[IPK] Gewerkschaften/Großbritannien: Streikwelle in Großbritannien weitet sich aus

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Do Mär 23 10:49:15 CET 2023


Gewerkschaften/Großbritannien:

Streikwelle in Großbritannien weitet sich aus
Online unter: https://www.inprekorr.de/616-gew-brit.htm

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Am 1. Februar traten rund eine halbe Million Arbeiter*innen in ganz
Großbritannien in den Ausstand – die größte Streikwelle seit über einem
Jahrzehnt. 

 

 

Von Terry Conway

 

 

An diesem Tag legten die Menschen nicht nur ihre Arbeit nieder und bildeten
Streikposten an ihrem Arbeitsplatz, sondern nahmen in vielen Fällen auch an
lautstarken Demonstrationen und Kundgebungen in den Stadtzentren teil. Die
Aktionen verfolgten zwei Ziele – zum einen das weitere Eintreten für bessere
Löhne und Arbeitsbedingungen und zum anderen die Entwicklung von Widerstand
gegen die noch drakonischeren gewerkschaftsfeindlichen Gesetze, die die
britische Tory-Regierung im Parlament durchsetzen will. 

 

Sechs Gewerkschaften sind am 1. Februar in Aktion getreten. Die Gewerkschaft
des öffentlichen Dienstes (PCS) war die erste und rief ihre mehr als 100 000
Mitglieder in 124 zentralen und dezentralen Regierungsbehörden zum Streik
auf. Die Beschäftigten in vielen dieser Dienststellen hatten zuvor bei einer
Briefwahl das absurd hohe Quorum der reaktionären gewerkschaftsfeindlichen
Gesetze für einen Streikaufruf erreicht. [Mehr als die Hälfte der
Beschäftigten müssen sich an der Abstimmung beteiligt haben, in „sensiblen“
Bereichen wie Gesundheit, Schulbildung, Feuerwehr, Verkehr, Stilllegung von
Kernkraftwerken, Grenzkontrollen usw. müssen 40 % der Beschäftigten für den
Streik gestimmt haben. Anm. d. Übers]. Die PCS-Mitglieder in diesen
Abteilungen befinden sich seit Ende Dezember in rollierender Aktion. In
anderen Abteilungen, in denen die Beschäftigten zwar für einen Streik
gestimmt hatten, aber den Schwellenwert der Wahlbeteiligung nur knapp
verfehlten hatten, führt die Gewerkschaft eine erneute Urabstimmung durch. 

 

Die University and College Union (UCU, Gewerkschaft der Lehrkräfte an
weiterführenden und höheren Bildungseinrichtungen) rief an diesem Tag 70 000
Mitglieder im Universitätssektor zum Streik auf, dies als Teil der 18
Aktionstage, die in den nächsten zwei Monaten stattfinden sollen, nachdem
die jüngsten Gespräche mit den 150 „Arbeitgebern“ zu keinem Angebot geführt
haben, das die in den letzten 12 Jahren der Tory-Regierung vorgenommenen
Lohnkürzungen in irgendeiner Weise wieder ausgleichen könnte. Die zunehmende
Prekarisierung des Sektors ist ein weiterer Grund für die Kampfbereitschaft.
(Die UCU-Mitglieder in den Colleges in England und Wales wurden am 1.
Februar nicht zum Streik aufgerufen, obwohl sie sich in einem Lohnstreit
befinden. In mindestens einem College, wahrscheinlich sogar in mehreren,
haben sie kurze Solidaritätsaktionen durchgeführt. Die schottischen
College-Lehrer*innen der Gewerkschaft EIS haben in den letzten Jahren
erbitterte, aber erfolgreiche Streiks geführt und ihre Mitglieder an den
Schulen und Universitäten, die in den aktuellen Auseinandersetzungen
engagiert sind, logistisch unterstützt.) In einigen Universitäten kämpfen
die UCU-Mitglieder auch gegen die Kürzung ihrer Rentenansprüche.

