[IPK] Brasilien: Was folgt auf Lulas Sieg?

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So Jan 8 20:06:29 CET 2023


Brasilien:

Was folgt auf Lulas Sieg?
Online unter: https://www.inprekorr.de/614-brasil.htm

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Die Rechte wähnte sich bereits als Sieger. Nun fällt sie aus allen Wolken,
da die Bolsonaristen einen historischen und demoralisierenden Absturz erlebt
haben.

 

 

Von Israel Dutra

 

 

Der Sieg von Luiz Inácio Lula da Silva (PT) bei den brasilianischen Wahlen
2022 ist der größte Triumph der Demokratie seit dem Sturz des Militärregimes
(1964–1985). Dieser Triumph wurde am Wahlabend (30.10.) im ganzen Land
gefeiert und knüpfte an die besten kämpferischen Traditionen des
brasilianischen Volkes an. Hunderttausende waren auf der Straße, wobei etwa
die Avenida Paulista (im Zentrum von São Paulo, wo Lula seine erste
Kundgebung als gewählter Präsident abhielt) von Menschenmassen regelrecht
überschwemmt wurde. Auch die bewegenden Szenen, die bei der Eröffnung eines
Wahllokals in Bahia gefilmt wurden, wo Hunderte von Menschen begeistert und
zuversichtlich darauf brannten, ihre Stimme für Lula abzugeben, zeugen von
dieser Stimmung.

 

Es war ein Sieg der Demokratie und des Volkes, allerdings ein sehr knapper,
mühevoller Sieg mit nur 2,3 Millionen Stimmen Unterschied und einer Marge
von weniger als 2 Prozent, was es bei einer Präsidentschaftswahl noch nie
gegeben hat. Zugleich war es eine beispiellose Niederlage für einen
amtierenden Präsidenten, der sich um seine Wiederwahl beworben hatte. Mit
über 60,3 Millionen waren die Stimmen für Lula auch in absoluten Zahlen
erstmalig in der Geschichte, ebenso wie das Ausmaß der Polarisierung.

 

Zuvor gab es fast 700 000 offizielle Opfer der Pandemie, ein schreckliches
Trauma, das in die Geschichte des Landes eingegangen ist und die Lage im
Land wie auch den Wahlkampf geprägt hat. Natürlich spielte auch die
Zerstörung des Landes und des Amazonasgebiets eine Rolle, das Wiederaufleben
von Hungersnot und das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Armen. So
wurde bspw. der junge Genivaldo de Jesus Santos in einem Einsatzwagen der
regimetreuen Verkehrspolizei grausam gefoltert und erstickt.

 

Lula, der nach einer willkürlichen und unrechtmäßigen Inhaftierung wieder
freigekommen war und 2018 daher nicht antreten konnte, kandidierte gegen den
amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro (PL) unter noch nie dagewesenen
politischen Umständen seit dem Ende der Militärdiktatur. Bolsonaro machte
sich den Staatsapparat auf kriminelle Weise und mit der Unterstützung der
Mehrheit im Nationalkongress zunutze, um seine Wiederwahl zu sichern. So
gelang es ihm, kurz vor den Wahlen die Freigabe von 27 Milliarden Reais (5
Milliarden Euro) für die sog. Brasilienhilfe (Auxilio Brasil; neue Version
der von Lula eingeführten bolsa familial) durchzusetzen. Zudem mobilisierte
er mindestens 48 Milliarden Reais der Caixa Federal, der größten staatlichen
Bank des Landes, für Sozialleistungen und Kredite für Frauen in der
Wahlperiode – natürlich um so die Wahlen zu beeinflussen und seine eigene
Popularität unter den Schichten zu mehren, in denen Lula die meisten
Anhänger hat. Außerdem senkte per ordre de mufti die Benzinpreise und
verteilte massenhaft Geld über den sog. „Geheimhaushalt“, womit öffentliche
Mittel ohne jegliche Transparenz im Parlament freigegeben werden können.

 

Neben dem Missbrauch öffentlicher Gelder für seine Wiederwahl hat Bolsonaro
einen Riesenapparat zur Produktion und Verbreitung von Fake News im
industriellen Maßstab aufgebaut und evangelikale Kirchen als Echokammer
genutzt, um die Reichweite seiner Erzählungen in den sozialen Netzwerken zu
vergrößern – ein Schlüsselsektor im Wahlkampf, in dem die Bolsonaristen
stärker sind als die linken Gruppen. Bolsonaro hat laut einer Umfrage von
CNN Brasilien fast 60 Millionen Follower gegenüber 25 Millionen für Lula,
wenn man nur die Profile der beiden Präsidentschaftskandidaten auf Facebook,
Instagram, YouTube, Twitter und TikTok berücksichtigt. 

