Je höher der Leitzins, desto mehr Zinsen
müssen Notenbanken zahlen. 

 

Dass die Notenbanken trotz der hohen Verluste kein vergleichbares Desaster
wie die SVB erlebten, hat einen einfachen Grund: Sie drucken selbst die
Banknoten, also die in der Krise so sehr begehrte „bare Zahlung“, so dass
sie daran gerade keinen Mangel haben, der sie in die Liquiditätskrise führen
könnte. Anders als die SVB mussten sie deshalb die Kursverluste ihrer
Anleihen nicht realisieren. Da die Goldeinlösungspflicht aufgehoben ist,
sind sie durch ihre Banknoten auch nicht verpflichtet, Gold oder andere
Aktiva gegen die Banknoten herzugeben. Selbst wenn hohe Verluste ihr
Eigenkapital aufzehrten, müssen sie keineswegs Konkurs wegen Überschuldung
anmelden. Und dennoch besteht ein Problem, wenn etwa die EZB hohe Verluste
macht. 

 

Gerade weil die Goldeinlösungspflicht nicht mehr existiert, ist das
Vertrauen, das man ihr gibt, den Euro stabil zu halten, essentiell. Kann das
Stabilitätsversprechen der EZB noch glaubwürdig sein, wenn sie selbst
ökonomisch instabil ist, hohe Verluste macht, überschuldet ist und nach
allgemeinen Maßstäben ihren Konkurs anmelden müsste? Drückt sich diese
ökonomische Schieflage bereits im derzeitigen Inflationsschub aus? Längst
fürchten Warenbesitzer, dass sie Einbußen erleiden, wenn sie den in Euro
realisierten Wert ihrer verkauften Ware für den Kauf anderer Waren
verwenden. Wie schnell Vertrauen verspielt wird, bewies die Pleite der SVB:
Für den Umschlag in allgemeines Misstrauen bedurfte es nur einer
Verlustmeldung. 

 

 

SOZIALISMUS ODER BARBAREI

 

Die neue Finanzkrise verläuft bislang mehr im Verborgenen und bricht erst an
wenigen Stellen aus. Ihre Gefährlichkeit für das kapitalistische System
besteht weniger in den zyklischen Krisenelementen, die sich u. a. im
High-Tech-Sektor und in der Bauwirtschaft zeigen, sondern vor allem in dem
Krisenpotenzial, das sich überzyklisch aufgebaut hat. Die „permanente Krise“
ist ein großes Risiko. Darin ist das Unheil eingeschlossen, das die
Geldpolitik inzwischen anrichtet. Die wirtschaftspolitisch verschleppten
Bereinigungskrisen haben die Voraussetzungen für eine noch nicht dagewesene,
gigantische Entwertungsspirale geschaffen. 

 

Anders als noch während der großen Krise 2008 ist der Hort für Stabilität,
die Notenbank, ökonomisch angeschlagen. Zusehends verliert sie an Kraft, die
Brandherde der neuen Finanzkrise mit ihrer selbst produzierten Liquidität zu
ersticken. Sie steckt in einer Zwickmühle: Bekämpft sie die Inflation,
produziert sie Verwerfungen im Finanzsektor, die sie inzwischen selbst
treffen. Versucht sie, Banken zu retten, so verspielt sie das Vertrauen, die
Inflation konsequent zu bekämpfen. 

 

Ein allgemeiner Vertrauensverlust hätte schwerwiegende Folgen für das
heutige Geldsystem. Denn bislang fingen die Notenbanken den Umschlag des
Kreditsystems ins Monetarsystem auf, indem sie ihre Geldschleusen öffneten
und die notwendige bare Zahlung bereitstellten. Was geschieht, wenn
Inflation und Vertrauensverlust das Geldsystem stärker erschüttern? Wenn die
Banknoten, die die Notenbank druckt, ihren Geldcharakter zu verlieren
beginnen und man sie als bare Zahlung kaum noch akzeptiert? Das aus den
heutigen Banknoten bestehende Monetarsystem würde den Zusammenbruch des
Kredits kaum noch auffangen können. „Werthaltiges“ Geld, die Geldware selbst
und direkt darauf bezogene Wertzeichen kämen ins Spiel. An die Stelle des
dahinschwindenden Vertrauens in die Notenbanken und deren Banknoten könnte
mehr und mehr das Gold treten, so dass der Umschlag des Kreditsystems ins
Monetarsystem weiter reichen würde als bislang. 