 

Die Lokführergewerkschaft ASLEF ist am 1. Februar mit der Mehrheit ihrer 21
000 Mitglieder, die in mehr als einem Dutzend Bahnunternehmen beschäftigt
sind, in den Streik getreten. Die ASLEF wird weitere Aktionen durchführen,
nachdem es ihr nicht gelungen ist, mit den Bossen eine Einigung über Löhne
und Arbeitsbedingungen zu erzielen. Die Verkehrsgewerkschaft RMT hat am 1.
Februar ebenfalls ihre Lokführer [aber nicht die anderen
Beschäftigtengruppen] zum Streik aufgerufen und am anderen Tag streikt die
ASLEF. Dies scheint eine verpasste Gelegenheit für die RMT zu sein, die in
vielerlei Hinsicht das Rückgrat der Streikbewegung seit letztem Sommer war,
da die Mehrheit ihrer Mitglieder keine Lokführer sind, sondern andere
Aufgaben wahrnehmen. Die RMT führt derzeit eine Urabstimmung unter ihren
Mitgliedern über ein neues Angebot durch, wobei erwartet wird, dass es
abgelehnt wird. 

 

Für diese Verkehrsgewerkschaften – und ihre Fahrgäste – geht es in diesen
Auseinandersetzungen, bei denen die RMT seit neun Monaten Streikaktionen
durchführt, auch um erhebliche Arbeitsplatzverluste. Das Vorhaben, viele
Züge nur noch mit Fahrern zu besetzen, hat enorme Auswirkungen auf die
Sicherheit und wird außerdem den Zugang zu den Zügen für Menschen mit
Behinderung weiter erschweren, von denen viele auf Hilfe angewiesen sind, um
in die Züge ein- und auszusteigen.

 

Die andere Gewerkschaft, die am 1. Februar in England und Wales in einen
größeren Streik getreten ist, ist die NEU, die wichtigste Lehrergewerkschaft
in diesen beiden Ländern. Sie fordert eine gerechte und den Lebensstandard
sichernde Lohnerhöhung. Die NEU gab das Ergebnis ihrer Urabstimmung am 16.
Januar bekannt. In Wales konnten sie ein ausreichend hohes Ergebnis
erzielen, um alle ihre Mitglieder zur Teilnahme zu bewegen, aber in England
streikten nur die Lehrkräfte, da der Anteil der Ja-Simmen des übrigen
Schulpersonals nicht hoch genug war. Die zweitgrößte Lehrergewerkschaft in
England und Wales, die NASUWT, hatte mit überwältigender Mehrheit für
Streiks gestimmt, erreichte aber nicht die erforderliche Wahlbeteiligung.
Einige NASUWT-Mitglieder sind der NEU beigetreten, um zu streiken. Seit der
Bekanntgabe der Urabstimmungsergebnisse und des Streikplans hat die NEU über
40 000 neue Mitglieder gewonnen.

 

Das Schulwesen in Schottland ist von dem in England und Wales getrennt und
die dortige Lehrergewerkschaft EIS verfolgt ein anderes Programm an
Arbeitskämpfen mit einem eintägigen landesweiten Streik im Januar, gefolgt
von einem rollierenden Programm eintägiger Aktionen im Januar und Februar,
die jeweils zwei Landkreise betreffen. Darauf folgen zwei ganztägige Streiks
in ganz Schottland am 28. Februar und 1. März. Der Kampf richtet sich gegen
die Kommunalverwaltungen und die schottische Regierung der Scottish National
Party (SNP), die von den Grünen unterstützt wird. Die EIS ist die größte
Gewerkschaft in den schottischen Schulen, insbesondere in den Grundschulen.
Aber auch drei kleinere Lehrergewerkschaften haben für Streiks gestimmt. Die
Streikpostenketten an den Schulen und die Teilnahme an örtlichen
Kundgebungen haben während des Streiks erheblich zugenommen, und die
überwiegend weiblichen Mitglieder der EIS werden immer kämpferischer – eine
vollständige zweitägige Schließung der schottischen Schulen ist sehr
wahrscheinlich.