 

Auch auf andere Manöver griff er zurück, wie den Einsatz der PRF
(Verkehrspolizei), um das Wahlrecht der Bevölkerung in Regionen, in denen
die PT vorn liegt – wie dem Nordosten – in Frage zu stellen, oder
Wahlbeeinflussung am Arbeitsplatz, wo Bolsonaro-treue Bosse versuchten, die
Stimmabgabe der Arbeiterschaft in die gewünschte Richtung zu lenken. Die
Arbeitsgerichte melden, dass sie über 2400 Anzeigen über derartige
Belästigungen und Versuche, die Wählerstimmen der Bevölkerung zu
manipulieren, erhalten haben.

 

 

WAS GAB DEN AUSSCHLAG?

 

Die Rechte war siegessicher, fiel jedoch durch. Es kam zu einer historischen
und demoralisierenden Niederlage für die Bolsonaristen, obwohl es schon
während des Wahlkampfs einige Anzeichen dafür gab, dass der Sturz des
Bolsonarismus wahrscheinlicher war als die Wiederwahl der derzeitigen
Regierung, die die brasilianische extreme Rechte repräsentiert, die
Extremisten, PT-Gegner, Opportunisten und Abenteurer aller Art ins Boot
geladen hat, um vom weltweiten Aufstieg der Rechten zu profitieren.

 

Eine Reihe von Faktoren gab den Ausschlag für Lulas Sieg.

 

*  Erstens der organisierte Widerstand während der vierjährigen Regierung
von Bolsonaro, der weite demokratische Sektoren vereinte, darunter die
Jugendlichen und Frauen, die in ihrer Mehrheit gegen Bolsonaro waren.
Daneben die Protestbewegungen im Volke, etwa die Massenproteste im
Bildungssektor, der antirassistische und antifaschistische Kampf, der Kampf
gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit und für das Recht auf Impfungen,
gemeinsam mit Sektoren des Staatsapparats und nicht Bolsonaro-hörigen
Medien, allen voran der Fernsehsender /Rede Globo/ und in – geringerem Maße
– die Tageszeitung /Folha de S. Paulo/, und dem Kultur- und Kunstsektor.
Allerdings muss man kritisieren, dass sich die PT für die Strategie
entschieden hat, die Widerstandsbewegung auf die Wahlebene zu kanalisieren
und die Proteste unter dem Motto /Fora [Weg mit] Bolsonaro!/ weg von der
Straße zu holen, wenngleich die Massenbewegung ihrerseits keinen massiven
Einbruch erlebt hat.

 

*  Zweitens ermöglichte die Spaltung der Bourgeoisie als Ausdruck der
gespaltenen Gesellschaft den Wahlsieg der Opposition, selbst wenn Bolsonaro
den Staatsapparat kontrollierte.

 

*  Drittens erleichterten die Spaltung der Bourgeoisie auf internationaler
Ebene und die Niederlage Trumps die Niederlage des Bolsonaro-Regimes, zumal
ein Teil der imperialistischen Staaten, wie die USA unter Biden und den
Demokraten und die EU, signalisierten, dass sie keinen Putsch akzeptieren
würden und Lula unterstützten.

 

*  Viertens Lulas großes Charisma, der als einziger in der Lage wäre,
Bolsonaro zu schlagen. Das rührt aus seiner Vergangenheit als wichtigster
Arbeiterführer des Landes her, aus der Erinnerung an die teilweisen
Fortschritte unter seiner Regierung und aus der enormen Identifikation des
Volkes mit ihm, die er erzeugen kann.

 

*  Fünftens der Vorsprung im Nordosten, wobei es hier nicht nur um das
Territorium als solches geht, sondern um die enorme Ausstrahlung der
„nordöstlichen Nation“, die im ganzen Land empfunden wird und in der
Arbeiterklasse verwurzelt ist, so wie Lula selbst, und auch auf die großen
städtischen Zentren abfärbt, als Bollwerk gegen Fremdenfeindlichkeit,
Vorurteile und die Rückständigkeit der brasilianischen Eliten.

 

*  Sechstens wegen des guten Abschneidens in den Hauptstädten der
Bundesstaaten und des Sieges in strategisch wichtigen Städten wie Porto
Alegre und São Paulo, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats, und selbst
in den Bundesstaaten, in denen Bolsonaro gewinnen konnte.