 

Gesellschaftspolitisch wäre dieser Umschlag mit seinen nun ungebremsten
Krisenprozessen eine Katastrophe. Die Gesellschaft fände sich „plötzlich in
einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt“, wie Marx und Engels 1848
bezogen auf die klassischen, staatlich nicht gedämpften periodischen
Überproduktionskrisen vermerkten. (MEW 4, S. 468) Und diese „momentane
Barbarei“ würde außerordentlich gesteigert durch die bislang blockierten
Bereinigungskrisen, deren zurückgestaute Kapitalvernichtung nun ohne
staatliche Entwertungsbremsen in vollem Umfang wirksam würde. Die
Alternative wäre wieder da: Sozialismus oder Rückfall in tiefe Barbarei.

 

 

5.4.2023

 

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Aus:   die internationale Nr. 3/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/credit-suisse-uebernahme-durch-d
ie-ubs-ist-nicht-ohne-ironie-18763121.html?printPagedArticle=true#pageIndex_
2

[2]
https://www.nau.ch/news/wirtschaft/snb-chef-cs-konkurs-zu-riskieren-ware-ver
antwortungslos-gewesen-66456740

[3]  Wie gefährdet sind Amerikas Banken?, FAZ 21.3.23

[4]  Dazu zählt Hans-Werner Sinn. Da aus seiner Sicht die kapitalistische
Produktionsweise in sich stabil sei, führt er sämtliche Krisen auf
äußerliche Einflüsse zurück, auf eine fehlgeleitete Geschäftspolitik großer
US-Investmentbanken, auf Fehlentscheidungen von Regierungen und vor allem
von Notenbanken. So habe die EZB „ihre Mandatsgrenzen vielfach gedehnt, wenn
nicht überschritten“ (Die wundersame Geldvermehrung, Verlag Herder, S. 63)
„Nicht nur die Null- und Negativzinspolitik, die durch die
Wertpapier-Kaufprogramme umgesetzt wurde, war falsch. […] Auch hat die
Politik hat falsch auf die Pandemie reagiert. Ihr mit einer staatlichen
Schuldenpolitik, also mit Maßnahmen zur Nachfrageausweitung
entgegenzutreten, hat nur die Inflation angetrieben.“ (Handelsblatt,
24.3.23, Nr. 60)

[5]  Mehr dazu: Marx, MEW 26.2, S. 501 ff.

[6]  Zu den Einzelheiten, wie aus den Krisen von 2007 und 2008/09 eine
permanente Krise werden konnte, vergleiche Guenther Sandleben/Jakob Schäfer,
Apologie von links, Neuer ISP Verlag 2013, S. 121ff. 

[7]  „Forscher der New York University haben kürzlich errechnet, dass die
US-Banken wegen der Zinswende auf bislang unrealisierten Verlusten von 1,7
Billionen Dollar sitzen – fast soviel wie das gesamte Eigenkapital von 2,1
Billionen Dollar im US-Bankensystem.“
https://www.capital.de/geld-versicherungen/ezb--hohe-verluste-bei-banken-wer
den-fuer-notenbank-zum-problem-33335662.html

[8]  Capital 02/23: „Die große Abrechnung“. Die FAZ schätzt die Fed-Verluste
„zwischen 80 Milliarden und 100 Milliarden Dollar“. Darin seien die
„gewaltigen Buchverluste“ noch nicht enthalten: „Die während der
Quantitative-Easing-Phase aufgebauten Anleihen im Fed-Portfolio haben mit
den steigenden Zinsen an Wert verloren. Auf rund eine Billion Dollar werden
diese nicht realisierten Verluste geschätzt. Die operativen Verluste allein
übersteigen dieses Jahr rein rechnerisch das Eigenkapital der Notenbank. Das
würde für private Finanzinstitute die Insolvenz bedeuten.“ („Das Finanzloch
in der Federal Reserve“, in: FAZ 10.3.23)

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