 

Trotz der Tatsache, dass die Mainstream-Medien, sehr oft gemeinsam mit der
britischen Regierung, die Streikenden über Monate hinweg angegriffen und
verzweifelt versucht haben, vermeintlich „gewöhnliche Mitglieder der
Öffentlichkeit“ zu finden, die gegen sie wettern, erfreuen sich die Streiks
weiterhin großer Beliebtheit. 

 

Es gibt viele Berichte über Eltern und Schüler, die sich an Streikposten vor
Schulen beteiligen, um die dort Beschäftigten zu unterstützen. Studierende,
die den Streik der UCU unterstützen, schlossen sich ebenfalls Streikposten
und Demonstrationen an den Universitäten in ganz Großbritannien an und
studentische Solidaritätsgruppen werden zunehmend zu einem Bestandteil des
Universitätslebens und beginnen, die bisher noch kaum wahrgenommenen
steigenden Lebenshaltungskosten auch für eine Million Studierende zu
thematisieren. 

 

Die Demonstrationen am 1. Februar wurden mit Hupkonzerten von Bussen und
Autos begrüßt und die Menschen kamen jubelnd und klatschend von ihren
Arbeitsplätzen und aus ihren Wohnungen. Immer mehr Menschen aus der
Arbeiter*innenklasse erkennen, dass die Krise der Lebenshaltungskosten ein
Angriff auf uns alle ist, auf Erwerbstätige und Nicht-Erwerbstätige quer
durch alle Altersgruppen.

 

Die Berichte über die Beteiligung an den Demonstrationen waren
beeindruckend. 40 000 in London, 9000 in Oxford, 7000 in Bristol, 1000 in
Cardiff, 500 in Swansea, 2000 in Leeds, 4000 in Manchester, 1000 in Glasgow,
700 in Nottingham bei der Kundgebung im Saal und viele weitere bei
Demonstrationszügen auf den Straßen sowie in kleinerer Zahl in anderen
Orten. Von vielen anderen Protesten wird berichtet, dass Tausende auf der
Straße waren.

 

Genauso wichtig wie die Zahl der Teilnehmenden war die Stimmung – die
Überzeugung, dass die Lohnforderungen der Gewerkschaften völlig
gerechtfertigt sind und dass die Öffentlichen Dienste, für die die
Beschäftigten sorgen, ebenso wie ihre Löhne durch mehr als ein Jahrzehnt der
Sparmaßnahmen zusammengeschrumpft wurden. Die Menschen sind sich darüber im
Klaren, dass das „Minimum Service Bill“ – so der offizielle Name des
gewerkschaftsfeindlichen Gesetzentwurfs – ein schlechter Scherz ist in einem
Land, in dem Unterbesetzung und Überlastung dazu führen, dass die
Dienstleistungen, insbesondere im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS),
zusammenbrechen und die bestehenden Gesetze so drakonisch sind. Die
Gewerkschaften im Vereinigten Königreich sind mit sehr restriktiven Gesetzen
konfrontiert, die Streiks behindern: Sie müssen per Brief (also nicht
elektronisch) Abstimmungen durchführen, eine hohe Wahlbeteiligung ist
erforderlich, Kampfmaßnahmen können sich nur gegen einzelne „Arbeitgeber“
richten – also nicht gegen die jeweilige Kontrollinstanz wie die Regierung –
und Streiks müssen 14 Tage im Voraus angekündigt werden. Eine Missachtung
führt immer wieder dazu, dass Gerichte Gewerkschaftsgelder beschlagnahmen
und Funktionäre und Mitglieder strafrechtlich verfolgen.