 

 

 

ALLES GUT?

 

Korrekt wäre es, von einem wichtigen Sieg der Demokratie zu sprechen, wobei
wir uns jedoch auch weiterhin in der Defensive befinden. Wohl ist damit
Bolsonaros Versuch, sich an die Macht zu klammern, gescheitert, und seine
Verbündeten im „centrão“ (Mitte-Rechts) und darüber hinaus beginnen, das
Boot zu verlassen, und sind gespalten. Aber das reicht nicht aus, um die
neofaschistischen Kräfte zu zerstören, die den Kern des Bolsonarismus
ausmachen.

 

Die Situation ist anders als 2003, dem Beginn der ersten Lula-Regierung. Es
gibt eine starke extreme Rechte und das antikapitalistische Bewusstsein ist
schwächer, aber die Spaltung der Bourgeoisie und der Politisierungsprozess,
den diese Polarisierung hervorgebracht hat, öffnen den Raum, um eine
klassenbewusste Avantgarde zu errichten und von der Regierung mehr
Demokratie unter Beteiligung der Bevölkerung zu verlangen.

 

Lula wird natürlich eine noch neoliberalere Politik betreiben als 2003, als
die PSOL im Folgejahr nach dem Ausschluss der Parlamentarier*innen gegründet
wurde, die sich weigerten, im sogenannten Linksblock unterzugehen und die
von der Bourgeoisie orchestrierten Regierungsmaßnahmen tatenlos hinzunehmen.
Heute ist Situation jedoch eine andere, denn Brasilien und auch die Welt
haben sich geändert, ebenso wie die sozialen Klassenverhältnisse.

 

Die extreme Rechte wurde nicht zerschlagen. Bolsonaro erhielt eine Menge
Stimmen und konnte im ersten Wahlgang einen Sprung nach vorne erzielen, etwa
eine starke parlamentarische Vertretung. Er hält wichtige Machtpositionen
(in der Armee, der Polizei und in den Regierungen der Bundesstaaten) mit
einer starken sozialen Basis. Als Bolsonaro 2018 aus dem Stand an die
Regierung gewählt wurde, war dies das Ergebnis der damaligen politischen
Krise, der Entschlossenheit von Teilen der Bourgeoisie, der PT einen Dämpfer
zu versetzen, und des weltweiten Aufwärtstrends der extremen Rechten. Die
neu gewählte Regierung war mitunter gezwungen, zu improvisieren und zeigte
sich sogar – am augenfälligsten in der Person ihres Führers Bolsonaro –
gelegentlich überfordert.

 

Natürlich waren diese Mängel von Anfang an bekannt, aber erst, nachdem die
Regierung gegen die Interessen von Teilen der Bourgeoisie verstoßen oder sie
in ihrer Inkompetenz nicht adäquat bedient hatte, gingen diese auf Distanz
zu Bolsonaro. Diese „neoliberalen progressiven Kreise“, wie sie von Nancy
Fraser genannt wurden – darunter /Rede Globo/ –, die sich nicht mit dem
Obskurantismus anfreunden, Wissenschaft und Kultur nicht verteufeln oder in
die Privatsphäre eindringen und die demokratischen Freiheiten liquidieren
wollen – auch wenn sie eine neoliberale Wirtschaftspolitik vertreten –,
haben den Weg für Bolsonaros Niederlage bereitet. Vorgemacht hatten es ihnen
Kreise des progressiven neoliberalen Bürgertums auf der ganzen Welt
gegenüber autoritären oder neofaschistischen Tendenzen –oder wie auch immer
man sie nennen will –, so wie bspw. Teile der US-amerikanischen Bourgeoisie
gegen Donald Trump Front gemacht haben. 

 

Trumps Niederlage ging dem Sturz Bolsonaros voraus und mutatis mutandis gibt
es viele Parallelen. Trumps Niederlage hat die internationale Unterstützung
für Bolsonaro untergraben. Dort wie hier war die Spaltung der Bourgeoisie
dafür ausschlaggebend, das neofaschistische Regime an den Wahlurnen zu
schlagen und dafür zu sorgen, dass das Wahlergebnis auch respektiert wird,
natürlich mit Einschüben von Chaos und Gewalt, wie vom Gros der Anhänger der
extremen Rechten nicht anders zu erwarten.