 

Die Mainstream-Medien in Großbritannien machen viel Aufhebens um die
Tatsache, dass 2011 mehr als doppelt so viele Arbeiter*innen gegen Angriffe
auf die Renten im Öffentlichen Sektor gestreikt haben. Aber die Situationen
sind nicht vergleichbar. Die meisten Arbeiter*innen wussten damals, dass die
Aktion im Jahr 2011 nicht mehr als ein symbolischer Protest war. Der 1.
Februar ist für einige Gewerkschaften Teil einer sieben Monate andauernden
Aktionswelle, die möglicherweise immer noch nicht ihren Höhepunkt erreicht
hat.

 

In Schottland und Wales haben die Regierungen der SNP (Schottische National
Partei mit Unterstützung der Grünen) und – in Wales – der Labour-Partei (mit
Unterstützung von Plaid Cymru) versucht, bessere Lohnangebote zu machen als
die britische Tory-Regierung, so dass einige Streiks in einem oder in diesen
beiden Ländern vermieden werden konnten. Formal stehen alle vier dieser
mehrheitlich sozialdemokratisch geprägten Parteien gewerkschaftlichen
Forderungen und dem Streikrecht positiv gegenüber. Sie verfügen jedoch nicht
über die rechtlichen oder finanziellen Mittel der britischen
Zentralregierung, die sozialdemokratischen Parteien sind in den Zwängen der
britischen Dezentralisierung gefangen. Wenn es ihnen nicht gelingt, sich von
diesem Zwang zu befreien, werden sie letztlich eher Teil des Problems als
dessen Lösung sein. 

 

 

BEVORSTEHENDE AKTIONEN

 

Zwar streikten am 1. Februar sechs Gewerkschaften, doch sind damit noch
nicht alle Gewerkschaften erfasst, die sich derzeit im Arbeitskampf
befinden. An diesem Tag war keine Gewerkschaft des Gesundheitswesens im
Streik, aber die vier wichtigsten Gewerkschaften werden in England zwischen
dem 6. und 10. Februar in den Ausstand treten. Die Gewerkschaft der
Krankenpfleger*innen, das Royal College of Nursing (RCN), wird am 6. und 7.
Februar streiken. Während des größten Teils seiner hundertjährigen
Geschichte waren für das RCN Streiks ein Tabuthema, so dass die aktuelle
Aktion eine bedeutende Veränderung darstellt. Beschäftigte des
Rettungsdienstes der Gewerkschaften GMB und Unite werden ebenfalls am 6.
Februar in England streiken, während die dritte Gewerkschaft, Unison, ihre
Beschäftigten des Rettungsdienstes am 10. Februar in England zum Streik
aufruft. Die Chartered Society of Physiotherapy wird am 9. Februar streiken.
Es gibt also nur einen Tag in dieser Woche, an dem kein Gesundheitspersonal
streiken wird. Die Assistenzärzte in England, die der Gewerkschaft BMA
angehören, führen ebenfalls eine Urabstimmung über Streiks für höhere
Gehälter durch und diese könnten im März folgen. In Wales hat die GMB ihre
Aktionen ausgesetzt, um ihren Mitgliedern ein neues Angebot der walisischen
Regierung vorzulegen.

 

Zwei weitere Gruppen sollten erwähnt werden. Die Postangestellten der
Gewerkschaft Communication Workers Union (CWU) streikten in der
Vorweihnachtszeit 18 Tage lang für höhere Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen. Es gab zwei getrennte Urabstimmungen – niemand, mit dem
ich gesprochen habe, versteht warum – im Abstand von wenigen Wochen. Nach
den geltenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen lief ihr Mandat für Streiks
für höhere Löhne aus, und sie mussten die Urabstimmung wiederholen. Bei der
ersten Abstimmung ging es um die Löhne, bei der zweiten um die
Arbeitsbedingungen, bei denen die Geschäftsleitung im Allgemeinen versucht,
die Produktivität zu steigern, die Fahrer zu zwingen, sich selbständig zu
machen, und die Royal Mail in ein Paketzustellunternehmen à la Amazon zu
verwandeln.

 

Nach den geltenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen lief ihr Mandat für
einen Lohnkampf aus, und sie mussten eine neue Urabstimmung durchführen.
Leider werden die Ergebnisse der Urabstimmung nicht vor dem 16. Februar
erwartet, und die 14-tägige Ankündigungsfrist für einen Streik bedeutet,
dass Streiks zu diesem Thema erst Anfang März wieder aufgenommen werden
können. In der Zwischenzeit haben sie für den 16. Februar einen Streik zu
den Arbeitsbedingungen angekündigt, da die Geschäftsführung einseitig
Änderungen durchsetzt. 

 

Die Feuerwehrgewerkschaft FBU gab am 30. Januar das Ergebnis ihrer
Urabstimmung [im gesamten Vereinigten Königreich] über einen Arbeitskampf
bekannt, bei der sich bei einer Wahlbeteiligung von 73 % hervorragende 88 %
für den Arbeitskampf ausgesprochen haben. Die FBU hat den Behörden und der
Regierung eine Frist von 10 Tagen bis zum 9. Februar gesetzt, um ihren
Mitgliedern ein verbessertes Angebot zu unterbreiten. Die FBU ist mit
weniger als 35 000 Mitgliedern relativ klein, befindet sich aber in einer
strategisch sehr wichtigen Position.

 

Für alle Gewerkschaften, die am 1. Februar auf die Straße gegangen sind, war
dieser Tag nur einer von mehreren, die je nach Gewerkschaft oder Branche
unterschiedlich verlaufen. Es wird über einen weiteren koordinierten
Aktionstag vielleicht Anfang März diskutiert – und diejenigen von uns, die
sich besonders in der Kampagne gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze
engagieren, fordern eine nationale Demonstration gegen das neue Gesetz. Auf
jeden Fall ist die Stimmung nach dem 1. Februar zweifellos besser als
vorher. Mehr als eine Million Beschäftigte sind derzeit von ihrer
Gewerkschaft zum Streik aufgerufen, aber der 1. Februar war der erste
koordinierte Tag in ganz Großbritannien – viele erwarten für die Zukunft ein
höheres Maß an Koordination.

 

 

SIND DIE GEWERKSCHAFTEN IN GROSSBRITANNIEN DER ANSTEHENDEN AUFGABE
GEWACHSEN? 

 

Die Geschichte, die Struktur und die Traditionen der gewerkschaftlichen
Organisation sind in jedem Land anders. Eine Besonderheit in Großbritannien
liegt darin, dass es einen gemeinsamen Gewerkschaftsverband, den Trade Union
Congress (TUC), gibt, dem fast alle Gewerkschaften angeschlossen sind,
insgesamt sind es 98. Es gibt aber auch Ausnahmen. Das RCN ist nicht dem
britischen TUC angeschlossen – und war ursprünglich eher ein Berufsverband
als eine Gewerkschaft. Auf der anderen Seite gibt es kleinere Gewerkschaften
– die Industrial Workers of the World UK, die Independent Workers Union of
Great Britain und United Voices of the World, die sich als demokratischer
als die traditionellen Gewerkschaften verstehen und sich oft an die sich
überschneidenden Gruppen der prekär Beschäftigten mit Arbeitsverträgen über
null Stunden und der Wanderarbeiter wenden und ebenfalls unabhängig vom TUC
sind. In Schottland gibt es seit über einem Jahrhundert ein unabhängiges
Zentrum für gewerkschaftliche Organisation – den STUC –, aber die
Mitgliedschaft überschneidet sich weitgehend mit der des TUC, es gibt eine
gegenseitige Anerkennung und der STUC fungiert weitgehend als die
einheitliche Gewerkschaftsorganisation in diesem Land.