 

Angesichts der ausufernden Krise des Kapitalismus, die immer schwieriger zu
bewältigen ist, wurde Lula auch von diesem Flügel der Bourgeoisie dazu
erkoren, ihre Interessen zu vertreten. Und zwar weil die neoliberale
Bourgeoisie auch eine politische Krise erlebt. Es gibt heute in Brasilien
außer Lula keinen anderen Spitzenpolitiker, der zugleich die Bevölkerung
mobilisieren und die bürgerlichen Interessen verwalten kann. Die PSDB ist
eingebrochen und hängt am Tropf, und die MDB [beide traditionelle
rechtsbürgerliche Parteien] hat ihre Führungsrolle längst an den sogenannten
Centrão verloren. Dies ist der brasilianische Ausdruck dessen, was wir eine
„organische Krise“ nennen, wenn es einen Bruch zwischen den unmittelbaren
Interessen der Klasse und ihren direkten Vertretern gibt und sie auf hybride
oder außergewöhnliche Lösungsformen zurückgreifen muss.

 

Und dieser Rettungsanker ist natürlich die PT, die seit ihrer ersten
Amtsperiode unter Lula 2003 bereitwillig eine Regierungspolitik betreibt,
die die Interessen beider Klassen „versöhnen“ und mit Verve den Wiederaufbau
der Neuen Republik betreiben will. Die internationale „progressive
neoliberale Bourgeoisie“ sieht in Lula einen kompetenten Sachwalter einer
solchen Politik, wenn man die nahezu euphorischen Glückwünsche einzelner
Staatsoberhäupter an Lula für seinen Sieg über Bolsonaro betrachtet. Der
französische Präsident Emmanuel Macron war wenige Minuten nach der
Bestätigung des Wahlergebnisses einer der ersten, der Lula seine
Glückwünsche übermittelte. Er veröffentlichte sogar ein Video in den
sozialen Netzwerken, das diesen Vorgang zeigt. Der US-Präsident Joe Biden
gratulierte mit einem offiziellen Kommuniqué des Weißen Hauses und erklärte,
er sei auf die enge Zusammenarbeit mit Lula „gespannt“.

 

Lulas Sieg wird international anerkannt, und die Außenpolitik ist wegen der
internationalen Abkommen, des Schutzes der Amazonasregion und der
strategischen Rolle Lateinamerikas für die Weltwirtschaft ein zentraler
Punkt im Programm des gewählten Präsidenten. Daher sollte die internationale
Politik in der MES noch größere Beachtung finden, gerade in Hinblick auf die
Herausforderungen, mit denen die neue brasilianische Regierung konfrontiert
sein wird. Internationale Themen rücken wieder in den Vordergrund – wegen
der Rolle der extremen Rechten in der Welt, aber auch, weil die fünf
wirtschaftlich stärksten lateinamerikanischen Länder – Brasilien, Mexiko,
Argentinien, Kolumbien und Chile – von „progressiven“ Parteien regiert
werden. Im Gegensatz zur „progressiven“ Welle Anfang der 2000er Jahre ist
deren Programm weniger radikal und antiimperialistisch. Dies hängt mit der
autoritären Wende zusammen, die Venezuela nach Chávez genommen hat und deren
verkommenste Form Ortegas Diktatur in Nicaragua ist.

 

Die Massenmobilisierungen nach dem Ausgang der Wahlen in Brasilien zeigten,
wie erleichtert ein Teil der Bevölkerung feierte, befreit von dem Alptraum
des Bolsonarismus. Auf den Straßen waren Menschen, die durch die drohende
Wiederwahl der extremen Rechten wachgerüttelt worden waren und sich für die
Verteidigung der Rechte, der sozialen Gleichheit, der Umwelt, der Bildung
und gegen die Tiraden des Bolsonarismus, der für Barbarei steht, politisiert
und radikalisiert hatten. Die Stimmung im Land hat sich verändert und wir
wissen nicht, wie weit das gehen wird, aber es ist ein neues, viel
günstigeres Klima für unsere Ideen entstanden. Auf der anderen Seite hat die
PT-Feindlichkeit ihre Widerstandsfähigkeit gezeigt, aber bereits ohne die
notwendige Unterstützung für ein Putschvorhaben, da die Bourgeoisie, die auf
Lulas Seite steht, sich so aufgestellt hat, dass sie die Institutionen der
bürgerlichen Demokratie sehr wohl schützen kann.