 

Unter den dem TUC angeschlossenen Gewerkschaften gibt es erhebliche
Unterschiede. Einige sind Industriegewerkschaften, die in einem einzigen
Wirtschaftszweig organisiert sind, während andere allgemeine Gewerkschaften
sind, die in vielen Bereichen Mitglieder aufnehmen. Viele Gewerkschaften
gibt es im gesamten Vereinigten Königreich, also einschließlich Nordirlands,
während einige auch in der Republik Irland Mitglieder aufnehmen. EIS, die
Lehrer*innengewerkschaft, die nur in Schottland aktiv ist, wurde bereits
erwähnt und es gibt auch eine kleine Bildungsgewerkschaft, die nur in Wales
tätig ist. Seltsamerweise unterstützt die Artists Union of England nur in
England lebende Künstler*innen. 

 

Traditionell waren die meisten Industriegewerkschaften der Labour Party
angeschlossen, während die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes seltener
Mitglied waren. Die Mitgliedschaft ermöglicht es den Gewerkschaften, formell
an der Politikgestaltung der Labour Party mitzuwirken. Sie hat es aber auch
vielen Gewerkschaftsführer*innen ermöglicht, sich gegen Streiks
auszusprechen, nach dem Motto: „Wir wollen keine Unruhe stiften“. Diese
Rücksichtnahme kommt nicht nur zum Zug, wenn die Labour-Partei an der
Regierung ist, sondern auch im Vorfeld von Parlamentswahlen, wenn es darum
geht, die Tories von der Regierung fern zu halten, was das Wichtigste –
manchmal sogar das Einzige – ist, wofür diese Gewerkschaftsführungen aktiv
sind. Da der Dachverband TUC die gleiche Grundausrichtung verfolgt, wirken
sich solche Argumente auch auf Gewerkschaften aus, die nicht Mitglied der
Labour Party sind. 

 

Das Niveau der betrieblichen Organisation ist sehr unterschiedlich. Vor der
historischen Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1984–85 gab es eine
starke Zunahme und Koordinierung von Vertrauensleuten – gewählte
Vertreter*innen in den Betrieben und auch betriebsübergreifend unter den
Arbeiter*innen der gleichen Berufsgruppe. Diese Aktivist*innen fungierten
als Sprachrohr der Mitglieder in Auseinandersetzungen mit der
Unternehmensleitung, aber auch als Transmissionsriemen für gewerkschaftliche
Botschaften an die Mitglieder, gleichzeitig aber auch als Widerpart zu
Konzepten der Sozialpartnerschaft, wenn hauptamtliche Gewerkschafter*innen
versuchten, diese zu verbreiten. 

 

Nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks und anderer wichtiger Streiks
wurde diese Ebene gewerkschaftlicher Aktivist*innen jedoch durch
gewerkschaftliche und politische Niederlagen (einschließlich massiver
Entlassungen und Schließungen in der gesamten Industrie) nachhaltig
geschwächt. Auch im expandierenden öffentlichen und Dienstleistungssektor
war es nicht möglich, in nennenswertem Umfang neue, jüngere Aktivist*innen
gewerkschaftlich zu organisieren, da die überwältigende Mehrheit der
Gewerkschaftsführungen entweder die Sozialpartnerschaft oder ein
„Dienstleistungs“-Modell – Beitritt zur Gewerkschaft, um billigere
Versicherungen usw. zu erhalten – oder eine Kombination von beiden vertrat.

 

Der Rechtsruck war nicht universell, aber kleinere und aktivere
Gewerkschaften wie die RMT und die FBU waren nicht in der Lage, das
allgemeine Kräfteverhältnis zu verschieben. Die Zahl der durch Streiks
verlorenen Arbeitstage sank auf einen historischen Tiefstand – ebenso wie
die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, insbesondere im privaten Sektor. Der
Anteil der Beschäftigten im Vereinigten Königreich, die Mitglied einer
Gewerkschaft sind, sank auf 23,1 % im Jahr 2021. Dies ist der niedrigste
Prozentsatz an Gewerkschaftsmitgliedern unter den britischen Arbeiter*innen,
für den uns entsprechende Daten vorliegen. Im Jahr 1979 zählte der TUC 13
Millionen Mitglieder, im Jahr 2022 nur noch 5,5 Millionen.

 

Die Streiks der letzten sieben Monate haben begonnen, die Situation
umzukehren – es wurden mehr Gewerkschaftsmitglieder gewonnen, es wurden mehr
Aktivist*innen motiviert und vielen Menschen wurde zum ersten Mal ein
gewisser Eindruck ihrer kollektiven Macht vermittelt. Die Tatsache, dass die
britische Tory-Regierung – die oft direkt oder indirekt für das Lohnniveau
verantwortlich ist – gleichzeitig so unnachgiebig und so verhasst ist, hat
Auswirkungen auf die Dynamik der Ereignisse. Während einige Bosse in der
Privatwirtschaft ohne Streik oder nach relativ kurzen Auseinandersetzungen
sich auf Lohnabschlüsse im zweistelligen Bereich einließen, gibt es bei den
großen Streiks im Öffentlichen Dienst bisher kein Anzeichen für Bewegung. 

 

Dies hat zur Folge, dass trotz der Tatsache, dass die Labour-Partei in den
Meinungsumfragen im Vereinigten Königreich meilenweit vor den regierenden
Tories liegt, jeder Versuch der Beruhigung nach dem Motto „Treibt es nicht
zu wild“ keine nennenswerte Wirkung auf die Kampfbereitschaft hat.
Gleichzeitig entwickelt sich langsam eine breitere soziale Bewegung, die
sich mit den Streiks solidarisiert, wobei sie sich häufig von den
Unterstützungsgruppen der Bergarbeiter inspirieren lässt, die es 1984/85 gab
(und die in dem bekannten Film „Pride“ dargestellt wurden). Lokale
Gewerkschaftsorganisationen – Trades Councils – führten jahrzehntelang ein
Schattendasein, könnten aber allmählich eine größere Rolle spielen. 

 

In vielen Gewerkschaften, auch in den derzeit im Streik befindlichen, haben
die hauptamtlichen Funktionär*innen und nicht die von der Mitgliedschaft
gewählten Personen die größte Entscheidungsmacht, wenn es darum geht,
darüber zu befinden, wie die Auseinandersetzungen geführt werden und wann
Streiks ausgerufen werden. Die linken Fraktionen in den meisten
Gewerkschaften sind schwach und zersplittert – sie verbringen oft genauso
viel Zeit damit, sich untereinander zu streiten, wie sie damit zubringen,
sich mit den Bossen oder der Gewerkschaftsbürokratie auseinanderzusetzen.
Sie konzentrieren sich praktisch nicht darauf, wie neue Aktivist*innen, die
sich am Arbeitsplatz radikalisieren, einbezogen werden können. 

 

Dies bedeutet, dass es zwei strategische Debatten geben muss. Einerseits
muss darüber diskutiert werden, wie die aktuellen Streiks gewonnen werden
können – ein Thema, bei dem es in der radikalen Linken eine große
Übereinstimmung mit dem Ruf nach Ausweitung und Koordination der Aktionen
gibt. Aber darüber hinaus und unabhängig davon, ob es uns in allen Fällen
gelingt, den Angriff auf unseren Lebensstandard, unsere Arbeitsbedingungen
und auf unser Recht, uns gewerkschaftlich zu organisieren, zurückzuschlagen,
müssen wir in uns gehen und darüber nachdenken, wie wir unsere
Gewerkschaften so umgestalten können, dass die Arbeiter*innen selbst
entscheiden, wie und wann sie Maßnahmen ergreifen, und nicht diejenigen, die
wir als Hauptamtliche bezahlen und die dazu da sein sollten, diese
Entscheidungen umzusetzen, anstatt ihre Wirksamkeit zu behindern oder
abzuschwächen.

 

 

5. Feb. 2023

 

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Terry Conway ist Mitglied von Anti*Capitalist Resistance, wo unsere
britischen Genoss*innen von Socialist Resistance als Strömung mitarbeiten.

Übersetzung: Jakob S.

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 2/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

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