 

Der Sieg der Demokratie ist zwei Seiten zuzurechnen. Die eine besteht aus
dem Flügel der bürgerlichen Sektoren, der sich eine Rückkehr zur
institutionellen Normalität wünscht und die extreme Rechte ablehnt. Die
andere sind die ausgebeuteten Schichten, bei denen Lula für bessere
Lebensbedingungen steht. Diese bürgerlichen Sektoren, die Parteien der Mitte
und der sogenannte „Centrão“, der den Institutionen verhaftet ist (er hat
den Sieg bereits anerkannt), werden ihre Stärke im Parlament dazu nutzen,
Privilegien und Posten zu erhalten. Die Bourgeoisie wird ihrerseits Druck
ausüben, damit die Regierung Lula die neoliberale Politik beibehält,
gemildert um einige unerlässliche Zugeständnisse im Bereich der Sozialhilfe.

 

Auf der anderen Seite steht eine politische Wahlallianz, die –
widersprüchlich, aber zwangsläufig – fortschrittliche soziale Forderungen
aufgestellt hat. Sie griff damit soziale Verbesserungen aus der Ära der
PT-Regierungen auf und ergänzte sie um konkrete Maßnahmen in der Lohn- und
Frauenpolitik, im Wohnungsbau und im Gesundheits- und Bildungswesen.
Außerdem plädierte sie für eine vorsichtige Steuerreform zur Besteuerung
großer Vermögen. Damit werden die Anliegen der Bevölkerung zum Ausdruck
gebracht.

 

Mit ihrem Amtsantritt wird die neue Regierung, vor dem Hintergrund einer
weltweiten Wirtschaftskrise, die auch das Land betrifft, auf zwei
gegensätzliche Lager treffen. Auf der einen Seite die extreme Rechte, die
trotz ihrer Wahlniederlage sehr stark ist und 14 Bundesstaatsregierungen und
eine starke Vertretung im Parlament stellt und die mit einflussreichen
Sektoren wie den Evangelikalen und der Agrarindustrie verbunden ist. Auf der
anderen Seite stehen die ausgebeuteten und unterdrückten Schichten, die auf
die Einhaltung von Lulas Wahlkampfversprechen drängen. In dieser Zwickmühle
wird die Regierung agieren müssen und zwar unter anderen Bedingungen als vor
20 Jahren, als die Weltwirtschaft ihnen noch in die Hände spielte. Der
Zusammenprall dieser Widersprüche ist unvermeidlich, bloß wissen wir noch
nicht, wie schnell er sich vollziehen wird und wie lange die Flitterwochen
dauern. Noch ist auch unklar, inwieweit die Regierung ihre Versprechen
einhalten und welche Wirtschaftspolitik sie verfolgen wird. Wir müssen noch
ein wenig abwarten, wie sich die Regierung zusammensetzt und welche ersten
Schritte sie unternimmt.

 

 

KOMPROMISSLOS GEGEN DIE EXTREME RECHTE

 

Bolsonaro dürfte zwar einen Rückzieher machen, aber nur vorübergehend. Und
der Bolsonarismus besteht weiter. Sein Führer zeigt zwar angesichts der
Umfrageergebnisse eine gewisse Hilflosigkeit, ist aber weit davon entfernt,
sich geschlagen zu geben. Er hat mehr Stimmen gewonnen als bei der letzten
Wahl, er hat die Unterstützung des reaktionärsten Flügels der Bourgeoisie
(einschließlich derer, die nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse die
Straßensperren im ganzen Land finanzierten) und er hat es geschafft, seine
politische Seilschaft in den Nationalkongress wählen zu lassen. Somit wird
die zentrale politische Aufgabe der MES/PSOL darin bestehen, die extreme
Rechte zu bekämpfen. Denn es gibt keine Möglichkeit, einen
antikapitalistischen Prozess voranzutreiben, ohne sich mit der extremen
Rechten auseinanderzusetzen.

 

Die extreme Rechte hat eine Massenbasis in einer Gesellschaftsschicht, die
die bürgerliche Demokratie ablehnt und offen für einen Staatsstreich bzw.
eine Militärdiktatur eintritt. In den letzten Tagen gab es einen Aufschwung
des eher putschistischen Sektors, der mit der Agrarlobby und dem harten Kern
der extremen Rechten verbunden ist. Er war bereits im September 2021
vorgeprescht und setzt auf die Zusammenarbeit mit Teilen des Staatsapparats,
insbesondere der Verkehrspolizei, ist aber weit davon entfernt, einen „Sturm
auf das Kapitol“ imitieren zu können. Ein anderer Sektor, unter Lira und
Ciro Nogueira, hat bereits damit begonnen, die Übergabe der
Regierungsgeschäfte zu verhandeln. Bolsonaro gab kurze Erklärungen ab und
verpflichtete sich, die Straßenblockaden zu beenden. Sein größtes Anliegen
besteht laut Berichten der Presse in Brasilia nunmehr darin, eine Einigung
mit der PL zu erzielen und den Druck aufrechtzuerhalten, um seine politische
Zukunft zu besseren Bedingungen auszuhandeln, auch um eine Gefängnisstrafe
zu vermeiden und mit seiner Seilschaft weiterhin die rechtsextreme
Opposition anzuführen.

 

 

DIE AUFGABEN DER PSOL

 

Im Kampf gegen den Neofaschismus und um eine Regierungsmehrheit für Lula zu
bringen, haben die Leitung und die Basis der PSOL den Unterschied
ausgemacht. Sie wandten sich offensiv gegen Bolsonaros neofaschistisches
Programm und unterstützten die sozialen Bewegungen, um die Interessen des
Volkes zu verteidigen. Das Wahlergebnis unterstrich die gewachsene Stärke
der PSOL und ihre Rolle als Avantgarde im Kampf gegen den Bolsonarismus,
auch wenn sie nicht stark genug ist, um eine Machtalternative darzustellen.

 

Innerhalb der PSOL wird es natürlich eine Diskussion über die neue Regierung
geben. Unsere Position wird sein, die Unabhängigkeit der Partei von der
Regierung zu wahren und diese zwar gegen die extreme Rechte und deren
konterrevolutionäre Methoden zu verteidigen, aber nicht an ihr teilzunehmen.

 

Um unsere Aufgaben vor Bildung der neuen Regierung zu verdeutlichen, wollen
wir daran erinnern, unter welchen Umständen die PSOL gegründet wurde und
worin die Unterschiede zur heutigen Zeit bestehen. Ein besonderes Augenmerk
gilt dabei den Widersprüchen, den programmatischen Defiziten der PSOL und
ihren kommenden Aufgaben.

 

2003 ging es in erster Linie darum, nach der Frustration über Lulas
schnellen Rechtsruck, der in der Abstimmung über die Reform der
Sozialversicherung unverhüllt zum Vorschein kam, eine antikapitalistische
Alternative aufzubauen. Sich also abzugrenzen von der Regierungspolitik, um
eine Alternative links von der PT und den sonstigen Parteien zu schaffen,
die Bestand hat und einen gewissen Einfluss unter den Massen erringen kann.
Heute geht es darum, die vorrangigen Bedürfnisse der brasilianischen
Gesellschaft aufzugreifen, indem man die extreme Rechte bekämpft und einen
Anziehungspol mit einer antikapitalistischen Perspektive aufbaut, der für
die Veränderung der Kräfteverhältnisse und die Umsetzung der eigenen Ziele
kämpft.

 

Insofern muss man sich für die grundlegenden und strukturellen Forderungen,
die das Land braucht, stark machen. Ein Eintritt in die Regierung würde
jedoch bedeuten, dass die PSOL die Rolle des Verwalters der
Kapitalinteressen akzeptiert. Es handelt sich also um eine prinzipielle
Position. Außerdem lässt es sich am besten kämpfen, wenn man in der
Bevölkerung verankert ist und nicht im Staatsapparat der Regierung. Wir
müssen unbedingt unsere Freiheit der Kritik und unsere organisatorische
Unabhängigkeit bewahren, aber auch unsere politische Freiheit, die durch die
Fraktionsdisziplin bei Einbindung in die Regierung eingeschränkt würde.

 

Die PSOL ist lebendig und bei den Wahlen stark gewachsen. Sie wird von der
breiten Avantgarde, die zuletzt auf der Straße aktiv war, sehr geschätzt und
hat unter den sozialen Schichten, die für Lula gestimmt haben, an Respekt
und Prestige gewonnen. In dieser Situation kann die MES Mitglieder
rekrutieren und sich weiter aufbauen. Unsere politische Aufgabe ist es, von
der Regierung Lula die Umsetzung ihrer Wahlversprechungen zu fordern, um
dadurch seine Position gegen die extreme Rechte zu stärken und die
dringendsten Probleme der Armen im Land zu lösen. Ohne Regierungseintritt
und ohne Ultimatum. Wir müssen beide Extreme vermeiden, wenn wir diese
Punkte einfordern.

 

Zugleich müssen wir uns mit denen politisch auseinandersetzen, die das
Regime satt haben und daher dem Bolsonarismus den Boden bereitet haben. Die
Verteidigung der Institutionen muss Sache der Regierung sein. Um uns als
revolutionäre Linke aufzubauen, setzen wir bei der Verteidigung der
Bedürfnisse des Volkes hingegen auf den subversiven Diskurs. Dabei geht es
nicht darum, etwa Straßenblockaden in Bausch und Bogen zu verurteilen. Wir
lehnen diese Mobilisierungen wegen ihrer putschistischen Ziele ab, wegen
ihrer Weigerung, den Wählerwillen der Mehrheit des Volkes zu akzeptieren,
und wegen ihres Eintretens für eine Militärintervention.

 

Unsere Aufgabe wird es sein, die Schichten politisch zu gewinnen, die auf
die Straße gehen, die die extreme Rechte verurteilen und ihre Hoffnung auf
ein besseres Leben setzen. Davon gibt es Millionen unter den Jugendlichen
und Frauen, der Arbeiterklasse, den Schwarzen, der Amazonasbevölkerung und
den Indigenen, Kleinhändlern, Freiberuflern, der LGBTQIA+-Gemeinschaft,
Staatsbediensteten und dem ehrlichen Teil der Bevölkerung.

 

Wir müssen auch versuchen, mit den Sektoren ins Gespräch zu kommen, in denen
der Bolsonarismus hinzugewonnen hat, wie bei den einfachen und unteren
Diensträngen der Sicherheitskräfte, der Militär- und Zivilpolizei, den
Streitkräften, der Feuerwehr, den privaten Wachleuten; den rückständigsten
Teilen der Arbeiterklasse in den Industriezentren des Landes; den
Beschäftigten in der Plattformwirtschaft und perspektivisch auch den
Fernfahrern. Dabei sei darauf verwiesen, dass Luciana Genro in Rio Grande do
Sul die Abgeordnete war, die unter den Mannschaftsrängen der Militärpolizei
die meisten Stimmen erhalten hat, weil sie sie im Streit um ihre Beförderung
und bei der Aufdeckung von Missbrauchsskandalen durch die Vorgesetzten
unterstützt hat, und dass Glauber Braga in Rio de Janeiro von den
Unteroffizieren der Armee breit gewählt wurde. Dies gehört auch dazu, wenn
man Bolsonaro daran hindern will, seine Basis in der einfachen Bevölkerung
zu festigen.

 

Unser Ziel ist, die MES zu stärken und eine Diskussion mit der gesamten PSOL
zu führen, um eine grundlegende Alternative für das Land zu schaffen. Wir
werden an vorderster Front dafür kämpfen, die von den Wähler*innen
gewünschten wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen umzusetzen. Die PSOL
muss an vorderster Front für bessere Löhne, Vollbeschäftigung, Wohnraum und
Land stehen. Ein zentraler Punkt der Wirtschaftspolitik, den die neoliberale
Bourgeoisie von Lula einfordert und den die Regierung voraussichtlich
umsetzen wird, ist die Steuerreform, was den Spielraum für soziale Maßnahmen
einengt, wenn nicht gar unmöglich macht. Auch andere Wahlversprechen laufen
dem bürgerlichen Interesse zuwider, nicht für die Überwindung der Krise
zahlen zu wollen. Dies ist ein Grund mehr, für solche Maßnahmen zu kämpfen,
die das Leben der Bevölkerung verbessern können, und ein Grund mehr, dafür
einzutreten, dass die kämpferischen Organisationen der Arbeiterklasse
gestärkt werden. Wir treten daher für folgende Maßnahmen ein:

 

1) Automatische Anpassung des Mindestlohns an die Inflation.

 

2) Nothilfe in Höhe von 600 Reais plus 150 Reais pro Kind bis zu 6 Jahren,
die mindestens einmal pro Jahr an die Inflation angepasst wird.

 

3) Befreiung von der Einkommenssteuer für diejenigen, die unter 5000 Reais
verdienen.

 

4) Neuverhandlung der Schulden von Personen, die in der SERASA (Zentraldatei
für notleidende Kreditnehmer) verzeichnet sind, und Erlass der Zahlungen für
arme Familien und Familien aus der Mittelschicht.

 

5) Besteuerung von großen Vermögen und von Profiten und Dividenden.

 

6) Schluss mit der Deckelung der Staatsausgaben.

 

7) Gleicher Lohn für Männer und Frauen für gleiche Arbeit unter wirksamer
Kontrolle.

 

8) Kampf gegen Korruption, effektive Maßnahmen zur Untersuchung und
Bestrafung von Korruption, Stärkung von Institutionen mit Kontrollfunktion,
wie der Bundespolizei, und breite Transparenz, insbesondere indem die von
Bolsonaro dekretierte 100-jährige Geheimhaltung staatlicher Dokumente
aufgehoben wird.

 

9) Rücknahme der Arbeitsreform, die prekärere Beschäftigungsverhältnisse
geschaffen und Rechte abgeschafft hat.

 

10) Stärkung der öffentlichen Universitäten und Maßnahmen, um
einkommensschwachen Studierenden den Zugang und den Verbleib zu ermöglichen.

 

11) Wiederaufbau des IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und
erneuerbare natürliche Ressourcen) und des ICMBio (Chico-Mendes-Institut für
die Erhaltung der Biodiversität) und Wiederaufnahme der Maßnahmen gegen die
Rodung des Amazonasgebiets.

 

12) Wiederaufbau der FUNAI (Schutzbehörde für die indigene Bevölkerung) und
Wiederaufnahme der Maßnahmen gegen den Bergbau auf indigenem Land im
Allgemeinen und bei den Yanomami im Besonderen.

 

 

Daneben treten wir – auch wenn das nicht zu Lulas Wahlversprechungen gehört
– für eine Maßnahme ein, die verhindern soll, dass das Land weiterhin von
Bankern und Spekulanten beherrscht wird: nämlich ein Audit der
Staatsschulden, damit die Gesellschaft weiß, welche Schulden legitim und
welche illegitim sind, für deren Begleichung die Bevölkerung bluten muss zum
Wohle einer winzigen privilegierten Minderheit. Gemeinsam mit dem CADTM kann
diese Forderung untermauert werden.

 

Auch demokratische Maßnahmen müssen weit vorn auf unserer Agenda stehen. Die
Wiederherstellung der Demokratie durch die verhinderte Wiederwahl Bolsonaros
muss durch geeignete Maßnahmen gefestigt werden. Zuvörderst die Aufhebung
der 100-jährigen Geheimhaltungspflicht und die Aufarbeitung der Verbrechen,
die von der Regierung, genauer gesagt vom Präsidenten selbst, begangen
wurden. Die angemessenste Sanktion wäre natürlich die Verhaftung von Jair
Bolsonaro. „Weder Vergessen noch Verzeihen“ lautet unsere Devise und wir
machen uns stark für die Aufarbeitung und Bestrafung der Verbrechen von
Bolsonaro und anderen Kriminellen. Die Straffreiheit für die Verbrechen der
Diktatur war mitverantwortlich für das Entstehen und den Aufschwung der von
Bolsonaro repräsentierten politischen Strömung, die Folterer, Staatsstreiche
und politische Gewalt verteidigt. Daher keine Straflosigkeit!

 

Die vor uns liegenden Herausforderungen sind enorm. Die Kaderbildung und die
Verankerung in Jugend- und Arbeiterorganisationen und sozialen Bewegungen
sind grundlegend, um den Gemeinschaftswillen und die Bewusstseinsbildung zu
fördern und Selbstverteidigungsaktionen vorzubereiten. 

 

Wir treten dafür ein, dass die PSOL unmittelbar eine Kampagne zur Bestrafung
aller Verantwortlichen für die Straßenblockade sowie der sogenannten
Putschisten startet, egal ob sie zur Finanzierung oder zur Durchführung
dieser demokratiefeindlichen Handlungen beigetragen haben. Teil dieser
Kampagne muss natürlich auch sein, die versuchte Wahlbeeinflussung in den
Betrieben für den zweiten Wahlgang aufzuarbeiten und zu bestrafen, was laut
Arbeitsgerichte in über zweitausend Fällen angezeigt wurde.

 

Die PSOL steht vor neuen historischen Herausforderungen. Wir vertrauen auf
das brasilianische Volk, das gerade einen „schweren“ Sieg errungen hat, wie
bei so vielen Kämpfen unseres Volkes. Mit dieser Kraft im Rücken treten wir
weiterhin für unsere antikapitalistische Agenda ein, indem wir eine
unabhängige Alternative aufbauen, die dafür kämpft, die Neofaschisten zu
zerschlagen und Bolsonaro dorthin zu bringen, wo er hingehört: auf den
Müllhaufen der Geschichte, indem er Gerechtigkeit für seine Vergehen als
Völkermörder erfährt.

 

 

 

 

*Israel Dutra* ist Mitglied des Exekutivkomitees der MES (Bewegung der
Sozialistischen Linken), einer Strömung in der PSOL.

/Übersetzung: MiWe/

 

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Aus:   die internationale Nr. 1/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

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Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

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